Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr.Die Gebietsentwicklung der Linzelstaaten Deutschlands. Franken gleichen Stammes sind, davon findet sich im Volksbewußtsein keine Eine Darstellung der Gebietsentwicklung der wichtigern Staaten Deutsch¬ Die Gebietsentwicklung der Linzelstaaten Deutschlands. Franken gleichen Stammes sind, davon findet sich im Volksbewußtsein keine Eine Darstellung der Gebietsentwicklung der wichtigern Staaten Deutsch¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0029" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/203464"/> <fw type="header" place="top"> Die Gebietsentwicklung der Linzelstaaten Deutschlands.</fw><lb/> <p xml:id="ID_53" prev="#ID_52"> Franken gleichen Stammes sind, davon findet sich im Volksbewußtsein keine<lb/> Spur. Das wissen nur Geschichtskenner. Die politische Zusammengehörigkeit,<lb/> auch wenn sie schon geraume Zeit gedauert hat, hat zwar gewisse Besonder¬<lb/> heiten und Gegensätze, die auf Stammeseigentümlichkeiten beruhen, nicht<lb/> ausgleichen und verwischen können; das schlagendste Beispiel im ganzen Reiche<lb/> ist dafür wohl die auffallende Verschiedenheit zwischen den Bewohnern der<lb/> Rheinprovinz und Westfalens, die doch so unmittelbar benachbart sind und so<lb/> ungeheuer viele gemeinsame Interessen haben. Aber eben so wenig wie die<lb/> Zugehörigkeit zu einem gemeinsamen Staate die Stammesverschiedenheiten auf¬<lb/> gehoben hat, eben so wenig hat das Bewußtsein der Stammesgcmeinsamkeit<lb/> jemals lange Stand gehalten gegen eine politische Trennung, die durch irgend<lb/> welche Ursachen herbeigeführt wurde. Das schlagendste Beispiel dafür bieten<lb/> wohl die ehemals kursächsischen Bewohner der preußischen Provinz Sachsen<lb/> und die des jetzigen Königreichs Sachsen. Die Gemeinsamkeit des Stammes<lb/> hindert durchaus nicht, daß die einen sich völlig als Preußen, und nur die<lb/> andern sich als Sachsen fühlen.</p><lb/> <p xml:id="ID_54" next="#ID_55"> Eine Darstellung der Gebietsentwicklung der wichtigern Staaten Deutsch¬<lb/> lands in der Neuzeit, d. h. in den letzten zwei bis drei Jahrhunderten, fällt<lb/> also wesentlich zusammen mit der Geschichte der wichtigern Fürstenhäuser, die<lb/> an der Spitze von mehr oder weniger großen Teilen unsers Vaterlandes und<lb/> unsrer Nation gestanden haben und noch stehen. Ihr Emporkommen, ihr<lb/> Sturz oder ihr Aussterben, Heiraten und Erbverbrüderungen, glückliche oder<lb/> unglückliche Kriege mit ihrem Gefolge von Eroberungen oder Landverlusten,<lb/> die mehr oder weniger große Geschicklichkeit und Thatkraft von Fürsten, Diplo¬<lb/> maten und Gesandten bei Verträgen und Friedensschlüssen, Gunst- und Gnaden¬<lb/> bezeugungen, Launen und Willkürlichkeiten der Kaiser und andrer Macht¬<lb/> haber, Vergewaltigungen aller Art, Mediatisirungen, Säkularisirungen, In-<lb/> korporirungen, Annexionen, diese Dinge hauptsächlich und daneben tausenderlei<lb/> andre Umstände und Zufälligkeiten, welche fast in jedem Falle auf die wirk¬<lb/> lichen und vermeintlichen Interessen der Dynastien zurückzuführen sind, haben<lb/> ausschlaggebend auf die Gebietsentwicklung der deutschen Staaten eingewirkt.<lb/> Die geschichtlich begründete Verschiedenheit der einzelnen Stämme unsrer großen<lb/> Nation und ihre berechtigten Eigentümlichkeiten haben in den großen Umge¬<lb/> staltungen, die unser Vaterland in dieser Beziehung durchgemacht hat, in den<lb/> letzten drei Jahrhunderten kaum in irgend einem Falle eine auch nur nennens¬<lb/> werte oder gar eine bedeutende Rolle gespielt. Als Aushängeschild, als faden¬<lb/> scheiniger Vorhang, hinter dem sich der kleinlichste und engherzigste Partikula¬<lb/> rismus, die nackteste Selbstsucht und der rücksichtsloseste Eigennutz bequem<lb/> verbergen ließen, haben sie lange und oft genug dienen müssen. Solche Schlag¬<lb/> wörter ließen sich gut gebrauchen, wenn es galt, im Interesse der regierenden<lb/> Häuser die einzelnen Zweige unsers großen Volksstammes gegen einander zu</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0029]
Die Gebietsentwicklung der Linzelstaaten Deutschlands.
Franken gleichen Stammes sind, davon findet sich im Volksbewußtsein keine
Spur. Das wissen nur Geschichtskenner. Die politische Zusammengehörigkeit,
auch wenn sie schon geraume Zeit gedauert hat, hat zwar gewisse Besonder¬
heiten und Gegensätze, die auf Stammeseigentümlichkeiten beruhen, nicht
ausgleichen und verwischen können; das schlagendste Beispiel im ganzen Reiche
ist dafür wohl die auffallende Verschiedenheit zwischen den Bewohnern der
Rheinprovinz und Westfalens, die doch so unmittelbar benachbart sind und so
ungeheuer viele gemeinsame Interessen haben. Aber eben so wenig wie die
Zugehörigkeit zu einem gemeinsamen Staate die Stammesverschiedenheiten auf¬
gehoben hat, eben so wenig hat das Bewußtsein der Stammesgcmeinsamkeit
jemals lange Stand gehalten gegen eine politische Trennung, die durch irgend
welche Ursachen herbeigeführt wurde. Das schlagendste Beispiel dafür bieten
wohl die ehemals kursächsischen Bewohner der preußischen Provinz Sachsen
und die des jetzigen Königreichs Sachsen. Die Gemeinsamkeit des Stammes
hindert durchaus nicht, daß die einen sich völlig als Preußen, und nur die
andern sich als Sachsen fühlen.
Eine Darstellung der Gebietsentwicklung der wichtigern Staaten Deutsch¬
lands in der Neuzeit, d. h. in den letzten zwei bis drei Jahrhunderten, fällt
also wesentlich zusammen mit der Geschichte der wichtigern Fürstenhäuser, die
an der Spitze von mehr oder weniger großen Teilen unsers Vaterlandes und
unsrer Nation gestanden haben und noch stehen. Ihr Emporkommen, ihr
Sturz oder ihr Aussterben, Heiraten und Erbverbrüderungen, glückliche oder
unglückliche Kriege mit ihrem Gefolge von Eroberungen oder Landverlusten,
die mehr oder weniger große Geschicklichkeit und Thatkraft von Fürsten, Diplo¬
maten und Gesandten bei Verträgen und Friedensschlüssen, Gunst- und Gnaden¬
bezeugungen, Launen und Willkürlichkeiten der Kaiser und andrer Macht¬
haber, Vergewaltigungen aller Art, Mediatisirungen, Säkularisirungen, In-
korporirungen, Annexionen, diese Dinge hauptsächlich und daneben tausenderlei
andre Umstände und Zufälligkeiten, welche fast in jedem Falle auf die wirk¬
lichen und vermeintlichen Interessen der Dynastien zurückzuführen sind, haben
ausschlaggebend auf die Gebietsentwicklung der deutschen Staaten eingewirkt.
Die geschichtlich begründete Verschiedenheit der einzelnen Stämme unsrer großen
Nation und ihre berechtigten Eigentümlichkeiten haben in den großen Umge¬
staltungen, die unser Vaterland in dieser Beziehung durchgemacht hat, in den
letzten drei Jahrhunderten kaum in irgend einem Falle eine auch nur nennens¬
werte oder gar eine bedeutende Rolle gespielt. Als Aushängeschild, als faden¬
scheiniger Vorhang, hinter dem sich der kleinlichste und engherzigste Partikula¬
rismus, die nackteste Selbstsucht und der rücksichtsloseste Eigennutz bequem
verbergen ließen, haben sie lange und oft genug dienen müssen. Solche Schlag¬
wörter ließen sich gut gebrauchen, wenn es galt, im Interesse der regierenden
Häuser die einzelnen Zweige unsers großen Volksstammes gegen einander zu
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