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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr.

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Goethe und Schopenhauer.

die ewige Ruhe im indifferenten Gründe des Seins, im "Nirwana," das einzig
Wünschenswerte sei. Sie wird vollzogen durch eine ascetische Überwindung der
Welt, durch Verzichtleistung auf alle irdischen Wünsche, durch freiwillige Über¬
nahme aller Leiden der Erde. Der Weltüberwinder stirbt, ehe der leibliche
Tod eintritt und sinkt für ewig hinab in den von allem Streben und allem
Schein abgewandten Urgrund der Wesen. Es liegt auf der Hand, daß diese
ascetische Seite der Schopenhauerschen Ethik verwandt ist mit der weltent¬
sagenden Tendenz des neuen Testaments. Daher ist ihm auch Christus, der
menschgewordene Gott, der leidende Überwinder der Sünde und der Not, wohl
verständlich. Aber was ist für ihn die Gottesidee, wo bleibt der schaffende,
erhaltende, rettende Gott? Schopenhauer verweist die Idee des persönlichen
Gottes kurzer Hand in das Glaubensgebict, man könnte auch sagen, in das
Gebiet der Mythologie, verwahrt sich aber entschieden dagegen, daß dieser
Begriff auf eine metaphysische Giltigkeit Anspruch machen könne. Der Begriff
des persönlichen Gottes sei jüdischen Ursprunges und im neuen Testamente nur
unter Akkomodation an die jüdische Auffassung festgehalten worden, leide aber
an innern Widersprüchen, die weder die Autorität der Kirche noch die grübelnde
Dogmatik zu lösen vermöge. Ein allmächtiger Schöpfer, der aus eignem
Antriebe eine Welt voll sündlicher Triebe und unverschuldeter Not ins Dasein
gerufen habe, könne unmöglich seine eignen unvollkommnen Geschöpfe verant¬
wortlich machen und dem grenzenlosen Elend ruhig zusehen, ohne mit seinen
übrigen göttliche" Eigenschaften, der Allweisheit, Allgüte, Allgerechtigkeit in
Konflikt zu gerate". Die biblische Erklärung der göttlichen Vorsehung: Meine
Gedanken sind nicht eure Gedanken und meine Wege sind nicht eure Wege,
sind für ihn, den Kritiker und MetaPhysiker, nur die Bloßlegung, nicht die
Lösung des Rätsels. Deshalb weist er die Idee des persönlichen Gottes aus
der Philosophie hinweg und lobt die Buddhisten, welche von dem jüdisch¬
christlichen Gotte nichts wissen wollen.

Und doch hätte Schopenhauer, der der christlichen Weltanschauung so nahe
steht, wie kaum ein andrer Philosoph, die Gottesidee sehr leicht anch auf seinem
Wege finden können. Zwischen die beiden Pole des Weltganzen, die ewige
Nuhe und den ruhelosen Willen zum Leben setzt er als Mittler und Ausgleichcr
die Platonischen Ideen, d. i. die Gattungsbegriffe als reine Anschauungsformen,
die Urbilder der Wesen. Es sind die Pforten, durch die hindurch der zügel¬
lose Wille zum Leben ans dem Grunde des Seins in die Welt der Erschei¬
nung hinaus stürmt, und unverrückbar stehen sie über dem Strome des Werdens
wie der Regenbogen über dem Wasserfalle, wie der Lichtstrahl, der auf ein
rollendes Rad fällt. Nur dem Auserwühlten, dem es gelingt, mittels eines
hochgesteigerten geistigen Lebens oder in der weihevollen Stimmung kindlicher
Naivität alle irdischen Wünsche, alle Beziehungen der Dinge auf seine enge
Persönlichkeit zum Schweigen zu bringen, ist es vergönnt, diese Urbilder arm-


Goethe und Schopenhauer.

die ewige Ruhe im indifferenten Gründe des Seins, im „Nirwana," das einzig
Wünschenswerte sei. Sie wird vollzogen durch eine ascetische Überwindung der
Welt, durch Verzichtleistung auf alle irdischen Wünsche, durch freiwillige Über¬
nahme aller Leiden der Erde. Der Weltüberwinder stirbt, ehe der leibliche
Tod eintritt und sinkt für ewig hinab in den von allem Streben und allem
Schein abgewandten Urgrund der Wesen. Es liegt auf der Hand, daß diese
ascetische Seite der Schopenhauerschen Ethik verwandt ist mit der weltent¬
sagenden Tendenz des neuen Testaments. Daher ist ihm auch Christus, der
menschgewordene Gott, der leidende Überwinder der Sünde und der Not, wohl
verständlich. Aber was ist für ihn die Gottesidee, wo bleibt der schaffende,
erhaltende, rettende Gott? Schopenhauer verweist die Idee des persönlichen
Gottes kurzer Hand in das Glaubensgebict, man könnte auch sagen, in das
Gebiet der Mythologie, verwahrt sich aber entschieden dagegen, daß dieser
Begriff auf eine metaphysische Giltigkeit Anspruch machen könne. Der Begriff
des persönlichen Gottes sei jüdischen Ursprunges und im neuen Testamente nur
unter Akkomodation an die jüdische Auffassung festgehalten worden, leide aber
an innern Widersprüchen, die weder die Autorität der Kirche noch die grübelnde
Dogmatik zu lösen vermöge. Ein allmächtiger Schöpfer, der aus eignem
Antriebe eine Welt voll sündlicher Triebe und unverschuldeter Not ins Dasein
gerufen habe, könne unmöglich seine eignen unvollkommnen Geschöpfe verant¬
wortlich machen und dem grenzenlosen Elend ruhig zusehen, ohne mit seinen
übrigen göttliche» Eigenschaften, der Allweisheit, Allgüte, Allgerechtigkeit in
Konflikt zu gerate». Die biblische Erklärung der göttlichen Vorsehung: Meine
Gedanken sind nicht eure Gedanken und meine Wege sind nicht eure Wege,
sind für ihn, den Kritiker und MetaPhysiker, nur die Bloßlegung, nicht die
Lösung des Rätsels. Deshalb weist er die Idee des persönlichen Gottes aus
der Philosophie hinweg und lobt die Buddhisten, welche von dem jüdisch¬
christlichen Gotte nichts wissen wollen.

Und doch hätte Schopenhauer, der der christlichen Weltanschauung so nahe
steht, wie kaum ein andrer Philosoph, die Gottesidee sehr leicht anch auf seinem
Wege finden können. Zwischen die beiden Pole des Weltganzen, die ewige
Nuhe und den ruhelosen Willen zum Leben setzt er als Mittler und Ausgleichcr
die Platonischen Ideen, d. i. die Gattungsbegriffe als reine Anschauungsformen,
die Urbilder der Wesen. Es sind die Pforten, durch die hindurch der zügel¬
lose Wille zum Leben ans dem Grunde des Seins in die Welt der Erschei¬
nung hinaus stürmt, und unverrückbar stehen sie über dem Strome des Werdens
wie der Regenbogen über dem Wasserfalle, wie der Lichtstrahl, der auf ein
rollendes Rad fällt. Nur dem Auserwühlten, dem es gelingt, mittels eines
hochgesteigerten geistigen Lebens oder in der weihevollen Stimmung kindlicher
Naivität alle irdischen Wünsche, alle Beziehungen der Dinge auf seine enge
Persönlichkeit zum Schweigen zu bringen, ist es vergönnt, diese Urbilder arm-


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[0131] Goethe und Schopenhauer. die ewige Ruhe im indifferenten Gründe des Seins, im „Nirwana," das einzig Wünschenswerte sei. Sie wird vollzogen durch eine ascetische Überwindung der Welt, durch Verzichtleistung auf alle irdischen Wünsche, durch freiwillige Über¬ nahme aller Leiden der Erde. Der Weltüberwinder stirbt, ehe der leibliche Tod eintritt und sinkt für ewig hinab in den von allem Streben und allem Schein abgewandten Urgrund der Wesen. Es liegt auf der Hand, daß diese ascetische Seite der Schopenhauerschen Ethik verwandt ist mit der weltent¬ sagenden Tendenz des neuen Testaments. Daher ist ihm auch Christus, der menschgewordene Gott, der leidende Überwinder der Sünde und der Not, wohl verständlich. Aber was ist für ihn die Gottesidee, wo bleibt der schaffende, erhaltende, rettende Gott? Schopenhauer verweist die Idee des persönlichen Gottes kurzer Hand in das Glaubensgebict, man könnte auch sagen, in das Gebiet der Mythologie, verwahrt sich aber entschieden dagegen, daß dieser Begriff auf eine metaphysische Giltigkeit Anspruch machen könne. Der Begriff des persönlichen Gottes sei jüdischen Ursprunges und im neuen Testamente nur unter Akkomodation an die jüdische Auffassung festgehalten worden, leide aber an innern Widersprüchen, die weder die Autorität der Kirche noch die grübelnde Dogmatik zu lösen vermöge. Ein allmächtiger Schöpfer, der aus eignem Antriebe eine Welt voll sündlicher Triebe und unverschuldeter Not ins Dasein gerufen habe, könne unmöglich seine eignen unvollkommnen Geschöpfe verant¬ wortlich machen und dem grenzenlosen Elend ruhig zusehen, ohne mit seinen übrigen göttliche» Eigenschaften, der Allweisheit, Allgüte, Allgerechtigkeit in Konflikt zu gerate». Die biblische Erklärung der göttlichen Vorsehung: Meine Gedanken sind nicht eure Gedanken und meine Wege sind nicht eure Wege, sind für ihn, den Kritiker und MetaPhysiker, nur die Bloßlegung, nicht die Lösung des Rätsels. Deshalb weist er die Idee des persönlichen Gottes aus der Philosophie hinweg und lobt die Buddhisten, welche von dem jüdisch¬ christlichen Gotte nichts wissen wollen. Und doch hätte Schopenhauer, der der christlichen Weltanschauung so nahe steht, wie kaum ein andrer Philosoph, die Gottesidee sehr leicht anch auf seinem Wege finden können. Zwischen die beiden Pole des Weltganzen, die ewige Nuhe und den ruhelosen Willen zum Leben setzt er als Mittler und Ausgleichcr die Platonischen Ideen, d. i. die Gattungsbegriffe als reine Anschauungsformen, die Urbilder der Wesen. Es sind die Pforten, durch die hindurch der zügel¬ lose Wille zum Leben ans dem Grunde des Seins in die Welt der Erschei¬ nung hinaus stürmt, und unverrückbar stehen sie über dem Strome des Werdens wie der Regenbogen über dem Wasserfalle, wie der Lichtstrahl, der auf ein rollendes Rad fällt. Nur dem Auserwühlten, dem es gelingt, mittels eines hochgesteigerten geistigen Lebens oder in der weihevollen Stimmung kindlicher Naivität alle irdischen Wünsche, alle Beziehungen der Dinge auf seine enge Persönlichkeit zum Schweigen zu bringen, ist es vergönnt, diese Urbilder arm-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434/131>, abgerufen am 22.07.2024.