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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr.

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Die Gebietsentwicklung der Ginzelstaaten Deutschlands.

Daß die Deutschen von jeher in Stämme geteilt gewesen sind, und daß diese
ihre Besonderheiten gehabt haben, ist richtig. Die Grenzen der von ihnen
eingenommenen Landgebiete lassen sich bis auf den heutigen Tag noch durch
die Begrenzung der verschiednen Dialekte wenigstens annähernd nachweisen und
feststellen. Ebenso ist es richtig, daß es einst eine Zeit gegeben hat, wo die
von Einzelfttrsten beherrschten Gebiete sich mit den Wohnsitzen der Einzelstämme
einigermaßen deckten. Unter den Kaisern aus dem sächsischen und dem saal¬
fränkischen Hause spricht man ja mit einem gewissen Rechte von den großen
Stammesherzogtümern Sachsen, Franken, Baiern, Schwaben und Lothringen.
Bei dieser Einteilung sind jedoch z. B. die Alemannen, die Thüringer, die Hessen,
die Friesen, die doch unzweifelhaft uralte Sonderstämme waren, ohne weiteres
andern Stämmen zugezählt; die Bewohner des Herzogtums Lothringen dagegen
können unmöglich als ein einheitlicher Stamm angesehen werden. Zu der Zeit
jedoch, als das erlauchte Kaisergeschlecht der Staufer unterging, waren diese
Stammesherzogtümer sämtlich zertrümmert, zerstückelt und in eine zahllose Menge
kleiner Gebiete auseinandergefallen. Außerdem hatten sie doch nur den Teil
Deutschlands umfaßt, der westwärts von der Elbe und Saale lag. Die weiten
Lande jenseits der Elbe, an der Oder und der Weichsel, bis über die Memel
hinaus, die in der Völkerwanderung von den Germanen geräumt und von den
nachdringenden Slawen eingenommen waren, und die dann mit Schwert und
Pflugschar für das Deutschtum zurückerobert wurden, finden bei dieser Stammes¬
einteilung einfach keinen Platz. Die durch Krieg und Arbeit abgehärteten und
gestählten kerndeutschen Bewohner von Brandenburg und Schlesien, Mecklenburg,
Pommern und Preußen, die in der Zeit der schwersten Not unser Volkstum
hochgehalten und gerettet haben, würden dann eigentlich und richtig gar nicht zu
Deutschland gehören. Derartige Ansichten, die namentlich das im Jahre 1820
auf Betreiben des Königs Wilhelm von Württemberg erschienene "Manuskript
aus Süddeutschland" in der schroffsten Weise aussprach, spuken noch heutzutage in
manchen Schwaben- und andern Köpfen. Berechtigt und begründet sind sie
aber in keiner Weise.

Die Entwicklung der Einzelstaaten Deutschlands in der Neuzeit hat mit
der alten Scheidung der germanischen Stämme gar nichts zu thun. Von allen
den Staaten, die jetzt das deutsche Reich bilden, ist nicht einer, der sich mit
Recht als den Vertreter einer der uralten Völkerstämme Germaniens ausgeben
könnte. Die größern Staaten sind aus mehreren Stämmen zusammengesetzt,
und die kleinern sind höchstens Bruchstücke irgend welcher Stämme. Bei der
Bildung derselben haben altberechtigte Stammeseigentümlichkeiten so gut wie
gar keine Rolle gespielt. Dynastische Interessen in erster Linie, Erbschaften,
Heiraten, Zufälligkeiten aller Art, nicht am wenigsten die nackte Gewalt haben
die Zusammensetzung der deutschen Staaten herbeigeführt. Das durfte man
aber doch den "Unterthanen" nicht sagen; darum suchte man die klägliche Blöße


Die Gebietsentwicklung der Ginzelstaaten Deutschlands.

Daß die Deutschen von jeher in Stämme geteilt gewesen sind, und daß diese
ihre Besonderheiten gehabt haben, ist richtig. Die Grenzen der von ihnen
eingenommenen Landgebiete lassen sich bis auf den heutigen Tag noch durch
die Begrenzung der verschiednen Dialekte wenigstens annähernd nachweisen und
feststellen. Ebenso ist es richtig, daß es einst eine Zeit gegeben hat, wo die
von Einzelfttrsten beherrschten Gebiete sich mit den Wohnsitzen der Einzelstämme
einigermaßen deckten. Unter den Kaisern aus dem sächsischen und dem saal¬
fränkischen Hause spricht man ja mit einem gewissen Rechte von den großen
Stammesherzogtümern Sachsen, Franken, Baiern, Schwaben und Lothringen.
Bei dieser Einteilung sind jedoch z. B. die Alemannen, die Thüringer, die Hessen,
die Friesen, die doch unzweifelhaft uralte Sonderstämme waren, ohne weiteres
andern Stämmen zugezählt; die Bewohner des Herzogtums Lothringen dagegen
können unmöglich als ein einheitlicher Stamm angesehen werden. Zu der Zeit
jedoch, als das erlauchte Kaisergeschlecht der Staufer unterging, waren diese
Stammesherzogtümer sämtlich zertrümmert, zerstückelt und in eine zahllose Menge
kleiner Gebiete auseinandergefallen. Außerdem hatten sie doch nur den Teil
Deutschlands umfaßt, der westwärts von der Elbe und Saale lag. Die weiten
Lande jenseits der Elbe, an der Oder und der Weichsel, bis über die Memel
hinaus, die in der Völkerwanderung von den Germanen geräumt und von den
nachdringenden Slawen eingenommen waren, und die dann mit Schwert und
Pflugschar für das Deutschtum zurückerobert wurden, finden bei dieser Stammes¬
einteilung einfach keinen Platz. Die durch Krieg und Arbeit abgehärteten und
gestählten kerndeutschen Bewohner von Brandenburg und Schlesien, Mecklenburg,
Pommern und Preußen, die in der Zeit der schwersten Not unser Volkstum
hochgehalten und gerettet haben, würden dann eigentlich und richtig gar nicht zu
Deutschland gehören. Derartige Ansichten, die namentlich das im Jahre 1820
auf Betreiben des Königs Wilhelm von Württemberg erschienene „Manuskript
aus Süddeutschland" in der schroffsten Weise aussprach, spuken noch heutzutage in
manchen Schwaben- und andern Köpfen. Berechtigt und begründet sind sie
aber in keiner Weise.

Die Entwicklung der Einzelstaaten Deutschlands in der Neuzeit hat mit
der alten Scheidung der germanischen Stämme gar nichts zu thun. Von allen
den Staaten, die jetzt das deutsche Reich bilden, ist nicht einer, der sich mit
Recht als den Vertreter einer der uralten Völkerstämme Germaniens ausgeben
könnte. Die größern Staaten sind aus mehreren Stämmen zusammengesetzt,
und die kleinern sind höchstens Bruchstücke irgend welcher Stämme. Bei der
Bildung derselben haben altberechtigte Stammeseigentümlichkeiten so gut wie
gar keine Rolle gespielt. Dynastische Interessen in erster Linie, Erbschaften,
Heiraten, Zufälligkeiten aller Art, nicht am wenigsten die nackte Gewalt haben
die Zusammensetzung der deutschen Staaten herbeigeführt. Das durfte man
aber doch den „Unterthanen" nicht sagen; darum suchte man die klägliche Blöße


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[0027] Die Gebietsentwicklung der Ginzelstaaten Deutschlands. Daß die Deutschen von jeher in Stämme geteilt gewesen sind, und daß diese ihre Besonderheiten gehabt haben, ist richtig. Die Grenzen der von ihnen eingenommenen Landgebiete lassen sich bis auf den heutigen Tag noch durch die Begrenzung der verschiednen Dialekte wenigstens annähernd nachweisen und feststellen. Ebenso ist es richtig, daß es einst eine Zeit gegeben hat, wo die von Einzelfttrsten beherrschten Gebiete sich mit den Wohnsitzen der Einzelstämme einigermaßen deckten. Unter den Kaisern aus dem sächsischen und dem saal¬ fränkischen Hause spricht man ja mit einem gewissen Rechte von den großen Stammesherzogtümern Sachsen, Franken, Baiern, Schwaben und Lothringen. Bei dieser Einteilung sind jedoch z. B. die Alemannen, die Thüringer, die Hessen, die Friesen, die doch unzweifelhaft uralte Sonderstämme waren, ohne weiteres andern Stämmen zugezählt; die Bewohner des Herzogtums Lothringen dagegen können unmöglich als ein einheitlicher Stamm angesehen werden. Zu der Zeit jedoch, als das erlauchte Kaisergeschlecht der Staufer unterging, waren diese Stammesherzogtümer sämtlich zertrümmert, zerstückelt und in eine zahllose Menge kleiner Gebiete auseinandergefallen. Außerdem hatten sie doch nur den Teil Deutschlands umfaßt, der westwärts von der Elbe und Saale lag. Die weiten Lande jenseits der Elbe, an der Oder und der Weichsel, bis über die Memel hinaus, die in der Völkerwanderung von den Germanen geräumt und von den nachdringenden Slawen eingenommen waren, und die dann mit Schwert und Pflugschar für das Deutschtum zurückerobert wurden, finden bei dieser Stammes¬ einteilung einfach keinen Platz. Die durch Krieg und Arbeit abgehärteten und gestählten kerndeutschen Bewohner von Brandenburg und Schlesien, Mecklenburg, Pommern und Preußen, die in der Zeit der schwersten Not unser Volkstum hochgehalten und gerettet haben, würden dann eigentlich und richtig gar nicht zu Deutschland gehören. Derartige Ansichten, die namentlich das im Jahre 1820 auf Betreiben des Königs Wilhelm von Württemberg erschienene „Manuskript aus Süddeutschland" in der schroffsten Weise aussprach, spuken noch heutzutage in manchen Schwaben- und andern Köpfen. Berechtigt und begründet sind sie aber in keiner Weise. Die Entwicklung der Einzelstaaten Deutschlands in der Neuzeit hat mit der alten Scheidung der germanischen Stämme gar nichts zu thun. Von allen den Staaten, die jetzt das deutsche Reich bilden, ist nicht einer, der sich mit Recht als den Vertreter einer der uralten Völkerstämme Germaniens ausgeben könnte. Die größern Staaten sind aus mehreren Stämmen zusammengesetzt, und die kleinern sind höchstens Bruchstücke irgend welcher Stämme. Bei der Bildung derselben haben altberechtigte Stammeseigentümlichkeiten so gut wie gar keine Rolle gespielt. Dynastische Interessen in erster Linie, Erbschaften, Heiraten, Zufälligkeiten aller Art, nicht am wenigsten die nackte Gewalt haben die Zusammensetzung der deutschen Staaten herbeigeführt. Das durfte man aber doch den „Unterthanen" nicht sagen; darum suchte man die klägliche Blöße

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434/27>, abgerufen am 25.07.2024.