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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr.

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Die Gebietsentwicklung der Ginzelstaaton Deutschlands.

kriegen war man sogar noch weiter gegangen und hatte aus den Stämmen
gleich verschiedne Nationen gemacht. Bekannt ist ein Ausspruch des Königs
Friedrich von Württemberg, der zwischen der bairischen und preußischen "Nation"
keinerlei Zusammenhang finden konnte. Jene Könige und Fürsten von Napoleons
Gnaden liebten es sogar, ihre Länder als Reiche zu bezeichnen und bezeichnen
zu hören; noch heute heißt in Vaiern die gesetzgebende Körperschaft, die dem
Oberhause oder dem Herrenhause des Landtages entspricht, die Reichsratskammer.
Solche Bezeichnungen nimmt heutzutage auch wohl der eingefleischteste Parti¬
kularist nicht mehr ernsthaft. Aber über die "Stämme" und ihre "berechtigten
Eigentümlichkeiten," mit denen namentlich in den sechziger Jahren ein so heilloser
Unfug getrieben wurde, herrschen in unzähligen Köpfen noch die wunderlichsten
Begriffe, die unklarsten Vorstellungen. Es ist das auch gar nicht so überraschend,
wie man auf den ersten Blick glauben möchte. Denn eine geraume Zeit hindurch
war es fast offen ausgesprochener Grundsatz der Regierungen in den Mittel-
und Kleinstaaten, den Untertanen weiß zu machen, daß die Bevölkerung jedes
noch so kleinen Ländchens einen eignen deutschen Stamm vorstelle. Hierauf
begründeten die kleinen Dynastien nicht bloß ihre Berechtigung zur Existenz,
zur Selbständigkeit ihrer Staaten, zur völligen Souveränität, sondern sie wiesen
sogar daraus nach, daß ihr Vorhandensein für das Heil Deutschlands notwendig
sei, daß es auf einem tiefgefühlten Bedürfnisse des ganzen Vaterlandes beruhe.
Was man dem guten deutschen Michel, groß und klein, Menschenalter hindurch
so einpaukte, was er in der Jugend in hohen und niedern Schulen lernen mußte,
was ihm in reiferen Alter in Zeitungen, Reden, Loyalitätsadressen als unum¬
stößliche Wahrheit hingestellt wurde, das glaubte er anstand- und kritiklos. Die
Notwendigkeit der vielen Fürstenhäuser und der dadurch herbeigeführten Zersplit¬
terung des Ganzen wurde in Tausenden von Köpfen gewissermaßen Glaubenssatz.
Schiller und Goethe führten hierauf die Verbreitung von Kunst und Wissenschaft
in Deutschland zurück. Große Gelehrte und kleine Köpfe bewiesen die Wahrheit
dieser grundverkehrten Anschauung durch das Beispiel Griechenlands, dessen
Zerstückelung auch so segensreiche Folgen gehabt haben sollte. Die unbestreit¬
bare Folge, welche die Zerrissenheit jenes sogenannten klassischen Landes für
feine Bewohner hatte, daß die Griechen nämlich mehr als zweitausend Jahre
lang mißhandelte Sklaven fremder Nationen gewesen sind, durfte natürlich nicht
erwähnt werden. Daß es den Partikularistischen Interessen der Dynastien ent¬
sprach, solche Anschauungen unter dem Volke zu verbreiten, läßt sich erklären;
daß es aber Leute giebt, die auf eignes Urteil und selbstständiges Denken
Anspruch machen und doch solche Behauptungen noch heute nachsprechen, läßt
sich schwer begreifen.

Nichts ist ungeschichtlicher als die Ansicht, daß das Entstehen, die Bildung
und die Entwicklung der Einzelstaaten Deutschlands und damit ihre Daseins¬
berechtigung auf der uralten Teilung der deutschen Nation in Stämme beruhe.


Die Gebietsentwicklung der Ginzelstaaton Deutschlands.

kriegen war man sogar noch weiter gegangen und hatte aus den Stämmen
gleich verschiedne Nationen gemacht. Bekannt ist ein Ausspruch des Königs
Friedrich von Württemberg, der zwischen der bairischen und preußischen „Nation"
keinerlei Zusammenhang finden konnte. Jene Könige und Fürsten von Napoleons
Gnaden liebten es sogar, ihre Länder als Reiche zu bezeichnen und bezeichnen
zu hören; noch heute heißt in Vaiern die gesetzgebende Körperschaft, die dem
Oberhause oder dem Herrenhause des Landtages entspricht, die Reichsratskammer.
Solche Bezeichnungen nimmt heutzutage auch wohl der eingefleischteste Parti¬
kularist nicht mehr ernsthaft. Aber über die „Stämme" und ihre „berechtigten
Eigentümlichkeiten," mit denen namentlich in den sechziger Jahren ein so heilloser
Unfug getrieben wurde, herrschen in unzähligen Köpfen noch die wunderlichsten
Begriffe, die unklarsten Vorstellungen. Es ist das auch gar nicht so überraschend,
wie man auf den ersten Blick glauben möchte. Denn eine geraume Zeit hindurch
war es fast offen ausgesprochener Grundsatz der Regierungen in den Mittel-
und Kleinstaaten, den Untertanen weiß zu machen, daß die Bevölkerung jedes
noch so kleinen Ländchens einen eignen deutschen Stamm vorstelle. Hierauf
begründeten die kleinen Dynastien nicht bloß ihre Berechtigung zur Existenz,
zur Selbständigkeit ihrer Staaten, zur völligen Souveränität, sondern sie wiesen
sogar daraus nach, daß ihr Vorhandensein für das Heil Deutschlands notwendig
sei, daß es auf einem tiefgefühlten Bedürfnisse des ganzen Vaterlandes beruhe.
Was man dem guten deutschen Michel, groß und klein, Menschenalter hindurch
so einpaukte, was er in der Jugend in hohen und niedern Schulen lernen mußte,
was ihm in reiferen Alter in Zeitungen, Reden, Loyalitätsadressen als unum¬
stößliche Wahrheit hingestellt wurde, das glaubte er anstand- und kritiklos. Die
Notwendigkeit der vielen Fürstenhäuser und der dadurch herbeigeführten Zersplit¬
terung des Ganzen wurde in Tausenden von Köpfen gewissermaßen Glaubenssatz.
Schiller und Goethe führten hierauf die Verbreitung von Kunst und Wissenschaft
in Deutschland zurück. Große Gelehrte und kleine Köpfe bewiesen die Wahrheit
dieser grundverkehrten Anschauung durch das Beispiel Griechenlands, dessen
Zerstückelung auch so segensreiche Folgen gehabt haben sollte. Die unbestreit¬
bare Folge, welche die Zerrissenheit jenes sogenannten klassischen Landes für
feine Bewohner hatte, daß die Griechen nämlich mehr als zweitausend Jahre
lang mißhandelte Sklaven fremder Nationen gewesen sind, durfte natürlich nicht
erwähnt werden. Daß es den Partikularistischen Interessen der Dynastien ent¬
sprach, solche Anschauungen unter dem Volke zu verbreiten, läßt sich erklären;
daß es aber Leute giebt, die auf eignes Urteil und selbstständiges Denken
Anspruch machen und doch solche Behauptungen noch heute nachsprechen, läßt
sich schwer begreifen.

Nichts ist ungeschichtlicher als die Ansicht, daß das Entstehen, die Bildung
und die Entwicklung der Einzelstaaten Deutschlands und damit ihre Daseins¬
berechtigung auf der uralten Teilung der deutschen Nation in Stämme beruhe.


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[0026] Die Gebietsentwicklung der Ginzelstaaton Deutschlands. kriegen war man sogar noch weiter gegangen und hatte aus den Stämmen gleich verschiedne Nationen gemacht. Bekannt ist ein Ausspruch des Königs Friedrich von Württemberg, der zwischen der bairischen und preußischen „Nation" keinerlei Zusammenhang finden konnte. Jene Könige und Fürsten von Napoleons Gnaden liebten es sogar, ihre Länder als Reiche zu bezeichnen und bezeichnen zu hören; noch heute heißt in Vaiern die gesetzgebende Körperschaft, die dem Oberhause oder dem Herrenhause des Landtages entspricht, die Reichsratskammer. Solche Bezeichnungen nimmt heutzutage auch wohl der eingefleischteste Parti¬ kularist nicht mehr ernsthaft. Aber über die „Stämme" und ihre „berechtigten Eigentümlichkeiten," mit denen namentlich in den sechziger Jahren ein so heilloser Unfug getrieben wurde, herrschen in unzähligen Köpfen noch die wunderlichsten Begriffe, die unklarsten Vorstellungen. Es ist das auch gar nicht so überraschend, wie man auf den ersten Blick glauben möchte. Denn eine geraume Zeit hindurch war es fast offen ausgesprochener Grundsatz der Regierungen in den Mittel- und Kleinstaaten, den Untertanen weiß zu machen, daß die Bevölkerung jedes noch so kleinen Ländchens einen eignen deutschen Stamm vorstelle. Hierauf begründeten die kleinen Dynastien nicht bloß ihre Berechtigung zur Existenz, zur Selbständigkeit ihrer Staaten, zur völligen Souveränität, sondern sie wiesen sogar daraus nach, daß ihr Vorhandensein für das Heil Deutschlands notwendig sei, daß es auf einem tiefgefühlten Bedürfnisse des ganzen Vaterlandes beruhe. Was man dem guten deutschen Michel, groß und klein, Menschenalter hindurch so einpaukte, was er in der Jugend in hohen und niedern Schulen lernen mußte, was ihm in reiferen Alter in Zeitungen, Reden, Loyalitätsadressen als unum¬ stößliche Wahrheit hingestellt wurde, das glaubte er anstand- und kritiklos. Die Notwendigkeit der vielen Fürstenhäuser und der dadurch herbeigeführten Zersplit¬ terung des Ganzen wurde in Tausenden von Köpfen gewissermaßen Glaubenssatz. Schiller und Goethe führten hierauf die Verbreitung von Kunst und Wissenschaft in Deutschland zurück. Große Gelehrte und kleine Köpfe bewiesen die Wahrheit dieser grundverkehrten Anschauung durch das Beispiel Griechenlands, dessen Zerstückelung auch so segensreiche Folgen gehabt haben sollte. Die unbestreit¬ bare Folge, welche die Zerrissenheit jenes sogenannten klassischen Landes für feine Bewohner hatte, daß die Griechen nämlich mehr als zweitausend Jahre lang mißhandelte Sklaven fremder Nationen gewesen sind, durfte natürlich nicht erwähnt werden. Daß es den Partikularistischen Interessen der Dynastien ent¬ sprach, solche Anschauungen unter dem Volke zu verbreiten, läßt sich erklären; daß es aber Leute giebt, die auf eignes Urteil und selbstständiges Denken Anspruch machen und doch solche Behauptungen noch heute nachsprechen, läßt sich schwer begreifen. Nichts ist ungeschichtlicher als die Ansicht, daß das Entstehen, die Bildung und die Entwicklung der Einzelstaaten Deutschlands und damit ihre Daseins¬ berechtigung auf der uralten Teilung der deutschen Nation in Stämme beruhe.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434/26>, abgerufen am 04.07.2024.