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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr.

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Volk und Nation.

ein umfassendes Ganze bedeutet. War mit der Bezeichnung Volk häufig
eine herabsetzende Bedeutung verbunden, so verlangte man nach einem Worte,
das immer und überall seine volle Würde behauptete. Insbesondre machte
dieses Bedürfnis sich geltend, seit die Völker anfingen, mit bewußter Selb¬
ständigkeit ihren Platz in der Weltgeschichte zu beanspruchen, seit sie von der
Leidenschaft ergriffen wurden, als Kulturmächte die Besonderheit ihres geistigen
Wesens auf allen Lebensgebieten zur Geltung zu bringen, seit das Nationalitäts¬
prinzip anfing zum herrschenden in der geschichtlichen Entwicklung zu werden.
Als Nationen bezeichnen sich jetzt diejenigen Völker und wollen die Völker
bezeichnet sein, die den Anspruch erheben, sich eigenartige und umfassende Kultur¬
aufgaben zu stellen und diese in voller Selbständigkeit zu lösen. Daher liegt
in dem Worte Nation etwas Auszeichnendes, schmeichelhaftes, das die rheto¬
rische Verwendung begünstigt. Diesem Gebrauche kommt überdies noch der
volle Ton auf der letzten Silbe in besondrer Weise zu statten. So sagte denn
Heinrich von Gagern in seiner berühmten Erklärung, die auf Grund der Volks¬
souveränität dem Frankfurter Parlamente das Recht einer verfassunggebenden
Versammlung zusprach: "Der Beruf und die Vollmacht zu dieser Schaffung,
sie liegen in der Souveränität der Nation." Damit war unzweideutig das
ganze Deutschland bezeichnet, zugleich lag in dem Ausdrucke ein Hinweis auf
den selbständigen, unabhängigen Willen, der jetzt das deutsche Volk auszeichne.
Schon einige Wochen vorher, ehe Gagern das souveräne Recht der deutschen
"Nationalvertretung" zur Schaffung einer Reichsverfassung behauptete, hatte
der Vertreter der alten Zeit, Fürst Metternich, der früher auch von einem
deutschen Volke nichts hatte hören wollen, in einer Zirkulardepesche von der Not¬
wendigkeit gesprochen, Maßregeln zu treffen zur Befriedigung gerechter Wünsche
der "Nation." Seit dem 24. Februar 1843 erschien es auch der Diplomatie
der alten Schule als ein Gebot zeitgemäßer Höflichkeit, das deutsche Volk mit
"Nation" anzureden. Wohl ist es ganz erlaubt, passend, ja da, wo nüchterner
juristischer Ausdruck seine Stelle hat, sogar geboten, die Gesamtheit der politisch
geeinten Deutschen als deutsches Volk zu bezeichnen, aber wir werden auch
ohne Bedenken von einem preußischen, württembergischen Volke, ja von einem
Volke von Koburg und einem Volke von Berlin sprechen. Eine Nation aber
ist das deutsche Volk, soweit es den deutschen Kaiser als nationales Oberhaupt
über sich hat. In der Blütezeit des Partikularismus hat man vielfach den
Versuch gemacht, den partikularstaatlichen Bevölkerungen einen besondern Stolz
oder auch Dünkel einzupflanzen, indem man sie als Nationen bezeichnete.
Preußens Größe und Bedeutung gestattete auch, daß von einer preußischen
Nation, einer preußischen Nationalversammlung ohne Ironie gesprochen wurde,
während eine Nationalhymne von Sachsen-Altenburg außerhalb der Grenzen
dieses Reiches kaum ohne Lächeln genannt werden konnte. Heute ist als Er¬
innerung an die einstige preußische "Nation" etwa noch die Nationalkokarde


Volk und Nation.

ein umfassendes Ganze bedeutet. War mit der Bezeichnung Volk häufig
eine herabsetzende Bedeutung verbunden, so verlangte man nach einem Worte,
das immer und überall seine volle Würde behauptete. Insbesondre machte
dieses Bedürfnis sich geltend, seit die Völker anfingen, mit bewußter Selb¬
ständigkeit ihren Platz in der Weltgeschichte zu beanspruchen, seit sie von der
Leidenschaft ergriffen wurden, als Kulturmächte die Besonderheit ihres geistigen
Wesens auf allen Lebensgebieten zur Geltung zu bringen, seit das Nationalitäts¬
prinzip anfing zum herrschenden in der geschichtlichen Entwicklung zu werden.
Als Nationen bezeichnen sich jetzt diejenigen Völker und wollen die Völker
bezeichnet sein, die den Anspruch erheben, sich eigenartige und umfassende Kultur¬
aufgaben zu stellen und diese in voller Selbständigkeit zu lösen. Daher liegt
in dem Worte Nation etwas Auszeichnendes, schmeichelhaftes, das die rheto¬
rische Verwendung begünstigt. Diesem Gebrauche kommt überdies noch der
volle Ton auf der letzten Silbe in besondrer Weise zu statten. So sagte denn
Heinrich von Gagern in seiner berühmten Erklärung, die auf Grund der Volks¬
souveränität dem Frankfurter Parlamente das Recht einer verfassunggebenden
Versammlung zusprach: „Der Beruf und die Vollmacht zu dieser Schaffung,
sie liegen in der Souveränität der Nation." Damit war unzweideutig das
ganze Deutschland bezeichnet, zugleich lag in dem Ausdrucke ein Hinweis auf
den selbständigen, unabhängigen Willen, der jetzt das deutsche Volk auszeichne.
Schon einige Wochen vorher, ehe Gagern das souveräne Recht der deutschen
„Nationalvertretung" zur Schaffung einer Reichsverfassung behauptete, hatte
der Vertreter der alten Zeit, Fürst Metternich, der früher auch von einem
deutschen Volke nichts hatte hören wollen, in einer Zirkulardepesche von der Not¬
wendigkeit gesprochen, Maßregeln zu treffen zur Befriedigung gerechter Wünsche
der „Nation." Seit dem 24. Februar 1843 erschien es auch der Diplomatie
der alten Schule als ein Gebot zeitgemäßer Höflichkeit, das deutsche Volk mit
„Nation" anzureden. Wohl ist es ganz erlaubt, passend, ja da, wo nüchterner
juristischer Ausdruck seine Stelle hat, sogar geboten, die Gesamtheit der politisch
geeinten Deutschen als deutsches Volk zu bezeichnen, aber wir werden auch
ohne Bedenken von einem preußischen, württembergischen Volke, ja von einem
Volke von Koburg und einem Volke von Berlin sprechen. Eine Nation aber
ist das deutsche Volk, soweit es den deutschen Kaiser als nationales Oberhaupt
über sich hat. In der Blütezeit des Partikularismus hat man vielfach den
Versuch gemacht, den partikularstaatlichen Bevölkerungen einen besondern Stolz
oder auch Dünkel einzupflanzen, indem man sie als Nationen bezeichnete.
Preußens Größe und Bedeutung gestattete auch, daß von einer preußischen
Nation, einer preußischen Nationalversammlung ohne Ironie gesprochen wurde,
während eine Nationalhymne von Sachsen-Altenburg außerhalb der Grenzen
dieses Reiches kaum ohne Lächeln genannt werden konnte. Heute ist als Er¬
innerung an die einstige preußische „Nation" etwa noch die Nationalkokarde


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[0156] Volk und Nation. ein umfassendes Ganze bedeutet. War mit der Bezeichnung Volk häufig eine herabsetzende Bedeutung verbunden, so verlangte man nach einem Worte, das immer und überall seine volle Würde behauptete. Insbesondre machte dieses Bedürfnis sich geltend, seit die Völker anfingen, mit bewußter Selb¬ ständigkeit ihren Platz in der Weltgeschichte zu beanspruchen, seit sie von der Leidenschaft ergriffen wurden, als Kulturmächte die Besonderheit ihres geistigen Wesens auf allen Lebensgebieten zur Geltung zu bringen, seit das Nationalitäts¬ prinzip anfing zum herrschenden in der geschichtlichen Entwicklung zu werden. Als Nationen bezeichnen sich jetzt diejenigen Völker und wollen die Völker bezeichnet sein, die den Anspruch erheben, sich eigenartige und umfassende Kultur¬ aufgaben zu stellen und diese in voller Selbständigkeit zu lösen. Daher liegt in dem Worte Nation etwas Auszeichnendes, schmeichelhaftes, das die rheto¬ rische Verwendung begünstigt. Diesem Gebrauche kommt überdies noch der volle Ton auf der letzten Silbe in besondrer Weise zu statten. So sagte denn Heinrich von Gagern in seiner berühmten Erklärung, die auf Grund der Volks¬ souveränität dem Frankfurter Parlamente das Recht einer verfassunggebenden Versammlung zusprach: „Der Beruf und die Vollmacht zu dieser Schaffung, sie liegen in der Souveränität der Nation." Damit war unzweideutig das ganze Deutschland bezeichnet, zugleich lag in dem Ausdrucke ein Hinweis auf den selbständigen, unabhängigen Willen, der jetzt das deutsche Volk auszeichne. Schon einige Wochen vorher, ehe Gagern das souveräne Recht der deutschen „Nationalvertretung" zur Schaffung einer Reichsverfassung behauptete, hatte der Vertreter der alten Zeit, Fürst Metternich, der früher auch von einem deutschen Volke nichts hatte hören wollen, in einer Zirkulardepesche von der Not¬ wendigkeit gesprochen, Maßregeln zu treffen zur Befriedigung gerechter Wünsche der „Nation." Seit dem 24. Februar 1843 erschien es auch der Diplomatie der alten Schule als ein Gebot zeitgemäßer Höflichkeit, das deutsche Volk mit „Nation" anzureden. Wohl ist es ganz erlaubt, passend, ja da, wo nüchterner juristischer Ausdruck seine Stelle hat, sogar geboten, die Gesamtheit der politisch geeinten Deutschen als deutsches Volk zu bezeichnen, aber wir werden auch ohne Bedenken von einem preußischen, württembergischen Volke, ja von einem Volke von Koburg und einem Volke von Berlin sprechen. Eine Nation aber ist das deutsche Volk, soweit es den deutschen Kaiser als nationales Oberhaupt über sich hat. In der Blütezeit des Partikularismus hat man vielfach den Versuch gemacht, den partikularstaatlichen Bevölkerungen einen besondern Stolz oder auch Dünkel einzupflanzen, indem man sie als Nationen bezeichnete. Preußens Größe und Bedeutung gestattete auch, daß von einer preußischen Nation, einer preußischen Nationalversammlung ohne Ironie gesprochen wurde, während eine Nationalhymne von Sachsen-Altenburg außerhalb der Grenzen dieses Reiches kaum ohne Lächeln genannt werden konnte. Heute ist als Er¬ innerung an die einstige preußische „Nation" etwa noch die Nationalkokarde

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434/156>, abgerufen am 04.07.2024.