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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr.

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Dreißig Jahre in Paris.

Die Begriffe über Geist, Talent, Phantasie und Gestaltungskraft sind in Paris
natürlich genau so verschieden und schwankend wie in Berlin oder München.
Aber eins steht fest: der Begriff des Stils, der Respekt vor der Beherrschung
der Sprache, ein sicheres Gefühl dafür, ob litterarische Erstlingsversuche aus
ernster litterarischer Arbeit hervorgegangen oder klägliche Pfuscherei sind. Und
die verhältnismäßige Allgemeinheit dieser Art von Erkenntnis und dieser Art
von Urteil kommt den wirklichen Talenten mehr oder minder zu Hilfe. Auch
Daudet hat dies erfahren, und gerade seine frühesten Werke, die bis zu den
Romanen "Fromont und Rister" und "Jack" wenig oder nichts mit der modischen
Ehebruchslitteratur des zweiten Kaiserreiches zu thun hatten, sind um der Vor¬
züge ihres Stiles willen doch beachtet, gelesen, anerkannt worden. Gegenüber
unsern deutschen Zuständen, in denen das große Publikum und die Zeitungs¬
kritik die kläglichste Stümperhaftigkeit gelten lassen, während die Ausschließlichen
auch den talentvollsten und vorzüglichsten Jünger der Litteratur mit der Wahr¬
heit zu Boden schlagen, daß er weder ein Shakespeare noch ein Goethe sei,
muß der bezeichnete Vorteil hoch angeschlagen werden. Wir wissen nicht, ob es
auch heute noch so günstig um die talentvollen litterarischen Anfänger steht wie in
Dandets Jugendzeit. Jedenfalls leuchtet aus gewissen Abschnitten der "Dreißig
Jahre" und der Geschichte seiner frühesten Werke hervor, daß ihm die rasche
Empfänglichkeit für litterarisches Verdienst, die den Franzosen unter dem zweiten
Kaiserreiche zwar schon minder als unter der Restauration und der Julimonarchie,
aber doch noch eigen war, zu gute gekommen ist.

Die einzelnen Kapitel der Erinnerungen Daudets bringen natürlich eine
große Zahl kleiner Züge zu dem Litteratur- und Sittenbilde der fünfziger, sechziger
und siebziger Jahre, aber der Schriftsteller besitzt Einsicht genug, zu wissen, daß
die frühe Kenntnis von "ganz Paris," die er erworben hat, zunächst doch nur
jenes kleine Stück von Paris zwischen dem Gymnasetheater und der Oper,
Avers og,räh as I>oiMs und der Börse umfaßt, das sich einbildet, allein vor¬
handen zu sein: Börsenspekulanten, Schauspieler und Journalisten und die leb¬
hafte geschäftige Menge der guten "Boulevardiers," die gar nichts thun. Da
aber diese anspruchsvolle besondre Welt innerhalb der französischen Welt viel,
nur allzuviel bedeutet, so werden alle Schilderungen aus ihr eine gewisse all¬
gemeinere Teilnahme finden, auch wenn sie nicht so lebendig, geistreich und
pikant geschrieben sind, wie Daudets kleine Skizzen. In seinen Charakteristiken
stellt er die Menschen deutlich vor Augen, gleich die erste, "Villemessant", zeigt
eines der Häupter des neufranzösischen Journalismus, den allmächtigen Heraus¬
geber des allmächtigen "Figaro", in greller Beleuchtung. Dem modernen Fran¬
zosen ist der Respekt vor dem Erfolge viel zu tief ins Blut gegangen, als daß
er das Urteil über eine Erscheinung gleich der des berüchtigten Journalisten
unumwunden aussprechen, daß er auch nur andeuten sollte, welches Unglück für
sein Land ein Blatt wie der "Figaro" gewesen ist, zu dem wir in Deutschland


Dreißig Jahre in Paris.

Die Begriffe über Geist, Talent, Phantasie und Gestaltungskraft sind in Paris
natürlich genau so verschieden und schwankend wie in Berlin oder München.
Aber eins steht fest: der Begriff des Stils, der Respekt vor der Beherrschung
der Sprache, ein sicheres Gefühl dafür, ob litterarische Erstlingsversuche aus
ernster litterarischer Arbeit hervorgegangen oder klägliche Pfuscherei sind. Und
die verhältnismäßige Allgemeinheit dieser Art von Erkenntnis und dieser Art
von Urteil kommt den wirklichen Talenten mehr oder minder zu Hilfe. Auch
Daudet hat dies erfahren, und gerade seine frühesten Werke, die bis zu den
Romanen „Fromont und Rister" und „Jack" wenig oder nichts mit der modischen
Ehebruchslitteratur des zweiten Kaiserreiches zu thun hatten, sind um der Vor¬
züge ihres Stiles willen doch beachtet, gelesen, anerkannt worden. Gegenüber
unsern deutschen Zuständen, in denen das große Publikum und die Zeitungs¬
kritik die kläglichste Stümperhaftigkeit gelten lassen, während die Ausschließlichen
auch den talentvollsten und vorzüglichsten Jünger der Litteratur mit der Wahr¬
heit zu Boden schlagen, daß er weder ein Shakespeare noch ein Goethe sei,
muß der bezeichnete Vorteil hoch angeschlagen werden. Wir wissen nicht, ob es
auch heute noch so günstig um die talentvollen litterarischen Anfänger steht wie in
Dandets Jugendzeit. Jedenfalls leuchtet aus gewissen Abschnitten der „Dreißig
Jahre" und der Geschichte seiner frühesten Werke hervor, daß ihm die rasche
Empfänglichkeit für litterarisches Verdienst, die den Franzosen unter dem zweiten
Kaiserreiche zwar schon minder als unter der Restauration und der Julimonarchie,
aber doch noch eigen war, zu gute gekommen ist.

Die einzelnen Kapitel der Erinnerungen Daudets bringen natürlich eine
große Zahl kleiner Züge zu dem Litteratur- und Sittenbilde der fünfziger, sechziger
und siebziger Jahre, aber der Schriftsteller besitzt Einsicht genug, zu wissen, daß
die frühe Kenntnis von „ganz Paris," die er erworben hat, zunächst doch nur
jenes kleine Stück von Paris zwischen dem Gymnasetheater und der Oper,
Avers og,räh as I>oiMs und der Börse umfaßt, das sich einbildet, allein vor¬
handen zu sein: Börsenspekulanten, Schauspieler und Journalisten und die leb¬
hafte geschäftige Menge der guten „Boulevardiers," die gar nichts thun. Da
aber diese anspruchsvolle besondre Welt innerhalb der französischen Welt viel,
nur allzuviel bedeutet, so werden alle Schilderungen aus ihr eine gewisse all¬
gemeinere Teilnahme finden, auch wenn sie nicht so lebendig, geistreich und
pikant geschrieben sind, wie Daudets kleine Skizzen. In seinen Charakteristiken
stellt er die Menschen deutlich vor Augen, gleich die erste, „Villemessant", zeigt
eines der Häupter des neufranzösischen Journalismus, den allmächtigen Heraus¬
geber des allmächtigen „Figaro", in greller Beleuchtung. Dem modernen Fran¬
zosen ist der Respekt vor dem Erfolge viel zu tief ins Blut gegangen, als daß
er das Urteil über eine Erscheinung gleich der des berüchtigten Journalisten
unumwunden aussprechen, daß er auch nur andeuten sollte, welches Unglück für
sein Land ein Blatt wie der „Figaro" gewesen ist, zu dem wir in Deutschland


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[0237] Dreißig Jahre in Paris. Die Begriffe über Geist, Talent, Phantasie und Gestaltungskraft sind in Paris natürlich genau so verschieden und schwankend wie in Berlin oder München. Aber eins steht fest: der Begriff des Stils, der Respekt vor der Beherrschung der Sprache, ein sicheres Gefühl dafür, ob litterarische Erstlingsversuche aus ernster litterarischer Arbeit hervorgegangen oder klägliche Pfuscherei sind. Und die verhältnismäßige Allgemeinheit dieser Art von Erkenntnis und dieser Art von Urteil kommt den wirklichen Talenten mehr oder minder zu Hilfe. Auch Daudet hat dies erfahren, und gerade seine frühesten Werke, die bis zu den Romanen „Fromont und Rister" und „Jack" wenig oder nichts mit der modischen Ehebruchslitteratur des zweiten Kaiserreiches zu thun hatten, sind um der Vor¬ züge ihres Stiles willen doch beachtet, gelesen, anerkannt worden. Gegenüber unsern deutschen Zuständen, in denen das große Publikum und die Zeitungs¬ kritik die kläglichste Stümperhaftigkeit gelten lassen, während die Ausschließlichen auch den talentvollsten und vorzüglichsten Jünger der Litteratur mit der Wahr¬ heit zu Boden schlagen, daß er weder ein Shakespeare noch ein Goethe sei, muß der bezeichnete Vorteil hoch angeschlagen werden. Wir wissen nicht, ob es auch heute noch so günstig um die talentvollen litterarischen Anfänger steht wie in Dandets Jugendzeit. Jedenfalls leuchtet aus gewissen Abschnitten der „Dreißig Jahre" und der Geschichte seiner frühesten Werke hervor, daß ihm die rasche Empfänglichkeit für litterarisches Verdienst, die den Franzosen unter dem zweiten Kaiserreiche zwar schon minder als unter der Restauration und der Julimonarchie, aber doch noch eigen war, zu gute gekommen ist. Die einzelnen Kapitel der Erinnerungen Daudets bringen natürlich eine große Zahl kleiner Züge zu dem Litteratur- und Sittenbilde der fünfziger, sechziger und siebziger Jahre, aber der Schriftsteller besitzt Einsicht genug, zu wissen, daß die frühe Kenntnis von „ganz Paris," die er erworben hat, zunächst doch nur jenes kleine Stück von Paris zwischen dem Gymnasetheater und der Oper, Avers og,räh as I>oiMs und der Börse umfaßt, das sich einbildet, allein vor¬ handen zu sein: Börsenspekulanten, Schauspieler und Journalisten und die leb¬ hafte geschäftige Menge der guten „Boulevardiers," die gar nichts thun. Da aber diese anspruchsvolle besondre Welt innerhalb der französischen Welt viel, nur allzuviel bedeutet, so werden alle Schilderungen aus ihr eine gewisse all¬ gemeinere Teilnahme finden, auch wenn sie nicht so lebendig, geistreich und pikant geschrieben sind, wie Daudets kleine Skizzen. In seinen Charakteristiken stellt er die Menschen deutlich vor Augen, gleich die erste, „Villemessant", zeigt eines der Häupter des neufranzösischen Journalismus, den allmächtigen Heraus¬ geber des allmächtigen „Figaro", in greller Beleuchtung. Dem modernen Fran¬ zosen ist der Respekt vor dem Erfolge viel zu tief ins Blut gegangen, als daß er das Urteil über eine Erscheinung gleich der des berüchtigten Journalisten unumwunden aussprechen, daß er auch nur andeuten sollte, welches Unglück für sein Land ein Blatt wie der „Figaro" gewesen ist, zu dem wir in Deutschland

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434/237>, abgerufen am 25.07.2024.