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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr.

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TagebuchblÄtter eines Sonntagsphilosoxhen,

und Großvater -- volles Familiengefühl -- nun, weiter leurs ein Fürst nicht
bringen. So bricht bei tiefstem Empfinden auch das Einfachste, Älteste aus der
Tiefe der Seele von selbst aus, denn was die gesuchte rechte, gesunde Lebens¬
form eines Volkes als solchen betrifft, so kann auch die weiseste oder scharf¬
sinnigste Philosophie zuletzt keine bessere oder andere als Ausgangspunkt finden,
als sie da die tief erregte Empfindung unbewußt frisch weg aus sich selbst
nahm, d. h. die Form der Familie, aus der ja geschichtlich erkennbar Gemeinde,
Volk, Staat erwachse" sind. Wie solches Empfinden überhaupt Kindergedanken
wieder herauf ruft, lang verschüttete, das erfuhr ich eigentümlich in mir, als
am Sterbetage, da die Todesnachricht sich kaum verbreitet hatte, von den Türmen
die Glocken, die Herren der Lust, zu künden ausüben, um der Empfindung, von
der die Luft voll war, den Ausdruck zu geben, wie sie das am besten können:
da huschte mirs einen Augenblick durch den Sinn, als ob sie das von selbst
thäten als Wissende, wie es in Sagen sinnig vorkommt. Als das aber der
kritische Gedanke gleich tot knickte mit der Vorstellung der Leute, die am Strange
ziehen mußten, da brachs in mir aus mit aller frohen Sicherheit, und das
Wasser kam mir in die Augen: ach, die ziehen auch gern am Strange, sie thuns
nicht, weil sie sollen, sondern weil sie wollen! Und so wars gewiß, wenn ich
auch nicht weiter nachforschen konnte. Auch sonst tauchte in diesen Tagen viel
schöne alte und auch neue Poesie auf, immer mit dem scheidenden Kaiser als
Mittelpunkt, ja die Umstände gaben sie selbst an die Hand. So der eigene
Umstand, daß er gerade am Tage vor dem Geburtstage der Königin Luise
starb, deren Gedächtnis er da seit Jahren an ihrem Sarge im Mausoleum zu
Charlottenburg zu begehen gewohnt war, wie die Berliner da gern das schöne
Standbild der Königin im Tiergarten aufsuchen und bei dem Blumenschmuck
in treuem Gedächtnis verweilen. Ist es doch für deutsche Herzen überhaupt
wie ein heiliger Sammelpunkt der gewcihtesten Erinnerungen voll Schmerz und
Erhebung, wie viel giebt es da zu denken! Diesmal nun hieß es unter den
Besuchern, wenn die Gedanken sich sammelten, der treue Sohn habe sich gerade
gestern aufgemacht, um heute nun selber vor der geliebten Mutter zum Geburts¬
tage zu erscheinen. Man hat dem auch in Versen schönen Ausdruck gegeben.

Und solcher Augenblicke hat es, wenn man sich die ungezählte Menge der
Teilnehmenden denkt, in diesen Tagen so viel gegeben, jeder weiß es aus seinem
Kreise. Darunter sind auch Augenblicke, wo dem Inhalte, der sich im Gemüt
zusammendrängt, auch die Sprache nicht genügt, daß ihr das Weinen nachhelfen
muß, wie in der Freude, wenn sie uns zusammengedrängt anwandelt, das Lachen.
So haben denn auch Männer, feste Seelen, geweint in diesen Tagen, um sich
Luft zu machen. Einer der merkwürdigsten Augenblicke war der, als Fürst
Bismarck am Sterbetage das eben Geschehene im Reichstage der Nation von
Amtswegen anmeldete, ein Augenblick, in dem sich um die Gestalt des nun Heim¬
gegangenen Kaisers Wilhelm, des ersten deutschen Kaisers, wie der Fürst sagte,


TagebuchblÄtter eines Sonntagsphilosoxhen,

und Großvater — volles Familiengefühl — nun, weiter leurs ein Fürst nicht
bringen. So bricht bei tiefstem Empfinden auch das Einfachste, Älteste aus der
Tiefe der Seele von selbst aus, denn was die gesuchte rechte, gesunde Lebens¬
form eines Volkes als solchen betrifft, so kann auch die weiseste oder scharf¬
sinnigste Philosophie zuletzt keine bessere oder andere als Ausgangspunkt finden,
als sie da die tief erregte Empfindung unbewußt frisch weg aus sich selbst
nahm, d. h. die Form der Familie, aus der ja geschichtlich erkennbar Gemeinde,
Volk, Staat erwachse» sind. Wie solches Empfinden überhaupt Kindergedanken
wieder herauf ruft, lang verschüttete, das erfuhr ich eigentümlich in mir, als
am Sterbetage, da die Todesnachricht sich kaum verbreitet hatte, von den Türmen
die Glocken, die Herren der Lust, zu künden ausüben, um der Empfindung, von
der die Luft voll war, den Ausdruck zu geben, wie sie das am besten können:
da huschte mirs einen Augenblick durch den Sinn, als ob sie das von selbst
thäten als Wissende, wie es in Sagen sinnig vorkommt. Als das aber der
kritische Gedanke gleich tot knickte mit der Vorstellung der Leute, die am Strange
ziehen mußten, da brachs in mir aus mit aller frohen Sicherheit, und das
Wasser kam mir in die Augen: ach, die ziehen auch gern am Strange, sie thuns
nicht, weil sie sollen, sondern weil sie wollen! Und so wars gewiß, wenn ich
auch nicht weiter nachforschen konnte. Auch sonst tauchte in diesen Tagen viel
schöne alte und auch neue Poesie auf, immer mit dem scheidenden Kaiser als
Mittelpunkt, ja die Umstände gaben sie selbst an die Hand. So der eigene
Umstand, daß er gerade am Tage vor dem Geburtstage der Königin Luise
starb, deren Gedächtnis er da seit Jahren an ihrem Sarge im Mausoleum zu
Charlottenburg zu begehen gewohnt war, wie die Berliner da gern das schöne
Standbild der Königin im Tiergarten aufsuchen und bei dem Blumenschmuck
in treuem Gedächtnis verweilen. Ist es doch für deutsche Herzen überhaupt
wie ein heiliger Sammelpunkt der gewcihtesten Erinnerungen voll Schmerz und
Erhebung, wie viel giebt es da zu denken! Diesmal nun hieß es unter den
Besuchern, wenn die Gedanken sich sammelten, der treue Sohn habe sich gerade
gestern aufgemacht, um heute nun selber vor der geliebten Mutter zum Geburts¬
tage zu erscheinen. Man hat dem auch in Versen schönen Ausdruck gegeben.

Und solcher Augenblicke hat es, wenn man sich die ungezählte Menge der
Teilnehmenden denkt, in diesen Tagen so viel gegeben, jeder weiß es aus seinem
Kreise. Darunter sind auch Augenblicke, wo dem Inhalte, der sich im Gemüt
zusammendrängt, auch die Sprache nicht genügt, daß ihr das Weinen nachhelfen
muß, wie in der Freude, wenn sie uns zusammengedrängt anwandelt, das Lachen.
So haben denn auch Männer, feste Seelen, geweint in diesen Tagen, um sich
Luft zu machen. Einer der merkwürdigsten Augenblicke war der, als Fürst
Bismarck am Sterbetage das eben Geschehene im Reichstage der Nation von
Amtswegen anmeldete, ein Augenblick, in dem sich um die Gestalt des nun Heim¬
gegangenen Kaisers Wilhelm, des ersten deutschen Kaisers, wie der Fürst sagte,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/91>, abgerufen am 01.09.2024.