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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr.

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Herr Hinrichsen und sein litterarisches Deutschland.

Viel geschrieben habe, und der seit 1887 ein neues Berliner Witzblatt redigirt, hat
"die Genugthuung zu sehen, daß Segen auf seiner Arbeit ruht," was wohl
heißen soll, daß sie ihm viel Geld einbringt. Da versichert der Rechtsanwalt
August Sturm in einer wunderlichen Selbstkritik, daß seine "Gedichte" und sein
Buch "Auf Flügeln des Gesanges" seine tiefste Eigenart wiedergeben, und daß er
sein "Thüringer Waldmärchen" für mehr als einen Versuch halte, während
Herr Heinrich Weber in Zürich meint, daß in seinen religiösen Gedichten
"Lieder eines Suchenden" "der ideale Flug bisweilen die Klarheit verhülle."
In diesem Tone könnten wir noch seitenlang fortfahren, es ist geradezu
unglaublich, welche Fülle von Naivitäten, aber auch von Geschmacklosigkeiten,
von unberechtigten Ansprüchen aus dem Rahmen des "Litterarischen Deutsch¬
lands" herausschaue. Man fühlt sich ordentlich erlöst, wenn einmal einer der
berühmten Poeten, wie Fritz Bärwinkel, mit einer gewissen Ironie von sich sagt:


Jetzt kitzelt nichts mehr. Ich bin taub
Für der Versuchung Locken,
Ich rechne mich doch nur zum Staub,
Erwart' (!) nicht Nachruhms Glocken.

Übrigens erfordert die Gerechtigkeit, zuzugestehen, daß mitten unter dem nicht
redigirten Wüste aller erdenklichen Notizen über Dichter und Dichterlinge, über
Schrifsteller jeder Art und jeden Ranges sich einzelne vortreffliche Mitteilungen
befinden. Die in schicklichen und würdigem Tone gehaltenen Selbstbiographien
und Biographien von Franz Nissel, Karl Koberstein, Ernst Eduard Evers,
Konrad Zitelmann, sowie manche kleinere, stechen in angenehmer Weise hervor,
wenn sie auch in ihrer Ausführlichkeit in einem entschiedenen Mißverhältnis zu
den Artikeln über die namhaftesten und wirklich bedeutendsten poetischen Schrift¬
steller der Gegenwart stehen.

Herr Hinrichten hat selbst gefühlt, daß dies Mißverhältnis durch sein
ganzes Buch hindurch vorhanden ist. Seine Vorrede bemerkt, daß ihm "viel¬
fach eine kurze kritische Bemerkung am Platze erschienen sei, schon um derjenigen
willen, deren Erlebnisse gering (bez. ihm in geringem Maße kundgegeben),
während ihre litterarischen Leistungen groß waren, so daß durch die Länge der
einen Biographie im Verhältnis zur andern leicht ein irrtümliches Vorurteil
erweckt werden könnte, ein Fall, der bei Kennern natürlich nicht eintreten
wird." Als ob dergleichen Bücher zumeist in die Hände von Kennern gerieten!
Der Herausgeber hat sich also verpflichtet gefühlt, in den Fällen, wo er über
wahrhaft litterarische Talente nur das beizubringen hat, was sich auch in jedem
Konversationslexikon findet, durch eine Kritik ausgleichend zu wirken. Leider
ist diese Kritik so ausgefallen, daß sie Nichts ausgleicht, sondern den Eindruck
unerquicklicher Unzulänglichkeit stärken hilft. Die Urteile des Herrn Hinrichsen
sind durchgehends wohlwollende, ja lobpreisende, aber es bedarf nur der Auf¬
zählung einiger Beispiele, um zu erkennen, wie flach, allgemein, uncharakteristisch


Herr Hinrichsen und sein litterarisches Deutschland.

Viel geschrieben habe, und der seit 1887 ein neues Berliner Witzblatt redigirt, hat
„die Genugthuung zu sehen, daß Segen auf seiner Arbeit ruht," was wohl
heißen soll, daß sie ihm viel Geld einbringt. Da versichert der Rechtsanwalt
August Sturm in einer wunderlichen Selbstkritik, daß seine „Gedichte" und sein
Buch „Auf Flügeln des Gesanges" seine tiefste Eigenart wiedergeben, und daß er
sein „Thüringer Waldmärchen" für mehr als einen Versuch halte, während
Herr Heinrich Weber in Zürich meint, daß in seinen religiösen Gedichten
„Lieder eines Suchenden" „der ideale Flug bisweilen die Klarheit verhülle."
In diesem Tone könnten wir noch seitenlang fortfahren, es ist geradezu
unglaublich, welche Fülle von Naivitäten, aber auch von Geschmacklosigkeiten,
von unberechtigten Ansprüchen aus dem Rahmen des „Litterarischen Deutsch¬
lands" herausschaue. Man fühlt sich ordentlich erlöst, wenn einmal einer der
berühmten Poeten, wie Fritz Bärwinkel, mit einer gewissen Ironie von sich sagt:


Jetzt kitzelt nichts mehr. Ich bin taub
Für der Versuchung Locken,
Ich rechne mich doch nur zum Staub,
Erwart' (!) nicht Nachruhms Glocken.

Übrigens erfordert die Gerechtigkeit, zuzugestehen, daß mitten unter dem nicht
redigirten Wüste aller erdenklichen Notizen über Dichter und Dichterlinge, über
Schrifsteller jeder Art und jeden Ranges sich einzelne vortreffliche Mitteilungen
befinden. Die in schicklichen und würdigem Tone gehaltenen Selbstbiographien
und Biographien von Franz Nissel, Karl Koberstein, Ernst Eduard Evers,
Konrad Zitelmann, sowie manche kleinere, stechen in angenehmer Weise hervor,
wenn sie auch in ihrer Ausführlichkeit in einem entschiedenen Mißverhältnis zu
den Artikeln über die namhaftesten und wirklich bedeutendsten poetischen Schrift¬
steller der Gegenwart stehen.

Herr Hinrichten hat selbst gefühlt, daß dies Mißverhältnis durch sein
ganzes Buch hindurch vorhanden ist. Seine Vorrede bemerkt, daß ihm „viel¬
fach eine kurze kritische Bemerkung am Platze erschienen sei, schon um derjenigen
willen, deren Erlebnisse gering (bez. ihm in geringem Maße kundgegeben),
während ihre litterarischen Leistungen groß waren, so daß durch die Länge der
einen Biographie im Verhältnis zur andern leicht ein irrtümliches Vorurteil
erweckt werden könnte, ein Fall, der bei Kennern natürlich nicht eintreten
wird." Als ob dergleichen Bücher zumeist in die Hände von Kennern gerieten!
Der Herausgeber hat sich also verpflichtet gefühlt, in den Fällen, wo er über
wahrhaft litterarische Talente nur das beizubringen hat, was sich auch in jedem
Konversationslexikon findet, durch eine Kritik ausgleichend zu wirken. Leider
ist diese Kritik so ausgefallen, daß sie Nichts ausgleicht, sondern den Eindruck
unerquicklicher Unzulänglichkeit stärken hilft. Die Urteile des Herrn Hinrichsen
sind durchgehends wohlwollende, ja lobpreisende, aber es bedarf nur der Auf¬
zählung einiger Beispiele, um zu erkennen, wie flach, allgemein, uncharakteristisch


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434/101>, abgerufen am 22.07.2024.