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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr.

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Goethe und Schopenhauer.

da solche mit denselben Worten wie hier in der ersten Auflage, S. 401, steht,
auch ebendaselbst, S. 528, wie hier am Schlüsse des Z 65 wiederkehrt." Man
sieht hieraus, welchen tiefen Eindruck das Lesen des Schopenhauerschen Buches
auf Goethe gemacht haben muß.

Daß endlich auch Schopenhauers Ethik den "Meister" nicht unberührt
ließ, ist schon angedeutet worden. Goethe war nicht Pessimist wie Schopenhauer
und Byron, aber er war auch nicht Optimist um jeden Preis wie sein Egmont,
sondern hielt sich als aufmerksamer Beobachter und rüstiger Arbeiter in der
Mitte zwischen den Extremen. "Wir mögen die Welt kennen lernen, wie wir
wollen," lautet eine seiner "Maximen," "sie wird immer eine Tag- und Nacht¬
seite behalten." Er unterschied scharf Natur und Menschenwelt. Die Natur
war ihm immer ehrwürdig, interessant und rein, über die sittlichen Mängel der
Menschen hatte er schon in der Jugend geklagt, im Alter stieg die Mißachtung
der Durchschnittscharaktere infolge der Übeln Erfahrungen, die er mit seiner
Farbenlehre machte. Über die Beschwerlichkeit des Erdenlebens setzte er sich
mutig hinweg, trug das eigne Leid mit heroischer Standhaftigkeit und suchte
die allgemeine Not zu lindern, so gut er konnte. Die erhabene Heiterkeit seines
Wesens beruhte außerdem auf dem festen Glauben, daß eine gütige Vorsehung
jeden seiner Schritte lenke und alles zum Besten wende. Für den radikalen
Pessimismus Schopenhauers und Byrons hatte er in seinem Herzen keinen Raum,
aber sein Verstand versagte demselben nicht die Berechtigung: er verehrte Byron und
er geriet im letzten Jahrzehnt sehr leicht in die Gedankenrichtung Schopenhauers.
Ganz im Geiste der Schopenhauerschen Philosophie sagt er in den "Betrach¬
tungen im Sinne der Wandrer": "Die Menschheit ist bedingt durch Bedürf¬
nisse. Sind diese nicht befriedigt, so erweist sie sich ungeduldig, sind sie be¬
friedigt, so erscheint sie gleichgiltig. Der eigentliche Mensch bewegt sich also
zwischen beiden Zuständen, und seinen Verstand, den sogenannten Menschenver¬
stand, wird er anwenden, seine Bedürfnisse zu befriedigen; ist es geschehen, so
hat er die Aufgabe, den Raum der Gleichgiltigkeit auszufüllen. Beschränkt sich
dieses in die nächsten und notwendigsten Grenzen, so gelingt es ihm auch.
Erheben sich aber die Bedürfnisse, treten sie aus dem Kreise des Gemeinen her¬
aus, so ist der Gemeinverstand nicht mehr hinreichend, er ist kein Genius mehr,
die Region des Irrtums ist der Menschheit aufgethan."

Der Schlüssel zu diesen Worten findet sich in dem Hauptwerke Schopen¬
hauers und zwar im zweiten und dritten Buche des ersten Bandes; da heißt
es z. B: "Die Erkenntnis überhaupt, vernünftige sowohl als bloß anschauliche,
geht ursprünglich aus dem Willen selbst hervor, gehört zum Wesen der höhern
Stufen seiner Objektivation, als ein Mittel zur Erhaltung des Individuums
und der Art, so gut wie jedes Organ des Leibes. Ursprünglich also zum Dienste
des Willens, zur Vollbringung seiner Zwecke bestimmt, bleibt sie ihm auch fast
durchgängig dienstbar, so in allen Tieren und beinahe in allen Menschen.


Goethe und Schopenhauer.

da solche mit denselben Worten wie hier in der ersten Auflage, S. 401, steht,
auch ebendaselbst, S. 528, wie hier am Schlüsse des Z 65 wiederkehrt." Man
sieht hieraus, welchen tiefen Eindruck das Lesen des Schopenhauerschen Buches
auf Goethe gemacht haben muß.

Daß endlich auch Schopenhauers Ethik den „Meister" nicht unberührt
ließ, ist schon angedeutet worden. Goethe war nicht Pessimist wie Schopenhauer
und Byron, aber er war auch nicht Optimist um jeden Preis wie sein Egmont,
sondern hielt sich als aufmerksamer Beobachter und rüstiger Arbeiter in der
Mitte zwischen den Extremen. „Wir mögen die Welt kennen lernen, wie wir
wollen," lautet eine seiner „Maximen," „sie wird immer eine Tag- und Nacht¬
seite behalten." Er unterschied scharf Natur und Menschenwelt. Die Natur
war ihm immer ehrwürdig, interessant und rein, über die sittlichen Mängel der
Menschen hatte er schon in der Jugend geklagt, im Alter stieg die Mißachtung
der Durchschnittscharaktere infolge der Übeln Erfahrungen, die er mit seiner
Farbenlehre machte. Über die Beschwerlichkeit des Erdenlebens setzte er sich
mutig hinweg, trug das eigne Leid mit heroischer Standhaftigkeit und suchte
die allgemeine Not zu lindern, so gut er konnte. Die erhabene Heiterkeit seines
Wesens beruhte außerdem auf dem festen Glauben, daß eine gütige Vorsehung
jeden seiner Schritte lenke und alles zum Besten wende. Für den radikalen
Pessimismus Schopenhauers und Byrons hatte er in seinem Herzen keinen Raum,
aber sein Verstand versagte demselben nicht die Berechtigung: er verehrte Byron und
er geriet im letzten Jahrzehnt sehr leicht in die Gedankenrichtung Schopenhauers.
Ganz im Geiste der Schopenhauerschen Philosophie sagt er in den „Betrach¬
tungen im Sinne der Wandrer": „Die Menschheit ist bedingt durch Bedürf¬
nisse. Sind diese nicht befriedigt, so erweist sie sich ungeduldig, sind sie be¬
friedigt, so erscheint sie gleichgiltig. Der eigentliche Mensch bewegt sich also
zwischen beiden Zuständen, und seinen Verstand, den sogenannten Menschenver¬
stand, wird er anwenden, seine Bedürfnisse zu befriedigen; ist es geschehen, so
hat er die Aufgabe, den Raum der Gleichgiltigkeit auszufüllen. Beschränkt sich
dieses in die nächsten und notwendigsten Grenzen, so gelingt es ihm auch.
Erheben sich aber die Bedürfnisse, treten sie aus dem Kreise des Gemeinen her¬
aus, so ist der Gemeinverstand nicht mehr hinreichend, er ist kein Genius mehr,
die Region des Irrtums ist der Menschheit aufgethan."

Der Schlüssel zu diesen Worten findet sich in dem Hauptwerke Schopen¬
hauers und zwar im zweiten und dritten Buche des ersten Bandes; da heißt
es z. B: „Die Erkenntnis überhaupt, vernünftige sowohl als bloß anschauliche,
geht ursprünglich aus dem Willen selbst hervor, gehört zum Wesen der höhern
Stufen seiner Objektivation, als ein Mittel zur Erhaltung des Individuums
und der Art, so gut wie jedes Organ des Leibes. Ursprünglich also zum Dienste
des Willens, zur Vollbringung seiner Zwecke bestimmt, bleibt sie ihm auch fast
durchgängig dienstbar, so in allen Tieren und beinahe in allen Menschen.


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[0184] Goethe und Schopenhauer. da solche mit denselben Worten wie hier in der ersten Auflage, S. 401, steht, auch ebendaselbst, S. 528, wie hier am Schlüsse des Z 65 wiederkehrt." Man sieht hieraus, welchen tiefen Eindruck das Lesen des Schopenhauerschen Buches auf Goethe gemacht haben muß. Daß endlich auch Schopenhauers Ethik den „Meister" nicht unberührt ließ, ist schon angedeutet worden. Goethe war nicht Pessimist wie Schopenhauer und Byron, aber er war auch nicht Optimist um jeden Preis wie sein Egmont, sondern hielt sich als aufmerksamer Beobachter und rüstiger Arbeiter in der Mitte zwischen den Extremen. „Wir mögen die Welt kennen lernen, wie wir wollen," lautet eine seiner „Maximen," „sie wird immer eine Tag- und Nacht¬ seite behalten." Er unterschied scharf Natur und Menschenwelt. Die Natur war ihm immer ehrwürdig, interessant und rein, über die sittlichen Mängel der Menschen hatte er schon in der Jugend geklagt, im Alter stieg die Mißachtung der Durchschnittscharaktere infolge der Übeln Erfahrungen, die er mit seiner Farbenlehre machte. Über die Beschwerlichkeit des Erdenlebens setzte er sich mutig hinweg, trug das eigne Leid mit heroischer Standhaftigkeit und suchte die allgemeine Not zu lindern, so gut er konnte. Die erhabene Heiterkeit seines Wesens beruhte außerdem auf dem festen Glauben, daß eine gütige Vorsehung jeden seiner Schritte lenke und alles zum Besten wende. Für den radikalen Pessimismus Schopenhauers und Byrons hatte er in seinem Herzen keinen Raum, aber sein Verstand versagte demselben nicht die Berechtigung: er verehrte Byron und er geriet im letzten Jahrzehnt sehr leicht in die Gedankenrichtung Schopenhauers. Ganz im Geiste der Schopenhauerschen Philosophie sagt er in den „Betrach¬ tungen im Sinne der Wandrer": „Die Menschheit ist bedingt durch Bedürf¬ nisse. Sind diese nicht befriedigt, so erweist sie sich ungeduldig, sind sie be¬ friedigt, so erscheint sie gleichgiltig. Der eigentliche Mensch bewegt sich also zwischen beiden Zuständen, und seinen Verstand, den sogenannten Menschenver¬ stand, wird er anwenden, seine Bedürfnisse zu befriedigen; ist es geschehen, so hat er die Aufgabe, den Raum der Gleichgiltigkeit auszufüllen. Beschränkt sich dieses in die nächsten und notwendigsten Grenzen, so gelingt es ihm auch. Erheben sich aber die Bedürfnisse, treten sie aus dem Kreise des Gemeinen her¬ aus, so ist der Gemeinverstand nicht mehr hinreichend, er ist kein Genius mehr, die Region des Irrtums ist der Menschheit aufgethan." Der Schlüssel zu diesen Worten findet sich in dem Hauptwerke Schopen¬ hauers und zwar im zweiten und dritten Buche des ersten Bandes; da heißt es z. B: „Die Erkenntnis überhaupt, vernünftige sowohl als bloß anschauliche, geht ursprünglich aus dem Willen selbst hervor, gehört zum Wesen der höhern Stufen seiner Objektivation, als ein Mittel zur Erhaltung des Individuums und der Art, so gut wie jedes Organ des Leibes. Ursprünglich also zum Dienste des Willens, zur Vollbringung seiner Zwecke bestimmt, bleibt sie ihm auch fast durchgängig dienstbar, so in allen Tieren und beinahe in allen Menschen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434/184>, abgerufen am 22.07.2024.