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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr.

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Die Grenzen des naturwissenschaftlichen Lrkennens,

was sich aus dem bis jetzt gesagten für uns ergiebt, und das heißt so: Die
gesamte Körperwelt kann und wird für das naturwissenschaftliche Erkennen
immer verständlicher werden; aber dies Erkennen hat seine Schranken an der
Frage nach dem Begriffe von Materie und Kraft.

Das ist die eine Grenze des Naturerkennens. Die andre Grenze, vor
der wir stehen bleiben müssen, weil sich hier eine "Kluft aufthut, über die kein
Steg, kein Fittig trägt," ist das Bewußtsein. Es ist nicht nur bis jetzt aus
materiellen Bedingungen nicht erklärbar, es wird es nie sein. Wo Dubois-Reymond
in seinem oben citirten Vortrage von Bewußtsein spricht, da will er darunter
nicht bloß die höchste Seelenthätigkeit, vermöge der das Ich sich selbst erfaßt,
verstanden wissen, sondern überhaupt "die Thatsache eines geistigen Vorganges
irgend einer, sei es der niedrigsten Art," auch also das Bewußtsein auf seiner
ersten Stufe, der Sinnesempfindung. "Mit der ersten Regung von Behagen
oder Schmerz, die im Beginne des tierischen Lebens auf Erden ein einfaches
Wesen empfand, ist jene unübersteigliche Kluft gesetzt und die Welt nunmehr
doppelt unbegreiflich geworden." Mir scheint, daß man doch zwischen jener
ersten Stufe der bloßen Sinnesempfindung und jener höchsten des geistigen Er¬
fassens seiner selbst, wodurch die Persönlichkeit selbst damit erst festgestellt wird,
daß das Ich nicht bloß alles Nicht-Ich als sein Du sich gegenüber stellt, sondern
auch sich in sich selbst objektivirt und zum Gegenstande der Betrachtung macht,
einen wesentlichen Unterschied machen muß. Denn mit der bloßen Empfindung
hat man erst den Begriff des Lebens. Leben ist Empfinden; wer also die bloße
Empfindung schon als etwas aus materiellen Bedingungen unbegreifliches, wie
es das allerdings schon ist, auffaßt, der müßte eigentlich eine dreifache Grenze
für das Naturerkennen aufstellen; auch das "Leben" muß ihm, wie gesagt, ein
Unbegreifliches sein. Denn selbst wenn er die Bedingungen allesamt angeben
könnte, unter denen einst Leben möglich wurde, so wird er nie in der ganzen
Reihe lebendiger Wesen den Punkt angeben können, wo sich die potentielle
Energie in die aktuelle, die träge Materie in eine bewegte umsetzte. Dubois-
Neymond hält dagegen die Frage nach dem Entstehen des Lebens nur für ein
überaus schwieriges Problem, das vielleicht auch nie werde gelöst werden, das
aber doch keine Grenze des Naturerkennens sei; "ob das Leben zuerst auf tiefem
Meeresboden als Bathybiusurschleim erschien oder unter Mitwirkung der noch
mehr ultraviolette Strahlen entsendenden Sonne bei noch höherem Partiären
Drucke der Kohlensäure in der Atmosphäre, wer sagt es je?" Aber da wir
jenen Zustand, der angenommen wird, wenn von der mehr ultraviolette Strahlen
entsendenden Sonne :c. die Rede ist, nicht herstellen können, so ist dies auch ein
unbedingtes Hindernis für die Erkenntnis, aus solchen Bedingungen Urzeugung,
Aöllöratio aeauivoog., beobachten zu können. Wie wollen wir aus einem Zustande,
den kein forschendes Auge, weder wenn es sich rückwärts noch wenn es sich
vorwärts wendet, erschauen kann, wie wollen wir da überhaupt wissen, ob Ur-


Die Grenzen des naturwissenschaftlichen Lrkennens,

was sich aus dem bis jetzt gesagten für uns ergiebt, und das heißt so: Die
gesamte Körperwelt kann und wird für das naturwissenschaftliche Erkennen
immer verständlicher werden; aber dies Erkennen hat seine Schranken an der
Frage nach dem Begriffe von Materie und Kraft.

Das ist die eine Grenze des Naturerkennens. Die andre Grenze, vor
der wir stehen bleiben müssen, weil sich hier eine „Kluft aufthut, über die kein
Steg, kein Fittig trägt," ist das Bewußtsein. Es ist nicht nur bis jetzt aus
materiellen Bedingungen nicht erklärbar, es wird es nie sein. Wo Dubois-Reymond
in seinem oben citirten Vortrage von Bewußtsein spricht, da will er darunter
nicht bloß die höchste Seelenthätigkeit, vermöge der das Ich sich selbst erfaßt,
verstanden wissen, sondern überhaupt „die Thatsache eines geistigen Vorganges
irgend einer, sei es der niedrigsten Art," auch also das Bewußtsein auf seiner
ersten Stufe, der Sinnesempfindung. „Mit der ersten Regung von Behagen
oder Schmerz, die im Beginne des tierischen Lebens auf Erden ein einfaches
Wesen empfand, ist jene unübersteigliche Kluft gesetzt und die Welt nunmehr
doppelt unbegreiflich geworden." Mir scheint, daß man doch zwischen jener
ersten Stufe der bloßen Sinnesempfindung und jener höchsten des geistigen Er¬
fassens seiner selbst, wodurch die Persönlichkeit selbst damit erst festgestellt wird,
daß das Ich nicht bloß alles Nicht-Ich als sein Du sich gegenüber stellt, sondern
auch sich in sich selbst objektivirt und zum Gegenstande der Betrachtung macht,
einen wesentlichen Unterschied machen muß. Denn mit der bloßen Empfindung
hat man erst den Begriff des Lebens. Leben ist Empfinden; wer also die bloße
Empfindung schon als etwas aus materiellen Bedingungen unbegreifliches, wie
es das allerdings schon ist, auffaßt, der müßte eigentlich eine dreifache Grenze
für das Naturerkennen aufstellen; auch das „Leben" muß ihm, wie gesagt, ein
Unbegreifliches sein. Denn selbst wenn er die Bedingungen allesamt angeben
könnte, unter denen einst Leben möglich wurde, so wird er nie in der ganzen
Reihe lebendiger Wesen den Punkt angeben können, wo sich die potentielle
Energie in die aktuelle, die träge Materie in eine bewegte umsetzte. Dubois-
Neymond hält dagegen die Frage nach dem Entstehen des Lebens nur für ein
überaus schwieriges Problem, das vielleicht auch nie werde gelöst werden, das
aber doch keine Grenze des Naturerkennens sei; „ob das Leben zuerst auf tiefem
Meeresboden als Bathybiusurschleim erschien oder unter Mitwirkung der noch
mehr ultraviolette Strahlen entsendenden Sonne bei noch höherem Partiären
Drucke der Kohlensäure in der Atmosphäre, wer sagt es je?" Aber da wir
jenen Zustand, der angenommen wird, wenn von der mehr ultraviolette Strahlen
entsendenden Sonne :c. die Rede ist, nicht herstellen können, so ist dies auch ein
unbedingtes Hindernis für die Erkenntnis, aus solchen Bedingungen Urzeugung,
Aöllöratio aeauivoog., beobachten zu können. Wie wollen wir aus einem Zustande,
den kein forschendes Auge, weder wenn es sich rückwärts noch wenn es sich
vorwärts wendet, erschauen kann, wie wollen wir da überhaupt wissen, ob Ur-


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[0164] Die Grenzen des naturwissenschaftlichen Lrkennens, was sich aus dem bis jetzt gesagten für uns ergiebt, und das heißt so: Die gesamte Körperwelt kann und wird für das naturwissenschaftliche Erkennen immer verständlicher werden; aber dies Erkennen hat seine Schranken an der Frage nach dem Begriffe von Materie und Kraft. Das ist die eine Grenze des Naturerkennens. Die andre Grenze, vor der wir stehen bleiben müssen, weil sich hier eine „Kluft aufthut, über die kein Steg, kein Fittig trägt," ist das Bewußtsein. Es ist nicht nur bis jetzt aus materiellen Bedingungen nicht erklärbar, es wird es nie sein. Wo Dubois-Reymond in seinem oben citirten Vortrage von Bewußtsein spricht, da will er darunter nicht bloß die höchste Seelenthätigkeit, vermöge der das Ich sich selbst erfaßt, verstanden wissen, sondern überhaupt „die Thatsache eines geistigen Vorganges irgend einer, sei es der niedrigsten Art," auch also das Bewußtsein auf seiner ersten Stufe, der Sinnesempfindung. „Mit der ersten Regung von Behagen oder Schmerz, die im Beginne des tierischen Lebens auf Erden ein einfaches Wesen empfand, ist jene unübersteigliche Kluft gesetzt und die Welt nunmehr doppelt unbegreiflich geworden." Mir scheint, daß man doch zwischen jener ersten Stufe der bloßen Sinnesempfindung und jener höchsten des geistigen Er¬ fassens seiner selbst, wodurch die Persönlichkeit selbst damit erst festgestellt wird, daß das Ich nicht bloß alles Nicht-Ich als sein Du sich gegenüber stellt, sondern auch sich in sich selbst objektivirt und zum Gegenstande der Betrachtung macht, einen wesentlichen Unterschied machen muß. Denn mit der bloßen Empfindung hat man erst den Begriff des Lebens. Leben ist Empfinden; wer also die bloße Empfindung schon als etwas aus materiellen Bedingungen unbegreifliches, wie es das allerdings schon ist, auffaßt, der müßte eigentlich eine dreifache Grenze für das Naturerkennen aufstellen; auch das „Leben" muß ihm, wie gesagt, ein Unbegreifliches sein. Denn selbst wenn er die Bedingungen allesamt angeben könnte, unter denen einst Leben möglich wurde, so wird er nie in der ganzen Reihe lebendiger Wesen den Punkt angeben können, wo sich die potentielle Energie in die aktuelle, die träge Materie in eine bewegte umsetzte. Dubois- Neymond hält dagegen die Frage nach dem Entstehen des Lebens nur für ein überaus schwieriges Problem, das vielleicht auch nie werde gelöst werden, das aber doch keine Grenze des Naturerkennens sei; „ob das Leben zuerst auf tiefem Meeresboden als Bathybiusurschleim erschien oder unter Mitwirkung der noch mehr ultraviolette Strahlen entsendenden Sonne bei noch höherem Partiären Drucke der Kohlensäure in der Atmosphäre, wer sagt es je?" Aber da wir jenen Zustand, der angenommen wird, wenn von der mehr ultraviolette Strahlen entsendenden Sonne :c. die Rede ist, nicht herstellen können, so ist dies auch ein unbedingtes Hindernis für die Erkenntnis, aus solchen Bedingungen Urzeugung, Aöllöratio aeauivoog., beobachten zu können. Wie wollen wir aus einem Zustande, den kein forschendes Auge, weder wenn es sich rückwärts noch wenn es sich vorwärts wendet, erschauen kann, wie wollen wir da überhaupt wissen, ob Ur-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434/164>, abgerufen am 25.07.2024.