Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr.Die Grenzen des naturwissenschaftlichen Grkennens. zuHeben. Die ganze Sozialdemokratie denkt heute so. Wenn die Gesellschaft Und da wird nun kein Mensch, der noch einen Unterschied von gut und Die Grenzen des naturwissenschaftlichen Grkennens. zuHeben. Die ganze Sozialdemokratie denkt heute so. Wenn die Gesellschaft Und da wird nun kein Mensch, der noch einen Unterschied von gut und <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0167" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/203602"/> <fw type="header" place="top"> Die Grenzen des naturwissenschaftlichen Grkennens.</fw><lb/> <p xml:id="ID_376" prev="#ID_375"> zuHeben. Die ganze Sozialdemokratie denkt heute so. Wenn die Gesellschaft<lb/> etwa noch meint, sich schützen zu müssen, so mag sie vorbeugende Anstalten er¬<lb/> richten, aber zu Strafanstalten hat sie kein Recht. Freilich, wenn diese vor¬<lb/> beugenden Anstalten irgend etwas Schlimmes — Böses kann man nicht mehr<lb/> sagen — verhüten sollen, so wird es ohne Gewaltanwendung nicht abgehen, und<lb/> man sieht nicht ein, worin sie sich dann noch von Strafanstalten unterscheiden.<lb/> Aber mit so kleinlichen Bedenken hielten sich die starken Seelen nicht auf, am<lb/> wenigsten konnten sie dadurch zu einer Revision ihrer Grundbegriffe bewogen<lb/> werden. Heutzutage aber, soweit die Welt nicht sozialdemokratisch ist, ist sie<lb/> doch in ihrem Denken und Sinnen etwas anders geworden, und die Wissen¬<lb/> schaft selbst ist zur Vernunft zurückgekehrt. Hielt man früher auf den Ver¬<lb/> sammlungen der Naturforscher und Ärzte Vorträge über Themata, wie die Ab¬<lb/> stammung des Menschen von dem Affen u. s. w. in der Tendenz des I/Komms<lb/> niÄLUwö, so läßt man jetzt auch bei solchen Vorträgen die Besonnenheit ruhigen<lb/> Forschens zu Worte kommen, respektirt die Schranken des naturwissenschaft¬<lb/> lichen Erkennens und läßt den sittlichen Mächten ihre Geltung. Auf der dies¬<lb/> jährigen Naturforscher- und Ärzteversammlung in Köln trat das recht sichtbar<lb/> zu Tage. Da sprach Professor Binswanger aus Jena über Verbrechen und<lb/> Geistesstörung. Er trat der Ansicht entgegen, daß über die geistige Natur eines<lb/> Menschen Schädelmcssungen und physiognomische Studien ohne weiteres Auf¬<lb/> schluß gäben, und verwarf ausdrücklich den Satz, daß jedes Verbrechen einer<lb/> angebornen geistigen Mißbildung entspringe, deren materielle Ursache aufzu¬<lb/> suchen und zu finden Sache des Gerichtsarztes sei. Er trat dieser Ansicht auch<lb/> darum entgegen, weil das eine Lehre sei, die die Strafen für Verstöße gegen<lb/> das Gesetz vollständig ausschließe. Er hält es für die Pflicht des besonnenen<lb/> Forschers, diesen die Geister verwirrenden Gedanken, die heutzutage besonders<lb/> scharf von dem Italiener Lombroso aufrecht erhalten werden, darum auch scharf<lb/> entgegen zu treten, weil sie sich in die Vroschürenlitteratur verlieren und da<lb/> in weiten Kreisen viel Anhänger gewinnen. Wenn Binswanger in seinem Vor¬<lb/> trage von einer Lehre der Kriminalbiologen redet, die unter dem Anscheine na¬<lb/> turwissenschaftlicher Behandlungsart in den Fehler verfallen, „Erkennen und<lb/> Ursache in einen zu oberflächlichen Zusammenhang zu bringen," d. h. Geistiges<lb/> und Materielles als eins zu setzen, so berührt er hier denselben Fehler, von dem<lb/> wir bisher gesprochen haben, und den diejenigen machen, die wie alle erken¬<lb/> nende Geistesthätigkeit so auch alles Wollen allein an die Materie binden. Wir<lb/> weisen noch einmal hier auf den frühern Satz hin: Sobald wir die Grenzen<lb/> des Naturerkennens respektiren, haben wir nicht nur das Recht, sondern auch,<lb/> die Pflicht, sittliche Fragen aus sittlichem Boden und mit sittlichen Gründen<lb/> zu entscheiden.</p><lb/> <p xml:id="ID_377" next="#ID_378"> Und da wird nun kein Mensch, der noch einen Unterschied von gut und<lb/> böse annimmt, irgendwie zweifeln, daß er auch die Freiheit habe, gut zu</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0167]
Die Grenzen des naturwissenschaftlichen Grkennens.
zuHeben. Die ganze Sozialdemokratie denkt heute so. Wenn die Gesellschaft
etwa noch meint, sich schützen zu müssen, so mag sie vorbeugende Anstalten er¬
richten, aber zu Strafanstalten hat sie kein Recht. Freilich, wenn diese vor¬
beugenden Anstalten irgend etwas Schlimmes — Böses kann man nicht mehr
sagen — verhüten sollen, so wird es ohne Gewaltanwendung nicht abgehen, und
man sieht nicht ein, worin sie sich dann noch von Strafanstalten unterscheiden.
Aber mit so kleinlichen Bedenken hielten sich die starken Seelen nicht auf, am
wenigsten konnten sie dadurch zu einer Revision ihrer Grundbegriffe bewogen
werden. Heutzutage aber, soweit die Welt nicht sozialdemokratisch ist, ist sie
doch in ihrem Denken und Sinnen etwas anders geworden, und die Wissen¬
schaft selbst ist zur Vernunft zurückgekehrt. Hielt man früher auf den Ver¬
sammlungen der Naturforscher und Ärzte Vorträge über Themata, wie die Ab¬
stammung des Menschen von dem Affen u. s. w. in der Tendenz des I/Komms
niÄLUwö, so läßt man jetzt auch bei solchen Vorträgen die Besonnenheit ruhigen
Forschens zu Worte kommen, respektirt die Schranken des naturwissenschaft¬
lichen Erkennens und läßt den sittlichen Mächten ihre Geltung. Auf der dies¬
jährigen Naturforscher- und Ärzteversammlung in Köln trat das recht sichtbar
zu Tage. Da sprach Professor Binswanger aus Jena über Verbrechen und
Geistesstörung. Er trat der Ansicht entgegen, daß über die geistige Natur eines
Menschen Schädelmcssungen und physiognomische Studien ohne weiteres Auf¬
schluß gäben, und verwarf ausdrücklich den Satz, daß jedes Verbrechen einer
angebornen geistigen Mißbildung entspringe, deren materielle Ursache aufzu¬
suchen und zu finden Sache des Gerichtsarztes sei. Er trat dieser Ansicht auch
darum entgegen, weil das eine Lehre sei, die die Strafen für Verstöße gegen
das Gesetz vollständig ausschließe. Er hält es für die Pflicht des besonnenen
Forschers, diesen die Geister verwirrenden Gedanken, die heutzutage besonders
scharf von dem Italiener Lombroso aufrecht erhalten werden, darum auch scharf
entgegen zu treten, weil sie sich in die Vroschürenlitteratur verlieren und da
in weiten Kreisen viel Anhänger gewinnen. Wenn Binswanger in seinem Vor¬
trage von einer Lehre der Kriminalbiologen redet, die unter dem Anscheine na¬
turwissenschaftlicher Behandlungsart in den Fehler verfallen, „Erkennen und
Ursache in einen zu oberflächlichen Zusammenhang zu bringen," d. h. Geistiges
und Materielles als eins zu setzen, so berührt er hier denselben Fehler, von dem
wir bisher gesprochen haben, und den diejenigen machen, die wie alle erken¬
nende Geistesthätigkeit so auch alles Wollen allein an die Materie binden. Wir
weisen noch einmal hier auf den frühern Satz hin: Sobald wir die Grenzen
des Naturerkennens respektiren, haben wir nicht nur das Recht, sondern auch,
die Pflicht, sittliche Fragen aus sittlichem Boden und mit sittlichen Gründen
zu entscheiden.
Und da wird nun kein Mensch, der noch einen Unterschied von gut und
böse annimmt, irgendwie zweifeln, daß er auch die Freiheit habe, gut zu
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