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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr.

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Elsaß-Lothringen und die Paßverordnung.

Verhältnisse die Paßverordnung einschneiden muß. Die Elsüsser kamen sich wie
zum zweiten Male -- und diesmal erst wirklich -- annektirt vor, ja es ist
vielleicht nicht zrwiel behauptet, daß keine Maßnahme der deutschen Regierung
ihnen den Umschwung der Dinge des Jahres 1870 so zu Gemüte geführt hat,
wie diese Vorschrift, die somit vom politischen Gesichtspunkt als ein wahrer
Segen für das Land bezeichnet werden muß. Freilich war im ersten Augen¬
blicke alles starr vor Schreck. Selbst in deutschen Beamtenkreisen war man
mit dieser "Berliner Ungeheuerlichkeit" unzufrieden. Deutsche Zeitungen des
Reichslandes ergingen sich in lauten Klagen und brachten die seltsame
Weisheit der "Stammtische" zum Ausdruck (der Stammtisch ist für viele
Deutsche in Elsaß und Lothringen und damit auch für die Beurteilung gar
mancher Verhältnisse des Reichslandes von der nämlichen Bedeutung wie für
die eingeborene Bevölkerung der Notar): die völlig unhaltbare Maßregel sei
nur eine Leistung der jüngeren Kräfte des Auswärtigen Amts, die sehr bald
von selbst wieder einschlafen werde. Insbesondere ward sie dem Grafen
Herbert Bismarck in die Schuhe geschoben.

Deutschland könnte sich nur gratuliren, wenn von den "jüngeren Kräften"
seines diplomatischen Dienstes recht viele so ins Schwarze zu treffen verstünden,
wie der Urheber dieser Paßverordnung. Welche naive Auffassung dieses Dienstes,
die eine derartige Anordnung ohne den Reichskanzler für möglich und zulässig
hält, eine Maßregel, bei der doch unsere ganze auswärtige Lage in Erwägung
gezogen werden mußte! Daß der Kanzler in Friedrichsruh nicht in Schlafrock
und Pantoffeln am Kaminfeuer sitzt, während in Berlin die "jungen Leute"
das Reichsregiment führen, dürfte seitdem wohl auch sonst klar geworden sein,
auch verlautete alsbald in glaubhafter Weise, daß der Anregung zu dieser Ma߬
regel eine vertrauliche Verständigung zwischen den deutschen Regierungen voran¬
gegangen sei.

Es liegt die Frage nahe, was man gerade in deutschen Beamtenkreisen an
einer Anordnung auszusetzen hatte, deren Zweck und Bedeutung doch am
ehesten dieser erkennbar sein mußte. Waren einzelne in ihrer beschau¬
lichen Behaglichkeit gestört worden oder galt ihr Unmut nur der "Ber¬
liner Einmischung"? Für heute sei davon Abstand genommen, in diese
Erörterung einzutreten, sie berührt ein Gebiet, auf dem später einmal
Umschau zu halten sein wird. Aber sicherlich hat der anfängliche Widerspruch
Deutscher nicht wenig dazu beigetragen, die Elsüsser und Lothringer glauben
zu machen, daß sie mit dieser für sie so empfindlichen Überraschung lediglich
das Opfer einer gegen Frankreich gerichteten Chikane seien, die unmöglich lange
andauern könne. Angesichts dieser Empfindlichkeit waren deutsche Geschäftsleute
im Lande um den Verlust ihrer elsässischen Kundschaft, deutsche Unternehmer
aller Art um die fernere Zugänglichkeit des von ihnen bisher nutzbar gemachten
"einheimischen" Kapitals besorgt. Von deutscher Seite stammten daher ursprüng-


Elsaß-Lothringen und die Paßverordnung.

Verhältnisse die Paßverordnung einschneiden muß. Die Elsüsser kamen sich wie
zum zweiten Male — und diesmal erst wirklich — annektirt vor, ja es ist
vielleicht nicht zrwiel behauptet, daß keine Maßnahme der deutschen Regierung
ihnen den Umschwung der Dinge des Jahres 1870 so zu Gemüte geführt hat,
wie diese Vorschrift, die somit vom politischen Gesichtspunkt als ein wahrer
Segen für das Land bezeichnet werden muß. Freilich war im ersten Augen¬
blicke alles starr vor Schreck. Selbst in deutschen Beamtenkreisen war man
mit dieser „Berliner Ungeheuerlichkeit" unzufrieden. Deutsche Zeitungen des
Reichslandes ergingen sich in lauten Klagen und brachten die seltsame
Weisheit der „Stammtische" zum Ausdruck (der Stammtisch ist für viele
Deutsche in Elsaß und Lothringen und damit auch für die Beurteilung gar
mancher Verhältnisse des Reichslandes von der nämlichen Bedeutung wie für
die eingeborene Bevölkerung der Notar): die völlig unhaltbare Maßregel sei
nur eine Leistung der jüngeren Kräfte des Auswärtigen Amts, die sehr bald
von selbst wieder einschlafen werde. Insbesondere ward sie dem Grafen
Herbert Bismarck in die Schuhe geschoben.

Deutschland könnte sich nur gratuliren, wenn von den „jüngeren Kräften"
seines diplomatischen Dienstes recht viele so ins Schwarze zu treffen verstünden,
wie der Urheber dieser Paßverordnung. Welche naive Auffassung dieses Dienstes,
die eine derartige Anordnung ohne den Reichskanzler für möglich und zulässig
hält, eine Maßregel, bei der doch unsere ganze auswärtige Lage in Erwägung
gezogen werden mußte! Daß der Kanzler in Friedrichsruh nicht in Schlafrock
und Pantoffeln am Kaminfeuer sitzt, während in Berlin die „jungen Leute"
das Reichsregiment führen, dürfte seitdem wohl auch sonst klar geworden sein,
auch verlautete alsbald in glaubhafter Weise, daß der Anregung zu dieser Ma߬
regel eine vertrauliche Verständigung zwischen den deutschen Regierungen voran¬
gegangen sei.

Es liegt die Frage nahe, was man gerade in deutschen Beamtenkreisen an
einer Anordnung auszusetzen hatte, deren Zweck und Bedeutung doch am
ehesten dieser erkennbar sein mußte. Waren einzelne in ihrer beschau¬
lichen Behaglichkeit gestört worden oder galt ihr Unmut nur der „Ber¬
liner Einmischung"? Für heute sei davon Abstand genommen, in diese
Erörterung einzutreten, sie berührt ein Gebiet, auf dem später einmal
Umschau zu halten sein wird. Aber sicherlich hat der anfängliche Widerspruch
Deutscher nicht wenig dazu beigetragen, die Elsüsser und Lothringer glauben
zu machen, daß sie mit dieser für sie so empfindlichen Überraschung lediglich
das Opfer einer gegen Frankreich gerichteten Chikane seien, die unmöglich lange
andauern könne. Angesichts dieser Empfindlichkeit waren deutsche Geschäftsleute
im Lande um den Verlust ihrer elsässischen Kundschaft, deutsche Unternehmer
aller Art um die fernere Zugänglichkeit des von ihnen bisher nutzbar gemachten
„einheimischen" Kapitals besorgt. Von deutscher Seite stammten daher ursprüng-


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[0301] Elsaß-Lothringen und die Paßverordnung. Verhältnisse die Paßverordnung einschneiden muß. Die Elsüsser kamen sich wie zum zweiten Male — und diesmal erst wirklich — annektirt vor, ja es ist vielleicht nicht zrwiel behauptet, daß keine Maßnahme der deutschen Regierung ihnen den Umschwung der Dinge des Jahres 1870 so zu Gemüte geführt hat, wie diese Vorschrift, die somit vom politischen Gesichtspunkt als ein wahrer Segen für das Land bezeichnet werden muß. Freilich war im ersten Augen¬ blicke alles starr vor Schreck. Selbst in deutschen Beamtenkreisen war man mit dieser „Berliner Ungeheuerlichkeit" unzufrieden. Deutsche Zeitungen des Reichslandes ergingen sich in lauten Klagen und brachten die seltsame Weisheit der „Stammtische" zum Ausdruck (der Stammtisch ist für viele Deutsche in Elsaß und Lothringen und damit auch für die Beurteilung gar mancher Verhältnisse des Reichslandes von der nämlichen Bedeutung wie für die eingeborene Bevölkerung der Notar): die völlig unhaltbare Maßregel sei nur eine Leistung der jüngeren Kräfte des Auswärtigen Amts, die sehr bald von selbst wieder einschlafen werde. Insbesondere ward sie dem Grafen Herbert Bismarck in die Schuhe geschoben. Deutschland könnte sich nur gratuliren, wenn von den „jüngeren Kräften" seines diplomatischen Dienstes recht viele so ins Schwarze zu treffen verstünden, wie der Urheber dieser Paßverordnung. Welche naive Auffassung dieses Dienstes, die eine derartige Anordnung ohne den Reichskanzler für möglich und zulässig hält, eine Maßregel, bei der doch unsere ganze auswärtige Lage in Erwägung gezogen werden mußte! Daß der Kanzler in Friedrichsruh nicht in Schlafrock und Pantoffeln am Kaminfeuer sitzt, während in Berlin die „jungen Leute" das Reichsregiment führen, dürfte seitdem wohl auch sonst klar geworden sein, auch verlautete alsbald in glaubhafter Weise, daß der Anregung zu dieser Ma߬ regel eine vertrauliche Verständigung zwischen den deutschen Regierungen voran¬ gegangen sei. Es liegt die Frage nahe, was man gerade in deutschen Beamtenkreisen an einer Anordnung auszusetzen hatte, deren Zweck und Bedeutung doch am ehesten dieser erkennbar sein mußte. Waren einzelne in ihrer beschau¬ lichen Behaglichkeit gestört worden oder galt ihr Unmut nur der „Ber¬ liner Einmischung"? Für heute sei davon Abstand genommen, in diese Erörterung einzutreten, sie berührt ein Gebiet, auf dem später einmal Umschau zu halten sein wird. Aber sicherlich hat der anfängliche Widerspruch Deutscher nicht wenig dazu beigetragen, die Elsüsser und Lothringer glauben zu machen, daß sie mit dieser für sie so empfindlichen Überraschung lediglich das Opfer einer gegen Frankreich gerichteten Chikane seien, die unmöglich lange andauern könne. Angesichts dieser Empfindlichkeit waren deutsche Geschäftsleute im Lande um den Verlust ihrer elsässischen Kundschaft, deutsche Unternehmer aller Art um die fernere Zugänglichkeit des von ihnen bisher nutzbar gemachten „einheimischen" Kapitals besorgt. Von deutscher Seite stammten daher ursprüng-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434/301>, abgerufen am 22.07.2024.