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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr.

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Die Grenzen des naturwissenschaftlichen Erkennen?.

handeln. Er wird vielmehr den Kantischen Satz als ein Axiom, das keines
Beweises bedarf, ansehen: "Was ich soll, das muß ich auch können." Er wird
das ebensowenig beweisen wollen, als wie man ein mathematisches Axiom
beweisen will und kann. Auch wird im Leben darnach gehandelt. Jeder
Richter wird den, der sich für seine Frevelthat etwa auf die Unfreiheit seines
Willens, auf seine so bestimmte Natur berufen wollte, verurteilen und bestrafen,
ohne dieser Berufung im geringsten einen Wert beizulegen, einfach deshalb,
weil es das Recht, d. h. der Bestand des Staates als einer sittlichen
Ordnung so verlangt. Gerade weil das Recht, wie alle sittlichen Ordnungen,
wie der Staat selbst, keinen Beweis für ihr Dasein weiter brauchen, darum
reden wir von ihnen als von göttlichen Ordnungen, wie Antigone so schön
sagte, von "ungeschriebenen Gesetzen."

Mit dieser Anerkennung von gut und böse, ohne die ein Kulturleben
überhaupt nicht möglich ist, die wir so notwendig brauchen, wie das liebe
Brot, die zwar nicht verstandesmäßig, mathematisch beweisbar, aber ein Axiom,
eine Grundanschauung des Geistes ist, und mit diesem Begriffe der Freiheit als
der Kraft zum Guten, einem Begriffe, der mit jener Grundanschauung zugleich
gesetzt ist, treten wir in eine neue Welt, in die Welt der Zwecke. Von dieser
Welt wollen die Materialisten unter den Naturwissenschaftern natürlich nichts
wissen. Denn mit dem Zwecke ist eine höhere Realität als die bloß natürliche
gegeben, eine Realität, die gerade so objektiv, so gegenständlich ist, wie die der
sinnlich wahrnehmbaren Welt. Ist doch der Zweck, überhaupt die Welt der
Idee, durchaus real, auch wo sie sich noch nicht sinnlich wahrnehmbar gestaltet.
Das ist gar nichts Absonderliches. So lange es erst Pflanzen gab, war das
tierische Leben auch noch nicht gestaltet und hatte doch als Zukunft der Pflanzen¬
welt eine Realität, die höher war als die der Pflanze; ganz dasselbe ist vom
Tiere zu sagen, das im Menschen seine Realität und seinen gegenständlichen
Zweck hatte, schon ehe der Mensch in's Dasein getreten war. In gleicher
Weise hat der natürlich irdische Mensch seine höhere Realität in dem sittlich¬
geistigen, wie der Apostel Paulus ihn nennt, dem pneumatischen Menschen,
eine Realität, die freilich noch nicht geschaut, auch hier auf Erden noch nicht
vollendet wird, die aber in der Freiheit bereits begründet ist und das Wesen
der Persönlichkeit bildet. Die Freiheit ist an sich schon eine höhere Stufe des
Lebens, gegeben, um die unfreie Natur zur Vollendung zu führen. Das würde
aber durch Entwicklung in einem bloßen Naturprozeß gar nicht möglich sein.
Mit der Freiheit offenbart sich vielmehr ein neues Gesetz, das Gesetz des Geistes,
eine höhere Ordnung der Dinge. Alle Beseligung des Menschen kommt ihm nur,
wenn und so weit er dies Gesetz walten läßt. Das Christentum nennt es das
Gesetz der Liebe, das "neue Gebot." Nur dürfen wir den Begriff der Liebe
nicht auf den der Neigung beschränken; er faßt vielmehr den der Treue auf
dem ganzen Gebiete der Sittlichkeit in sich, also die gewissenhafte Pflicht-


Die Grenzen des naturwissenschaftlichen Erkennen?.

handeln. Er wird vielmehr den Kantischen Satz als ein Axiom, das keines
Beweises bedarf, ansehen: „Was ich soll, das muß ich auch können." Er wird
das ebensowenig beweisen wollen, als wie man ein mathematisches Axiom
beweisen will und kann. Auch wird im Leben darnach gehandelt. Jeder
Richter wird den, der sich für seine Frevelthat etwa auf die Unfreiheit seines
Willens, auf seine so bestimmte Natur berufen wollte, verurteilen und bestrafen,
ohne dieser Berufung im geringsten einen Wert beizulegen, einfach deshalb,
weil es das Recht, d. h. der Bestand des Staates als einer sittlichen
Ordnung so verlangt. Gerade weil das Recht, wie alle sittlichen Ordnungen,
wie der Staat selbst, keinen Beweis für ihr Dasein weiter brauchen, darum
reden wir von ihnen als von göttlichen Ordnungen, wie Antigone so schön
sagte, von „ungeschriebenen Gesetzen."

Mit dieser Anerkennung von gut und böse, ohne die ein Kulturleben
überhaupt nicht möglich ist, die wir so notwendig brauchen, wie das liebe
Brot, die zwar nicht verstandesmäßig, mathematisch beweisbar, aber ein Axiom,
eine Grundanschauung des Geistes ist, und mit diesem Begriffe der Freiheit als
der Kraft zum Guten, einem Begriffe, der mit jener Grundanschauung zugleich
gesetzt ist, treten wir in eine neue Welt, in die Welt der Zwecke. Von dieser
Welt wollen die Materialisten unter den Naturwissenschaftern natürlich nichts
wissen. Denn mit dem Zwecke ist eine höhere Realität als die bloß natürliche
gegeben, eine Realität, die gerade so objektiv, so gegenständlich ist, wie die der
sinnlich wahrnehmbaren Welt. Ist doch der Zweck, überhaupt die Welt der
Idee, durchaus real, auch wo sie sich noch nicht sinnlich wahrnehmbar gestaltet.
Das ist gar nichts Absonderliches. So lange es erst Pflanzen gab, war das
tierische Leben auch noch nicht gestaltet und hatte doch als Zukunft der Pflanzen¬
welt eine Realität, die höher war als die der Pflanze; ganz dasselbe ist vom
Tiere zu sagen, das im Menschen seine Realität und seinen gegenständlichen
Zweck hatte, schon ehe der Mensch in's Dasein getreten war. In gleicher
Weise hat der natürlich irdische Mensch seine höhere Realität in dem sittlich¬
geistigen, wie der Apostel Paulus ihn nennt, dem pneumatischen Menschen,
eine Realität, die freilich noch nicht geschaut, auch hier auf Erden noch nicht
vollendet wird, die aber in der Freiheit bereits begründet ist und das Wesen
der Persönlichkeit bildet. Die Freiheit ist an sich schon eine höhere Stufe des
Lebens, gegeben, um die unfreie Natur zur Vollendung zu führen. Das würde
aber durch Entwicklung in einem bloßen Naturprozeß gar nicht möglich sein.
Mit der Freiheit offenbart sich vielmehr ein neues Gesetz, das Gesetz des Geistes,
eine höhere Ordnung der Dinge. Alle Beseligung des Menschen kommt ihm nur,
wenn und so weit er dies Gesetz walten läßt. Das Christentum nennt es das
Gesetz der Liebe, das „neue Gebot." Nur dürfen wir den Begriff der Liebe
nicht auf den der Neigung beschränken; er faßt vielmehr den der Treue auf
dem ganzen Gebiete der Sittlichkeit in sich, also die gewissenhafte Pflicht-


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[0168] Die Grenzen des naturwissenschaftlichen Erkennen?. handeln. Er wird vielmehr den Kantischen Satz als ein Axiom, das keines Beweises bedarf, ansehen: „Was ich soll, das muß ich auch können." Er wird das ebensowenig beweisen wollen, als wie man ein mathematisches Axiom beweisen will und kann. Auch wird im Leben darnach gehandelt. Jeder Richter wird den, der sich für seine Frevelthat etwa auf die Unfreiheit seines Willens, auf seine so bestimmte Natur berufen wollte, verurteilen und bestrafen, ohne dieser Berufung im geringsten einen Wert beizulegen, einfach deshalb, weil es das Recht, d. h. der Bestand des Staates als einer sittlichen Ordnung so verlangt. Gerade weil das Recht, wie alle sittlichen Ordnungen, wie der Staat selbst, keinen Beweis für ihr Dasein weiter brauchen, darum reden wir von ihnen als von göttlichen Ordnungen, wie Antigone so schön sagte, von „ungeschriebenen Gesetzen." Mit dieser Anerkennung von gut und böse, ohne die ein Kulturleben überhaupt nicht möglich ist, die wir so notwendig brauchen, wie das liebe Brot, die zwar nicht verstandesmäßig, mathematisch beweisbar, aber ein Axiom, eine Grundanschauung des Geistes ist, und mit diesem Begriffe der Freiheit als der Kraft zum Guten, einem Begriffe, der mit jener Grundanschauung zugleich gesetzt ist, treten wir in eine neue Welt, in die Welt der Zwecke. Von dieser Welt wollen die Materialisten unter den Naturwissenschaftern natürlich nichts wissen. Denn mit dem Zwecke ist eine höhere Realität als die bloß natürliche gegeben, eine Realität, die gerade so objektiv, so gegenständlich ist, wie die der sinnlich wahrnehmbaren Welt. Ist doch der Zweck, überhaupt die Welt der Idee, durchaus real, auch wo sie sich noch nicht sinnlich wahrnehmbar gestaltet. Das ist gar nichts Absonderliches. So lange es erst Pflanzen gab, war das tierische Leben auch noch nicht gestaltet und hatte doch als Zukunft der Pflanzen¬ welt eine Realität, die höher war als die der Pflanze; ganz dasselbe ist vom Tiere zu sagen, das im Menschen seine Realität und seinen gegenständlichen Zweck hatte, schon ehe der Mensch in's Dasein getreten war. In gleicher Weise hat der natürlich irdische Mensch seine höhere Realität in dem sittlich¬ geistigen, wie der Apostel Paulus ihn nennt, dem pneumatischen Menschen, eine Realität, die freilich noch nicht geschaut, auch hier auf Erden noch nicht vollendet wird, die aber in der Freiheit bereits begründet ist und das Wesen der Persönlichkeit bildet. Die Freiheit ist an sich schon eine höhere Stufe des Lebens, gegeben, um die unfreie Natur zur Vollendung zu führen. Das würde aber durch Entwicklung in einem bloßen Naturprozeß gar nicht möglich sein. Mit der Freiheit offenbart sich vielmehr ein neues Gesetz, das Gesetz des Geistes, eine höhere Ordnung der Dinge. Alle Beseligung des Menschen kommt ihm nur, wenn und so weit er dies Gesetz walten läßt. Das Christentum nennt es das Gesetz der Liebe, das „neue Gebot." Nur dürfen wir den Begriff der Liebe nicht auf den der Neigung beschränken; er faßt vielmehr den der Treue auf dem ganzen Gebiete der Sittlichkeit in sich, also die gewissenhafte Pflicht-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434/168>, abgerufen am 02.10.2024.