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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr.

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Maßstab, weiß auch gar wohl, die Unbefangenen wenigstens, daß man danach
auch in der eignen Vorzeit mit suchen kann oder muß, nicht bloß im Auslande
oder im griechisch-römischen Altertum, wie man vordem lange fast ausschlie߬
lich gethan hat. In dem Lichte und Glänze des sogenannten finstern Mittel¬
alters ist bei näherm Zusehen mehr als ein Strahl entdeckt worden, den man
unsrer Geistes- und Lebenssonne, die an vielen Stellen gar düstre Flecken zeigt,
recht herzlich wieder wünschen möchte oder muß. Wie hätte man z. B. an¬
derswo lernen können, was jeder Einsichtige nun weiß, was das Volk in seinem
tiefstem Sinne bedeutet als letzter Schoß und Boden, in dem alles gesunde
Leben wurzeln, aus dem es erwachsen muß? An dem klassischen Altertum nicht,
auf das diese Erkenntnis erst von der Erkenntnis unsrer Vorzeit aufklärend
übertragen worden ist. An der Bedeutung des Kunsthandwerks ist nun klar
und allgemein erkannt, wie und wo auch die hohe Kunst allein zu gesunder
Blüte und Kraft erwachsen kann, vom Handwerk aus, sodaß die Höhe oben
und die Breite des Alltagslebens unten ein ununterbrochenes lebendiges Ganze
darstellen, in dem der Lebenssaft in Wechselwirkung auf und niedergeht. Und
es ist im Grunde mit alleu großen Lebensformen nicht anders, denn ein und
dasselbe Gesetz des Werdens, das dem Bewußtsein des 17. und 18. Jahrhun¬
derts noch verborgen war, geht durch das Lebensganze nach allen seinen
Erscheinungsformen. Auch Irrungen im Entwicklungsgange des Rechtslebens,
des Gemeindelebens, des Staatslebens, von denen man nun zurückkommen
muß, rührten nur daher, daß man in der Höhe, oft nur einer geträumten
Höhe, des Lebens selber, des Volkes, der angebornen Eigenart vergessen oder
mit Verachtung darauf niedersehen gelernt hatte. Jetzt ist ja fast auf allen
Punkten ein großer Rückschwung im Gange, wohin denn? Doch zu guter alter
Zeit, in der man Fäden des werdenden Gewebes wieder aufnehmen muß, die
man verächtlich töricht hatte fahren lassen, daß aus dem Gewebe ein Gewirre
wurde. Auch im Mittelalter giebt es solche Verlorne Fäden wieder zu suchen.
Gehört uicht Kaiser und Reich selbst dazu?

Bei dieser Aufgabe unsrer Zeit und Zukunft handelt es sich aber zugleich
oder zunächst um unser Verhältnis zu den Franzosen, das ja seit vielen Jahr¬
hunderten für das Gedeihen oder Stocken unsrer Entwickelung ganz wesentlich
mit bestimmend gewesen ist. Politisch, für Form und Bestand unsres äußern
Lebens ist es nun endlich überraschend schnell und gründlich ins Reine gebracht
worden, für unser inneres Leben, wie Wohl viele meinen, noch bei weitem nicht. Ich
denke nicht entfernt daran, daß man alles Französische nun bei uns mit Stumpf
und Stiel ausrotten solle oder könne. Aber aus der eigentlich französischen
Periode unsers Culturlebens, die im 17. Jahrhundert begann (mit einem Vor¬
spiele im 12. und 13. Jahrhundert), ist noch viel mehr übrig, als es der Würde
und dem Beruf eines Volkes mit bestimmter Eigenart entspricht. Man merkt
es nur vielfach noch nicht durch die Gewalt der langen Gewöhnung. Wer


Maßstab, weiß auch gar wohl, die Unbefangenen wenigstens, daß man danach
auch in der eignen Vorzeit mit suchen kann oder muß, nicht bloß im Auslande
oder im griechisch-römischen Altertum, wie man vordem lange fast ausschlie߬
lich gethan hat. In dem Lichte und Glänze des sogenannten finstern Mittel¬
alters ist bei näherm Zusehen mehr als ein Strahl entdeckt worden, den man
unsrer Geistes- und Lebenssonne, die an vielen Stellen gar düstre Flecken zeigt,
recht herzlich wieder wünschen möchte oder muß. Wie hätte man z. B. an¬
derswo lernen können, was jeder Einsichtige nun weiß, was das Volk in seinem
tiefstem Sinne bedeutet als letzter Schoß und Boden, in dem alles gesunde
Leben wurzeln, aus dem es erwachsen muß? An dem klassischen Altertum nicht,
auf das diese Erkenntnis erst von der Erkenntnis unsrer Vorzeit aufklärend
übertragen worden ist. An der Bedeutung des Kunsthandwerks ist nun klar
und allgemein erkannt, wie und wo auch die hohe Kunst allein zu gesunder
Blüte und Kraft erwachsen kann, vom Handwerk aus, sodaß die Höhe oben
und die Breite des Alltagslebens unten ein ununterbrochenes lebendiges Ganze
darstellen, in dem der Lebenssaft in Wechselwirkung auf und niedergeht. Und
es ist im Grunde mit alleu großen Lebensformen nicht anders, denn ein und
dasselbe Gesetz des Werdens, das dem Bewußtsein des 17. und 18. Jahrhun¬
derts noch verborgen war, geht durch das Lebensganze nach allen seinen
Erscheinungsformen. Auch Irrungen im Entwicklungsgange des Rechtslebens,
des Gemeindelebens, des Staatslebens, von denen man nun zurückkommen
muß, rührten nur daher, daß man in der Höhe, oft nur einer geträumten
Höhe, des Lebens selber, des Volkes, der angebornen Eigenart vergessen oder
mit Verachtung darauf niedersehen gelernt hatte. Jetzt ist ja fast auf allen
Punkten ein großer Rückschwung im Gange, wohin denn? Doch zu guter alter
Zeit, in der man Fäden des werdenden Gewebes wieder aufnehmen muß, die
man verächtlich töricht hatte fahren lassen, daß aus dem Gewebe ein Gewirre
wurde. Auch im Mittelalter giebt es solche Verlorne Fäden wieder zu suchen.
Gehört uicht Kaiser und Reich selbst dazu?

Bei dieser Aufgabe unsrer Zeit und Zukunft handelt es sich aber zugleich
oder zunächst um unser Verhältnis zu den Franzosen, das ja seit vielen Jahr¬
hunderten für das Gedeihen oder Stocken unsrer Entwickelung ganz wesentlich
mit bestimmend gewesen ist. Politisch, für Form und Bestand unsres äußern
Lebens ist es nun endlich überraschend schnell und gründlich ins Reine gebracht
worden, für unser inneres Leben, wie Wohl viele meinen, noch bei weitem nicht. Ich
denke nicht entfernt daran, daß man alles Französische nun bei uns mit Stumpf
und Stiel ausrotten solle oder könne. Aber aus der eigentlich französischen
Periode unsers Culturlebens, die im 17. Jahrhundert begann (mit einem Vor¬
spiele im 12. und 13. Jahrhundert), ist noch viel mehr übrig, als es der Würde
und dem Beruf eines Volkes mit bestimmter Eigenart entspricht. Man merkt
es nur vielfach noch nicht durch die Gewalt der langen Gewöhnung. Wer


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434/267>, abgerufen am 22.07.2024.