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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr.

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Elsaß-Lothringen und die Paßverordnung.

und ihr Gezänk berührt sie viel mehr als der deutsche Reichstag. Sie nehmen
zu den Parteikämpfen der Republik unwillkürlich Stellung und wundern sich,
wenn ein Deutscher für diese Dinge kein Verständnis oder nur Nchselzuckeu
hat. Ist es doch in Familien, die -- äußerlich -- völlig zu Deutschland ge¬
gangen sind, viel mit Deutschen verkehren, noch völlig selbstverständlich, daß die
kleine Enkelin zuerst "ihre Muttersprache" -- französisch -- lernt und auf Bilder¬
bogen die Hosen der Zouaven rot tuscht. "Deutsch lernt sie ja von der Kinds¬
magd und in der Schule", Eltern und Großeltern sprechen mit der kleinen
"Jeanne" nur französisch. Wenn das in Familien geschieht, die zu den Haupt¬
stützen der Deutschen im Lande zählen, mit den vornehmsten deutschen Kreisen in
Verkehr stehen, so kann man sich ein Bild von den übrigen machen; das vor¬
stehende stammt, nach dem Leben gezeichnet, aus den letzten fünf Jahren.

Hiernach wird man sich nicht wundern, wenn die gebildeteren Klassen zum
Landesdienst einen so geringen Beitrag stellen. Eine Anzahl junger Leute
studirt -- zum Teil unter dem Einfluß der reichen Stipendien -- in Straß-
burg Theologie, ein anderer Teil Medizin. Aber schon zur Jurisprudenz geht
man nur mit dem stillen Vorbehalt, Notar oder Advokat zu werden, denn so
lange im bürgerlichen Leben das französische Recht noch gilt, wäre in solchen
Stellungen ein etwaiger neuer Herrschaftswechsel am leichtesten zu ertragen.
Zudem bildeten bis in die letzten Jahre die Notare die eigentliche regierende
Klasse. Sie beherrschten alle Familien- und Geschäftsverhältnisse, sie waren
die Ehevermittler, sie dirigirten die Gemeinde- und andere Wahlen. Auf diesem
Gebiete wird die Einführung des bürgerlichen Gesetzbuches ganz besonders nütz¬
lich wirken, denn erst durch dieses Gesetzbuch wird Elsaß-Lothringen völlig von
Frankreich geschieden werden. Für den Eintritt in das Lehrfach, die Verwaltung
oder gar die Armee besteht aus naheliegenden Gründen gar keine Neigung.

Die zahlreichen jungen Leute aus den wohlhabenden Familien des Landes,
die sich dem Kaufmannsstande zuwenden, sind -- Ausnahmen bestätigen die
Regel -- von vornherein für Deutschland verloren. Die ganze kaufmännische
Überlieferung des Landes weist naturgemäß nach Paris und Lyon, und da
gerade die wohlhabenderen jungen Mädchen in großer Zahl nach Frankreich sich
verheirathen, so finden die jungen Kaufleute dort überall den dem Elsässer so
sympathischen Familienanschluß, ein Zug seines deutschen Wesens, den zwei
Jahrhunderte nicht verwischt haben. Die in Frankreich bestehenden großen
Firmen elsässischen Ursprungs gewähren ihnen leicht Förderung, denn ihnen ist
der elsässische Arbeiter unendlich erwünschter als der französische, und da im
Lande leider fast durchweg die Buchführung noch nach Franks und Centimes
üblich ist, so braucht der junge Miilhauser, der nach Lyon oder Paris geht,
keine seiner Gewohnheiten zu verändern: er spricht und schreibt französisch wie
bisher und rechnet in Franks und Centimes, ebenfalls wie bisher.

Man kann sich hiernach wohl ein Bild machen, wie tief in so geartete


Elsaß-Lothringen und die Paßverordnung.

und ihr Gezänk berührt sie viel mehr als der deutsche Reichstag. Sie nehmen
zu den Parteikämpfen der Republik unwillkürlich Stellung und wundern sich,
wenn ein Deutscher für diese Dinge kein Verständnis oder nur Nchselzuckeu
hat. Ist es doch in Familien, die — äußerlich — völlig zu Deutschland ge¬
gangen sind, viel mit Deutschen verkehren, noch völlig selbstverständlich, daß die
kleine Enkelin zuerst „ihre Muttersprache" — französisch — lernt und auf Bilder¬
bogen die Hosen der Zouaven rot tuscht. „Deutsch lernt sie ja von der Kinds¬
magd und in der Schule", Eltern und Großeltern sprechen mit der kleinen
„Jeanne" nur französisch. Wenn das in Familien geschieht, die zu den Haupt¬
stützen der Deutschen im Lande zählen, mit den vornehmsten deutschen Kreisen in
Verkehr stehen, so kann man sich ein Bild von den übrigen machen; das vor¬
stehende stammt, nach dem Leben gezeichnet, aus den letzten fünf Jahren.

Hiernach wird man sich nicht wundern, wenn die gebildeteren Klassen zum
Landesdienst einen so geringen Beitrag stellen. Eine Anzahl junger Leute
studirt — zum Teil unter dem Einfluß der reichen Stipendien — in Straß-
burg Theologie, ein anderer Teil Medizin. Aber schon zur Jurisprudenz geht
man nur mit dem stillen Vorbehalt, Notar oder Advokat zu werden, denn so
lange im bürgerlichen Leben das französische Recht noch gilt, wäre in solchen
Stellungen ein etwaiger neuer Herrschaftswechsel am leichtesten zu ertragen.
Zudem bildeten bis in die letzten Jahre die Notare die eigentliche regierende
Klasse. Sie beherrschten alle Familien- und Geschäftsverhältnisse, sie waren
die Ehevermittler, sie dirigirten die Gemeinde- und andere Wahlen. Auf diesem
Gebiete wird die Einführung des bürgerlichen Gesetzbuches ganz besonders nütz¬
lich wirken, denn erst durch dieses Gesetzbuch wird Elsaß-Lothringen völlig von
Frankreich geschieden werden. Für den Eintritt in das Lehrfach, die Verwaltung
oder gar die Armee besteht aus naheliegenden Gründen gar keine Neigung.

Die zahlreichen jungen Leute aus den wohlhabenden Familien des Landes,
die sich dem Kaufmannsstande zuwenden, sind — Ausnahmen bestätigen die
Regel — von vornherein für Deutschland verloren. Die ganze kaufmännische
Überlieferung des Landes weist naturgemäß nach Paris und Lyon, und da
gerade die wohlhabenderen jungen Mädchen in großer Zahl nach Frankreich sich
verheirathen, so finden die jungen Kaufleute dort überall den dem Elsässer so
sympathischen Familienanschluß, ein Zug seines deutschen Wesens, den zwei
Jahrhunderte nicht verwischt haben. Die in Frankreich bestehenden großen
Firmen elsässischen Ursprungs gewähren ihnen leicht Förderung, denn ihnen ist
der elsässische Arbeiter unendlich erwünschter als der französische, und da im
Lande leider fast durchweg die Buchführung noch nach Franks und Centimes
üblich ist, so braucht der junge Miilhauser, der nach Lyon oder Paris geht,
keine seiner Gewohnheiten zu verändern: er spricht und schreibt französisch wie
bisher und rechnet in Franks und Centimes, ebenfalls wie bisher.

Man kann sich hiernach wohl ein Bild machen, wie tief in so geartete


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[0300] Elsaß-Lothringen und die Paßverordnung. und ihr Gezänk berührt sie viel mehr als der deutsche Reichstag. Sie nehmen zu den Parteikämpfen der Republik unwillkürlich Stellung und wundern sich, wenn ein Deutscher für diese Dinge kein Verständnis oder nur Nchselzuckeu hat. Ist es doch in Familien, die — äußerlich — völlig zu Deutschland ge¬ gangen sind, viel mit Deutschen verkehren, noch völlig selbstverständlich, daß die kleine Enkelin zuerst „ihre Muttersprache" — französisch — lernt und auf Bilder¬ bogen die Hosen der Zouaven rot tuscht. „Deutsch lernt sie ja von der Kinds¬ magd und in der Schule", Eltern und Großeltern sprechen mit der kleinen „Jeanne" nur französisch. Wenn das in Familien geschieht, die zu den Haupt¬ stützen der Deutschen im Lande zählen, mit den vornehmsten deutschen Kreisen in Verkehr stehen, so kann man sich ein Bild von den übrigen machen; das vor¬ stehende stammt, nach dem Leben gezeichnet, aus den letzten fünf Jahren. Hiernach wird man sich nicht wundern, wenn die gebildeteren Klassen zum Landesdienst einen so geringen Beitrag stellen. Eine Anzahl junger Leute studirt — zum Teil unter dem Einfluß der reichen Stipendien — in Straß- burg Theologie, ein anderer Teil Medizin. Aber schon zur Jurisprudenz geht man nur mit dem stillen Vorbehalt, Notar oder Advokat zu werden, denn so lange im bürgerlichen Leben das französische Recht noch gilt, wäre in solchen Stellungen ein etwaiger neuer Herrschaftswechsel am leichtesten zu ertragen. Zudem bildeten bis in die letzten Jahre die Notare die eigentliche regierende Klasse. Sie beherrschten alle Familien- und Geschäftsverhältnisse, sie waren die Ehevermittler, sie dirigirten die Gemeinde- und andere Wahlen. Auf diesem Gebiete wird die Einführung des bürgerlichen Gesetzbuches ganz besonders nütz¬ lich wirken, denn erst durch dieses Gesetzbuch wird Elsaß-Lothringen völlig von Frankreich geschieden werden. Für den Eintritt in das Lehrfach, die Verwaltung oder gar die Armee besteht aus naheliegenden Gründen gar keine Neigung. Die zahlreichen jungen Leute aus den wohlhabenden Familien des Landes, die sich dem Kaufmannsstande zuwenden, sind — Ausnahmen bestätigen die Regel — von vornherein für Deutschland verloren. Die ganze kaufmännische Überlieferung des Landes weist naturgemäß nach Paris und Lyon, und da gerade die wohlhabenderen jungen Mädchen in großer Zahl nach Frankreich sich verheirathen, so finden die jungen Kaufleute dort überall den dem Elsässer so sympathischen Familienanschluß, ein Zug seines deutschen Wesens, den zwei Jahrhunderte nicht verwischt haben. Die in Frankreich bestehenden großen Firmen elsässischen Ursprungs gewähren ihnen leicht Förderung, denn ihnen ist der elsässische Arbeiter unendlich erwünschter als der französische, und da im Lande leider fast durchweg die Buchführung noch nach Franks und Centimes üblich ist, so braucht der junge Miilhauser, der nach Lyon oder Paris geht, keine seiner Gewohnheiten zu verändern: er spricht und schreibt französisch wie bisher und rechnet in Franks und Centimes, ebenfalls wie bisher. Man kann sich hiernach wohl ein Bild machen, wie tief in so geartete

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434/300>, abgerufen am 22.07.2024.