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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr.

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Ricks Lyhne.

Von Verstand in ihr zeigte; und je älter das Kind wurde, desto heftiger ent¬
brannte der Streit, denn desto reicher wurde die Auswahl der Waffen.

Die Eigenschaft des Sohnes, durch welche die Mutter auf ihn einzuwirken
suchte, war seine Phantasie, und Phantasie hatte er vollauf, aber schon in
frühester Jugend zeigte er, daß es für ihn einen himmelweiter Unterschied gab
zwischen der Fabelwelt, die auf das Wort der Mutter entstand, und der wirk¬
lichen Welt; denn unzählige male geschah es, wenn ihm die Mutter Märchen
erzählte und ihm schilderte, wie traurig es dem Helden ergangen war, daß
dann Ricks, der keinen Ausweg aus all der Not finden konnte, der nicht absah,
wie all das Elend zu überwinden war, das sich gleich einem undurchdringliche"
Ring um den Helden zusammenschloß und ihn enger und enger in seine Kreise
bannte -- ja dann geschah es oft, daß Ricks plötzlich seine Wange gegen die
Mutter preßte und mit thränenden Augen und bebenden Lippen flüsterte: Aber
das ist doch nicht wirklich wahr? Und wenn er dann die trostreiche Antwort
erhielt, auf die er gehofft hatte, dann atmete er wie von einem schweren
Druck befreit auf und hörte in geborgener Sicherheit das Ende der Geschichte
an. Aber der Mutter war dies Fragen und Unterscheiden eigentlich gar
nicht recht.

Als er zu groß für die Märchen geworden war, und als auch sie ermüdete,
immer neue zu erfinden, erzählte sie ihm mit kleinen Ausschmückungen von all
den Helden in Krieg und Frieden, deren Lebenslauf zum Beweis dienen konnte,
welche Macht in einer Menschenseele wohnt, wenn sie nur das eine will --
das Große, wenn sie sich weder von den kurzsichtigen Zweifeln der Gegenwart
abschrecken, noch von ihrem sanften, thatenloser Frieden verlocken läßt. In
dieser Tonart bewegten sich die Erzählungen, und da die Geschichte nicht genug
Helden besaß, die geeignet waren, wählte sich die Mutter einen Phantasiehelden,
über dessen Thaten und Schicksale sie frei verfügen konnte, so recht einen
Helden nach ihrem eignen Herzen, Geist von ihrem Geist, Fleisch von ihrem
Fleisch und auch Blut von dem ihren. Einige Jahre nach Ricks' Geburt hatte
sie nämlich einen toten Knaben zur Welt gebracht. Was dieser hätte werden
können, was er alles in der Welt hätte ausrichten können, gleich einem Pro¬
metheus, einem Herkules, einem Messias, das schilderte sie jetzt dem Bruder in
phantastischen Bildern, die nicht mehr Fleisch und Blut besaßen, als das arme
kleine Kinderskelett, das dort oben auf dem Lönborger Kirchhof zu Erde und
Asche moderte.

Und Ricks verfehlte nicht, die Moral dieser Geschichten zu erfassen; er
sah vollkommen ein, wie verächtlich es sei, so zu werden, wie die Menschen im
allgemeinen waren; er war auch bereit, das harte Loos auf sich zu nehmen,
das den Helden beschieden war, und willig litt er im Geiste unter den zehrenden
Kämpfen, dem herben Mißgeschick, dem Martyrium der Verkennung und
den friedlosen Siegen. Aber es war doch ein großer Trost für ihn, daß es


Ricks Lyhne.

Von Verstand in ihr zeigte; und je älter das Kind wurde, desto heftiger ent¬
brannte der Streit, denn desto reicher wurde die Auswahl der Waffen.

Die Eigenschaft des Sohnes, durch welche die Mutter auf ihn einzuwirken
suchte, war seine Phantasie, und Phantasie hatte er vollauf, aber schon in
frühester Jugend zeigte er, daß es für ihn einen himmelweiter Unterschied gab
zwischen der Fabelwelt, die auf das Wort der Mutter entstand, und der wirk¬
lichen Welt; denn unzählige male geschah es, wenn ihm die Mutter Märchen
erzählte und ihm schilderte, wie traurig es dem Helden ergangen war, daß
dann Ricks, der keinen Ausweg aus all der Not finden konnte, der nicht absah,
wie all das Elend zu überwinden war, das sich gleich einem undurchdringliche»
Ring um den Helden zusammenschloß und ihn enger und enger in seine Kreise
bannte — ja dann geschah es oft, daß Ricks plötzlich seine Wange gegen die
Mutter preßte und mit thränenden Augen und bebenden Lippen flüsterte: Aber
das ist doch nicht wirklich wahr? Und wenn er dann die trostreiche Antwort
erhielt, auf die er gehofft hatte, dann atmete er wie von einem schweren
Druck befreit auf und hörte in geborgener Sicherheit das Ende der Geschichte
an. Aber der Mutter war dies Fragen und Unterscheiden eigentlich gar
nicht recht.

Als er zu groß für die Märchen geworden war, und als auch sie ermüdete,
immer neue zu erfinden, erzählte sie ihm mit kleinen Ausschmückungen von all
den Helden in Krieg und Frieden, deren Lebenslauf zum Beweis dienen konnte,
welche Macht in einer Menschenseele wohnt, wenn sie nur das eine will —
das Große, wenn sie sich weder von den kurzsichtigen Zweifeln der Gegenwart
abschrecken, noch von ihrem sanften, thatenloser Frieden verlocken läßt. In
dieser Tonart bewegten sich die Erzählungen, und da die Geschichte nicht genug
Helden besaß, die geeignet waren, wählte sich die Mutter einen Phantasiehelden,
über dessen Thaten und Schicksale sie frei verfügen konnte, so recht einen
Helden nach ihrem eignen Herzen, Geist von ihrem Geist, Fleisch von ihrem
Fleisch und auch Blut von dem ihren. Einige Jahre nach Ricks' Geburt hatte
sie nämlich einen toten Knaben zur Welt gebracht. Was dieser hätte werden
können, was er alles in der Welt hätte ausrichten können, gleich einem Pro¬
metheus, einem Herkules, einem Messias, das schilderte sie jetzt dem Bruder in
phantastischen Bildern, die nicht mehr Fleisch und Blut besaßen, als das arme
kleine Kinderskelett, das dort oben auf dem Lönborger Kirchhof zu Erde und
Asche moderte.

Und Ricks verfehlte nicht, die Moral dieser Geschichten zu erfassen; er
sah vollkommen ein, wie verächtlich es sei, so zu werden, wie die Menschen im
allgemeinen waren; er war auch bereit, das harte Loos auf sich zu nehmen,
das den Helden beschieden war, und willig litt er im Geiste unter den zehrenden
Kämpfen, dem herben Mißgeschick, dem Martyrium der Verkennung und
den friedlosen Siegen. Aber es war doch ein großer Trost für ihn, daß es


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[0099] Ricks Lyhne. Von Verstand in ihr zeigte; und je älter das Kind wurde, desto heftiger ent¬ brannte der Streit, denn desto reicher wurde die Auswahl der Waffen. Die Eigenschaft des Sohnes, durch welche die Mutter auf ihn einzuwirken suchte, war seine Phantasie, und Phantasie hatte er vollauf, aber schon in frühester Jugend zeigte er, daß es für ihn einen himmelweiter Unterschied gab zwischen der Fabelwelt, die auf das Wort der Mutter entstand, und der wirk¬ lichen Welt; denn unzählige male geschah es, wenn ihm die Mutter Märchen erzählte und ihm schilderte, wie traurig es dem Helden ergangen war, daß dann Ricks, der keinen Ausweg aus all der Not finden konnte, der nicht absah, wie all das Elend zu überwinden war, das sich gleich einem undurchdringliche» Ring um den Helden zusammenschloß und ihn enger und enger in seine Kreise bannte — ja dann geschah es oft, daß Ricks plötzlich seine Wange gegen die Mutter preßte und mit thränenden Augen und bebenden Lippen flüsterte: Aber das ist doch nicht wirklich wahr? Und wenn er dann die trostreiche Antwort erhielt, auf die er gehofft hatte, dann atmete er wie von einem schweren Druck befreit auf und hörte in geborgener Sicherheit das Ende der Geschichte an. Aber der Mutter war dies Fragen und Unterscheiden eigentlich gar nicht recht. Als er zu groß für die Märchen geworden war, und als auch sie ermüdete, immer neue zu erfinden, erzählte sie ihm mit kleinen Ausschmückungen von all den Helden in Krieg und Frieden, deren Lebenslauf zum Beweis dienen konnte, welche Macht in einer Menschenseele wohnt, wenn sie nur das eine will — das Große, wenn sie sich weder von den kurzsichtigen Zweifeln der Gegenwart abschrecken, noch von ihrem sanften, thatenloser Frieden verlocken läßt. In dieser Tonart bewegten sich die Erzählungen, und da die Geschichte nicht genug Helden besaß, die geeignet waren, wählte sich die Mutter einen Phantasiehelden, über dessen Thaten und Schicksale sie frei verfügen konnte, so recht einen Helden nach ihrem eignen Herzen, Geist von ihrem Geist, Fleisch von ihrem Fleisch und auch Blut von dem ihren. Einige Jahre nach Ricks' Geburt hatte sie nämlich einen toten Knaben zur Welt gebracht. Was dieser hätte werden können, was er alles in der Welt hätte ausrichten können, gleich einem Pro¬ metheus, einem Herkules, einem Messias, das schilderte sie jetzt dem Bruder in phantastischen Bildern, die nicht mehr Fleisch und Blut besaßen, als das arme kleine Kinderskelett, das dort oben auf dem Lönborger Kirchhof zu Erde und Asche moderte. Und Ricks verfehlte nicht, die Moral dieser Geschichten zu erfassen; er sah vollkommen ein, wie verächtlich es sei, so zu werden, wie die Menschen im allgemeinen waren; er war auch bereit, das harte Loos auf sich zu nehmen, das den Helden beschieden war, und willig litt er im Geiste unter den zehrenden Kämpfen, dem herben Mißgeschick, dem Martyrium der Verkennung und den friedlosen Siegen. Aber es war doch ein großer Trost für ihn, daß es

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/99>, abgerufen am 01.09.2024.