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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr.

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Tazebnchbltttter eines Sonntagsphilosophen.

der eignen Jugend und Kindheit. So mußte der deutsche Geist, in die Irre
geraten, sich selbst in der eignen Vorzeit suchen. Das that er mit entschiednen
Bewußtsein zuerst in Klopstock, in dem daneben zugleich die griechische und alt-
testamentliche Richtung wirkten. Die Franzosen halfen unbewußt dazu, aus
deren geistiger Herrschaft es galt sich herauszuziehen. Und als ihre politische
Herrschaft dazu kam, half das, wie anderwärts in Europa, bei uns aber am
nötigsten, die große Entdeckung machen, daß man nicht in dem allgemein ge¬
haltenen Begriffe der Menschheit sein nächstes Ziel zu suchen habe, das gerade
der französische Geist am fleißigsten predigte, sondern in der angebornen Volks¬
art, die in Gefahr oder halb verloren war. Die Franzosen haben unter dem
ersten Napoleon durch ihren Druck den Begriff der Nationalität in uns aus
dem Gefühle ins Bewußtsein herausgetrieben, unter seinem Neffen aber ihr mit
ihrer nötigen neuen Lebensform auch in die Erscheinung treten helfen. Wir
müssen den Franzosen eigentlich recht dankbar sein.

Ich denke also, es giebt Fortschritt und giebt alte gute Zeit, und beide
hängen eng zusammen. Wie beide genauer aussehen, das alte Gute und der
wahre Fortschritt, das auszuführen gäbe freilich im einzelnen noch viel Arbeit.
Wenn sich aber der Herr Zeitgeist, dieser Allmächtige, gestimmt funde, das enge
Verhältnis beider anzuerkennen, so wäre ihm auch wohl ein Wunschzettel vor¬
zulegen, der wieder ziemlich lang werden könnte. Davon vielleicht ein andermal.
Heute nur noch ein Blick auf die Frage von einem höhern Gesichtspunkte. Von
meiner Mutter hörte ich in ihrem Alter öfter sagen: Ich wollte, ich wäre wieder
jung, ich müßte aber wissen, was ich jetzt weiß. Der Wunsch mit seiner Bedin¬
gung ist für das einzelne Menschenkind freilich vor den Gesetzen der Natur nicht
ausführbar (kann aber wohl nach diesem Leben seine Erfüllung finden, was ich im
Stillen schor lange denke), wohl aber für die Völker, für die Menschheit.
Denn die Welt wird alt und wird wieder jung, mit Schiller zu reden, sie aber
kann in die neue Jugend den Gewinn des Alters mit hinübernehmen, die Er¬
kenntnis der erfahrnen Irrungen und die klarere Kenntnis des einen Zieles.
Das wird möglich durch das Gesamtbewußtsein, das sich von Geschlecht zu Ge¬
schlecht herausbildet und überliefert und auch dem Einzelnen seine Wege erleich¬
tern, ja abkürzen kann. Damit ist das Bewahren des alten Guten und der
Fortschritt aufs beste gepaart. Aller wahre Fortschritt beruht denn auch darauf,
daß die alternde Welt sich aus sich heraus fortwährend verjüngen kann und
doch dabei wissen, was sie als alte wissen kann. Für das letzte zu sorgen ist
Sache der rechten Wissenschaft, die zugleich das Bewußsein und das Gewissen
der Menschheit darzustellen hat. Freilich, da wir dem Gesamtbewußtsein der
Menschheit nach nun schon Jahrtausende alt sind, wie weit müßten wir nicht
eigentlich s in?! Mußten wir nicht viel näher beim reinen Glücke sein, als alle
Vorzeit? Sind wir das? Ich glaube, man kann darauf sowohl mit Ja als mit
Nein antworten. Näheres Eingehen darauf aber müßte wohl den ganzen Gedanken-


Tazebnchbltttter eines Sonntagsphilosophen.

der eignen Jugend und Kindheit. So mußte der deutsche Geist, in die Irre
geraten, sich selbst in der eignen Vorzeit suchen. Das that er mit entschiednen
Bewußtsein zuerst in Klopstock, in dem daneben zugleich die griechische und alt-
testamentliche Richtung wirkten. Die Franzosen halfen unbewußt dazu, aus
deren geistiger Herrschaft es galt sich herauszuziehen. Und als ihre politische
Herrschaft dazu kam, half das, wie anderwärts in Europa, bei uns aber am
nötigsten, die große Entdeckung machen, daß man nicht in dem allgemein ge¬
haltenen Begriffe der Menschheit sein nächstes Ziel zu suchen habe, das gerade
der französische Geist am fleißigsten predigte, sondern in der angebornen Volks¬
art, die in Gefahr oder halb verloren war. Die Franzosen haben unter dem
ersten Napoleon durch ihren Druck den Begriff der Nationalität in uns aus
dem Gefühle ins Bewußtsein herausgetrieben, unter seinem Neffen aber ihr mit
ihrer nötigen neuen Lebensform auch in die Erscheinung treten helfen. Wir
müssen den Franzosen eigentlich recht dankbar sein.

Ich denke also, es giebt Fortschritt und giebt alte gute Zeit, und beide
hängen eng zusammen. Wie beide genauer aussehen, das alte Gute und der
wahre Fortschritt, das auszuführen gäbe freilich im einzelnen noch viel Arbeit.
Wenn sich aber der Herr Zeitgeist, dieser Allmächtige, gestimmt funde, das enge
Verhältnis beider anzuerkennen, so wäre ihm auch wohl ein Wunschzettel vor¬
zulegen, der wieder ziemlich lang werden könnte. Davon vielleicht ein andermal.
Heute nur noch ein Blick auf die Frage von einem höhern Gesichtspunkte. Von
meiner Mutter hörte ich in ihrem Alter öfter sagen: Ich wollte, ich wäre wieder
jung, ich müßte aber wissen, was ich jetzt weiß. Der Wunsch mit seiner Bedin¬
gung ist für das einzelne Menschenkind freilich vor den Gesetzen der Natur nicht
ausführbar (kann aber wohl nach diesem Leben seine Erfüllung finden, was ich im
Stillen schor lange denke), wohl aber für die Völker, für die Menschheit.
Denn die Welt wird alt und wird wieder jung, mit Schiller zu reden, sie aber
kann in die neue Jugend den Gewinn des Alters mit hinübernehmen, die Er¬
kenntnis der erfahrnen Irrungen und die klarere Kenntnis des einen Zieles.
Das wird möglich durch das Gesamtbewußtsein, das sich von Geschlecht zu Ge¬
schlecht herausbildet und überliefert und auch dem Einzelnen seine Wege erleich¬
tern, ja abkürzen kann. Damit ist das Bewahren des alten Guten und der
Fortschritt aufs beste gepaart. Aller wahre Fortschritt beruht denn auch darauf,
daß die alternde Welt sich aus sich heraus fortwährend verjüngen kann und
doch dabei wissen, was sie als alte wissen kann. Für das letzte zu sorgen ist
Sache der rechten Wissenschaft, die zugleich das Bewußsein und das Gewissen
der Menschheit darzustellen hat. Freilich, da wir dem Gesamtbewußtsein der
Menschheit nach nun schon Jahrtausende alt sind, wie weit müßten wir nicht
eigentlich s in?! Mußten wir nicht viel näher beim reinen Glücke sein, als alle
Vorzeit? Sind wir das? Ich glaube, man kann darauf sowohl mit Ja als mit
Nein antworten. Näheres Eingehen darauf aber müßte wohl den ganzen Gedanken-


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[0272] Tazebnchbltttter eines Sonntagsphilosophen. der eignen Jugend und Kindheit. So mußte der deutsche Geist, in die Irre geraten, sich selbst in der eignen Vorzeit suchen. Das that er mit entschiednen Bewußtsein zuerst in Klopstock, in dem daneben zugleich die griechische und alt- testamentliche Richtung wirkten. Die Franzosen halfen unbewußt dazu, aus deren geistiger Herrschaft es galt sich herauszuziehen. Und als ihre politische Herrschaft dazu kam, half das, wie anderwärts in Europa, bei uns aber am nötigsten, die große Entdeckung machen, daß man nicht in dem allgemein ge¬ haltenen Begriffe der Menschheit sein nächstes Ziel zu suchen habe, das gerade der französische Geist am fleißigsten predigte, sondern in der angebornen Volks¬ art, die in Gefahr oder halb verloren war. Die Franzosen haben unter dem ersten Napoleon durch ihren Druck den Begriff der Nationalität in uns aus dem Gefühle ins Bewußtsein herausgetrieben, unter seinem Neffen aber ihr mit ihrer nötigen neuen Lebensform auch in die Erscheinung treten helfen. Wir müssen den Franzosen eigentlich recht dankbar sein. Ich denke also, es giebt Fortschritt und giebt alte gute Zeit, und beide hängen eng zusammen. Wie beide genauer aussehen, das alte Gute und der wahre Fortschritt, das auszuführen gäbe freilich im einzelnen noch viel Arbeit. Wenn sich aber der Herr Zeitgeist, dieser Allmächtige, gestimmt funde, das enge Verhältnis beider anzuerkennen, so wäre ihm auch wohl ein Wunschzettel vor¬ zulegen, der wieder ziemlich lang werden könnte. Davon vielleicht ein andermal. Heute nur noch ein Blick auf die Frage von einem höhern Gesichtspunkte. Von meiner Mutter hörte ich in ihrem Alter öfter sagen: Ich wollte, ich wäre wieder jung, ich müßte aber wissen, was ich jetzt weiß. Der Wunsch mit seiner Bedin¬ gung ist für das einzelne Menschenkind freilich vor den Gesetzen der Natur nicht ausführbar (kann aber wohl nach diesem Leben seine Erfüllung finden, was ich im Stillen schor lange denke), wohl aber für die Völker, für die Menschheit. Denn die Welt wird alt und wird wieder jung, mit Schiller zu reden, sie aber kann in die neue Jugend den Gewinn des Alters mit hinübernehmen, die Er¬ kenntnis der erfahrnen Irrungen und die klarere Kenntnis des einen Zieles. Das wird möglich durch das Gesamtbewußtsein, das sich von Geschlecht zu Ge¬ schlecht herausbildet und überliefert und auch dem Einzelnen seine Wege erleich¬ tern, ja abkürzen kann. Damit ist das Bewahren des alten Guten und der Fortschritt aufs beste gepaart. Aller wahre Fortschritt beruht denn auch darauf, daß die alternde Welt sich aus sich heraus fortwährend verjüngen kann und doch dabei wissen, was sie als alte wissen kann. Für das letzte zu sorgen ist Sache der rechten Wissenschaft, die zugleich das Bewußsein und das Gewissen der Menschheit darzustellen hat. Freilich, da wir dem Gesamtbewußtsein der Menschheit nach nun schon Jahrtausende alt sind, wie weit müßten wir nicht eigentlich s in?! Mußten wir nicht viel näher beim reinen Glücke sein, als alle Vorzeit? Sind wir das? Ich glaube, man kann darauf sowohl mit Ja als mit Nein antworten. Näheres Eingehen darauf aber müßte wohl den ganzen Gedanken-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434/272>, abgerufen am 22.07.2024.