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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr.

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Tagebuchblätter eines Sonntagsphilosophen.

aber in der Zeit über die französische Periode rückwärts wieder heimisch wird,
wozu ja ein Zug der Zeit immer lebhafter unsre Bildungswelt zieht, der fühlt
es wieder, wie französisch wir geworden waren und zum Teil noch sind. Es
war, als ob der Gesichtskreis unsrer Lebens- und Weltanschauung vom fran¬
zösischen Wesen wie von einem Gebirge begrenzt wäre, hinter dem es nichts
weiter gäbe. Mir kam einmal als Trost dieses Bild zugleich mit dein sinnigen
Sprichwort "hinter den Bergen wohnen auch Leute," das einem ähnlichen
Durchbruch durch einen verengten Gesichtskreis entsprungen sein muß. Wir
müssen diesen französischen Horizont vollends durchbrechen oder überspringen
und zurücktreten in das deutschere Leben vorher, wie man das ja im Kunst¬
handwerk schou thut.

Übrigens sind ja, zum Troste für uns, die andern Culturvölker Europas
in gleicher Lage, aus der Zeit her, wo die französische Cultur den Anlauf
dazu nahm, die Cultur schlechthin zu werden, und kein Einsichtiger wird
verkennen wollen, daß Europa und wir mit durch den französischen Geist da
auch wahre Förderung erfahren haben. Daß aber diese große französische Cul-
turbewegung, die sich anschickte, alle Culturkräfte Europas ins Schlepptau des
französischen Geistes und seiner Entwickelung im Guten und Schlimmen zu neh¬
men, endlich in ihrem Lauf gebrochen und gedämmt wurde, das geschah zum
Heile der Culturwelt und der Franzosen selbst, wie die Zukunft zeigen wird,
ja wohl schon jetzt zu erkennen ist, da aller wahre Fortschritt der neuern Zeit
an den regen freien Wettbewerb der verschiedenen Volkskräfte geknüpft ist. Ein
bedeutsames Zeichen der im Stillen vorschreitendem Rückbewegung trat jetzt bei
der Romfahrt Kaiser Wilhelms zu Tage, indem da bei dem höfischen Fest¬
mahle, dem sogenannten Galadiner, die beiden Fürsten ihren Trinkspruch nicht
mehr französisch ausbrachten, sondern jeder in seiner Landessprache, was noch
vor zwanzig Jahren ein unmögliches Ding gewesen wäre. Es giebt gewiß noch
manchen bei uns und in Italien, der darin keinen Fortschritt, lieber einen
Rückschritt der Cultur erkennen mag und vielleicht kopfschüttelnd von guter
alter Zeit spricht, deren Wert man nun verkennen lerne. Aber die Rückbewegung
ist doch auf dem Wege des wahren Fortschrittes, und den Franzosen selbst ist
nichts gesünder, als daß sie nun genötigt werden, auch fremde Cultursprachen
zu lernen, also in die Zeit zurück zu treten, wo sie noch nicht mit ihrem Fran¬
zösisch allen Culturinhalt zu besitzen und überall in Europa als fertig und
maßgebend auftreten zu können glauben durften.

Wie lange bei uns die Rückbewegung im Gange ist, wie hochnötig sie
ehrenhalber war und was dabei noch aufzuräumen übrig bleibt, kann man an
der Geschichte des Briefverkehrs sehen. "Addresse" und "Couvert" sind Reste
aus einer Zeit, wo auf der Höhe der französischen Periode der Briefverkehr
in gebildeten Kreisen überhaupt französisch werden wollte, wo man sich in
Deutschland, wenn man nach der Höhe der Bildung strebte, französische Briefe


Tagebuchblätter eines Sonntagsphilosophen.

aber in der Zeit über die französische Periode rückwärts wieder heimisch wird,
wozu ja ein Zug der Zeit immer lebhafter unsre Bildungswelt zieht, der fühlt
es wieder, wie französisch wir geworden waren und zum Teil noch sind. Es
war, als ob der Gesichtskreis unsrer Lebens- und Weltanschauung vom fran¬
zösischen Wesen wie von einem Gebirge begrenzt wäre, hinter dem es nichts
weiter gäbe. Mir kam einmal als Trost dieses Bild zugleich mit dein sinnigen
Sprichwort „hinter den Bergen wohnen auch Leute," das einem ähnlichen
Durchbruch durch einen verengten Gesichtskreis entsprungen sein muß. Wir
müssen diesen französischen Horizont vollends durchbrechen oder überspringen
und zurücktreten in das deutschere Leben vorher, wie man das ja im Kunst¬
handwerk schou thut.

Übrigens sind ja, zum Troste für uns, die andern Culturvölker Europas
in gleicher Lage, aus der Zeit her, wo die französische Cultur den Anlauf
dazu nahm, die Cultur schlechthin zu werden, und kein Einsichtiger wird
verkennen wollen, daß Europa und wir mit durch den französischen Geist da
auch wahre Förderung erfahren haben. Daß aber diese große französische Cul-
turbewegung, die sich anschickte, alle Culturkräfte Europas ins Schlepptau des
französischen Geistes und seiner Entwickelung im Guten und Schlimmen zu neh¬
men, endlich in ihrem Lauf gebrochen und gedämmt wurde, das geschah zum
Heile der Culturwelt und der Franzosen selbst, wie die Zukunft zeigen wird,
ja wohl schon jetzt zu erkennen ist, da aller wahre Fortschritt der neuern Zeit
an den regen freien Wettbewerb der verschiedenen Volkskräfte geknüpft ist. Ein
bedeutsames Zeichen der im Stillen vorschreitendem Rückbewegung trat jetzt bei
der Romfahrt Kaiser Wilhelms zu Tage, indem da bei dem höfischen Fest¬
mahle, dem sogenannten Galadiner, die beiden Fürsten ihren Trinkspruch nicht
mehr französisch ausbrachten, sondern jeder in seiner Landessprache, was noch
vor zwanzig Jahren ein unmögliches Ding gewesen wäre. Es giebt gewiß noch
manchen bei uns und in Italien, der darin keinen Fortschritt, lieber einen
Rückschritt der Cultur erkennen mag und vielleicht kopfschüttelnd von guter
alter Zeit spricht, deren Wert man nun verkennen lerne. Aber die Rückbewegung
ist doch auf dem Wege des wahren Fortschrittes, und den Franzosen selbst ist
nichts gesünder, als daß sie nun genötigt werden, auch fremde Cultursprachen
zu lernen, also in die Zeit zurück zu treten, wo sie noch nicht mit ihrem Fran¬
zösisch allen Culturinhalt zu besitzen und überall in Europa als fertig und
maßgebend auftreten zu können glauben durften.

Wie lange bei uns die Rückbewegung im Gange ist, wie hochnötig sie
ehrenhalber war und was dabei noch aufzuräumen übrig bleibt, kann man an
der Geschichte des Briefverkehrs sehen. „Addresse" und „Couvert" sind Reste
aus einer Zeit, wo auf der Höhe der französischen Periode der Briefverkehr
in gebildeten Kreisen überhaupt französisch werden wollte, wo man sich in
Deutschland, wenn man nach der Höhe der Bildung strebte, französische Briefe


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[0268] Tagebuchblätter eines Sonntagsphilosophen. aber in der Zeit über die französische Periode rückwärts wieder heimisch wird, wozu ja ein Zug der Zeit immer lebhafter unsre Bildungswelt zieht, der fühlt es wieder, wie französisch wir geworden waren und zum Teil noch sind. Es war, als ob der Gesichtskreis unsrer Lebens- und Weltanschauung vom fran¬ zösischen Wesen wie von einem Gebirge begrenzt wäre, hinter dem es nichts weiter gäbe. Mir kam einmal als Trost dieses Bild zugleich mit dein sinnigen Sprichwort „hinter den Bergen wohnen auch Leute," das einem ähnlichen Durchbruch durch einen verengten Gesichtskreis entsprungen sein muß. Wir müssen diesen französischen Horizont vollends durchbrechen oder überspringen und zurücktreten in das deutschere Leben vorher, wie man das ja im Kunst¬ handwerk schou thut. Übrigens sind ja, zum Troste für uns, die andern Culturvölker Europas in gleicher Lage, aus der Zeit her, wo die französische Cultur den Anlauf dazu nahm, die Cultur schlechthin zu werden, und kein Einsichtiger wird verkennen wollen, daß Europa und wir mit durch den französischen Geist da auch wahre Förderung erfahren haben. Daß aber diese große französische Cul- turbewegung, die sich anschickte, alle Culturkräfte Europas ins Schlepptau des französischen Geistes und seiner Entwickelung im Guten und Schlimmen zu neh¬ men, endlich in ihrem Lauf gebrochen und gedämmt wurde, das geschah zum Heile der Culturwelt und der Franzosen selbst, wie die Zukunft zeigen wird, ja wohl schon jetzt zu erkennen ist, da aller wahre Fortschritt der neuern Zeit an den regen freien Wettbewerb der verschiedenen Volkskräfte geknüpft ist. Ein bedeutsames Zeichen der im Stillen vorschreitendem Rückbewegung trat jetzt bei der Romfahrt Kaiser Wilhelms zu Tage, indem da bei dem höfischen Fest¬ mahle, dem sogenannten Galadiner, die beiden Fürsten ihren Trinkspruch nicht mehr französisch ausbrachten, sondern jeder in seiner Landessprache, was noch vor zwanzig Jahren ein unmögliches Ding gewesen wäre. Es giebt gewiß noch manchen bei uns und in Italien, der darin keinen Fortschritt, lieber einen Rückschritt der Cultur erkennen mag und vielleicht kopfschüttelnd von guter alter Zeit spricht, deren Wert man nun verkennen lerne. Aber die Rückbewegung ist doch auf dem Wege des wahren Fortschrittes, und den Franzosen selbst ist nichts gesünder, als daß sie nun genötigt werden, auch fremde Cultursprachen zu lernen, also in die Zeit zurück zu treten, wo sie noch nicht mit ihrem Fran¬ zösisch allen Culturinhalt zu besitzen und überall in Europa als fertig und maßgebend auftreten zu können glauben durften. Wie lange bei uns die Rückbewegung im Gange ist, wie hochnötig sie ehrenhalber war und was dabei noch aufzuräumen übrig bleibt, kann man an der Geschichte des Briefverkehrs sehen. „Addresse" und „Couvert" sind Reste aus einer Zeit, wo auf der Höhe der französischen Periode der Briefverkehr in gebildeten Kreisen überhaupt französisch werden wollte, wo man sich in Deutschland, wenn man nach der Höhe der Bildung strebte, französische Briefe

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434/268>, abgerufen am 22.07.2024.