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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr.

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Zum Andenken Gustav Theodor Fechners.

Schauer zu verfolgen. Aber er war kein müßiger Zuschauer, wie sich an spätern
Arbeiten zeigte. Das 1865 erschienene Buch: "Über die physikalische und philo¬
sophische Atomenlehre" faßte die Gründe, welche die Physiker dazu nötigen, die
Körper als aus diskreten Atomen erbaut zu denken, in einer so lichtvollen Weise
zusammen, wie es vorher von keinem einzigen Vertreter der Atomistik geschehen
war, und zeigte Fechner als einen gründlichen Kenner der physikalischen Litte¬
ratur und zugleich als einen Kritiker, der in der Litteratur seiner Wissenschaft
das Wichtige von dem minder Bedeutenden zu scheiden verstand und auch den
Gründen der Gegner gerecht zu werden suchte, soweit sie wissenschaftliche Be¬
deutung hatten.

Man vergegenwärtige sich den Charakter der wissenschaftlichen Diskussion
der fünfziger Jahre: in demselben Jahre wie die "Atomenlehre" Fechners
erschien Büchners "Kraft und Stoff." Welch ein Gegensatz der Gedankenrichtung,
der Begründungsweisc und des Stils! Der Physiker Fechner verteidigt das Recht
des Physikers, innerhalb seiner Wissenschaft Atomistiker und Materialist zu sein, so
weit es sich als notwendig erweist, gegenüber den Anmaßungen einer unwissen¬
schaftlichen idealistischen Philosophie; seine Gründe sind lediglich den wissen¬
schaftlichen Thatsachen entlehnt, frei von aller dogmatischen Metaphysik, während
er das Recht der Philosophie, in den Gebieten, an welche die Wissenschaft nicht
hinanreicht, ihre eignen Gründe zu haben, anerkennt, ja den Idealismus seiner
Metaphysik hochhält gegenüber dem Materialismus seiner Wissenschaft, der
Physik. Der Stil Fechners ist nicht populär in dem gewöhnlichen Sinne; er
redet nicht znM ungebildeten und halbgebildeter großen Publikum, das ihm fremd
ist, er redet zu einem Kreise für die allgemeinen Fragen der Wissenschaft inter-
essirter Männer, denen er zutraut, daß ihnen die Thatsachen, welche zur Sprache
kommen, ebenso geläufig seien wie ihm selbst, während sie nach einer einheit¬
lichen Verknüpfung der Thatsachen suchen mit dem Eifer, der ihm selbst eigen
ist. Seine Sprache ist reich an Bildern und Vergleichen; aber er verwechselt
nicht das Bild mit der Sache, zieht aus dem Vergleich keine Schlüsse über die
Bedeutung des Vergleichs hinaus; es herrscht in jedem Kapitel ein würdevoller,
akademischer Ton.

Alle diese Vorzüge ließen die "Atomenlehre" unpopulär erscheinen gegen¬
über den populären Schriften der dogmatischen Materialisten, und es ist kein
Wunder, daß Fechners "Atomenlehre" trotz des unvergleichlich schönen Stils,
der packenden Diskussion, der glanzvollen Darstellung des Wissenschaftlicher
nur auf einen kleinen Kreis seiner wissenschaftlichen Zeitgenossen gewirkt hat
und heutzutage, wenn sie überhaupt noch von Physikern studirt wird, als ein
Anachronismus erscheint, während "Kraft und Stoff" und die gleichzeitige
materialistische Litteratur noch immer ein großes Publikum haben. Freilich
es klingt uns Modernen fremdartig, wenn wir die Atomistik und unsre Auf¬
fassung der Physik verteidigen hören gegenüber den Vertretern Schellingscher,


Zum Andenken Gustav Theodor Fechners.

Schauer zu verfolgen. Aber er war kein müßiger Zuschauer, wie sich an spätern
Arbeiten zeigte. Das 1865 erschienene Buch: „Über die physikalische und philo¬
sophische Atomenlehre" faßte die Gründe, welche die Physiker dazu nötigen, die
Körper als aus diskreten Atomen erbaut zu denken, in einer so lichtvollen Weise
zusammen, wie es vorher von keinem einzigen Vertreter der Atomistik geschehen
war, und zeigte Fechner als einen gründlichen Kenner der physikalischen Litte¬
ratur und zugleich als einen Kritiker, der in der Litteratur seiner Wissenschaft
das Wichtige von dem minder Bedeutenden zu scheiden verstand und auch den
Gründen der Gegner gerecht zu werden suchte, soweit sie wissenschaftliche Be¬
deutung hatten.

Man vergegenwärtige sich den Charakter der wissenschaftlichen Diskussion
der fünfziger Jahre: in demselben Jahre wie die „Atomenlehre" Fechners
erschien Büchners „Kraft und Stoff." Welch ein Gegensatz der Gedankenrichtung,
der Begründungsweisc und des Stils! Der Physiker Fechner verteidigt das Recht
des Physikers, innerhalb seiner Wissenschaft Atomistiker und Materialist zu sein, so
weit es sich als notwendig erweist, gegenüber den Anmaßungen einer unwissen¬
schaftlichen idealistischen Philosophie; seine Gründe sind lediglich den wissen¬
schaftlichen Thatsachen entlehnt, frei von aller dogmatischen Metaphysik, während
er das Recht der Philosophie, in den Gebieten, an welche die Wissenschaft nicht
hinanreicht, ihre eignen Gründe zu haben, anerkennt, ja den Idealismus seiner
Metaphysik hochhält gegenüber dem Materialismus seiner Wissenschaft, der
Physik. Der Stil Fechners ist nicht populär in dem gewöhnlichen Sinne; er
redet nicht znM ungebildeten und halbgebildeter großen Publikum, das ihm fremd
ist, er redet zu einem Kreise für die allgemeinen Fragen der Wissenschaft inter-
essirter Männer, denen er zutraut, daß ihnen die Thatsachen, welche zur Sprache
kommen, ebenso geläufig seien wie ihm selbst, während sie nach einer einheit¬
lichen Verknüpfung der Thatsachen suchen mit dem Eifer, der ihm selbst eigen
ist. Seine Sprache ist reich an Bildern und Vergleichen; aber er verwechselt
nicht das Bild mit der Sache, zieht aus dem Vergleich keine Schlüsse über die
Bedeutung des Vergleichs hinaus; es herrscht in jedem Kapitel ein würdevoller,
akademischer Ton.

Alle diese Vorzüge ließen die „Atomenlehre" unpopulär erscheinen gegen¬
über den populären Schriften der dogmatischen Materialisten, und es ist kein
Wunder, daß Fechners „Atomenlehre" trotz des unvergleichlich schönen Stils,
der packenden Diskussion, der glanzvollen Darstellung des Wissenschaftlicher
nur auf einen kleinen Kreis seiner wissenschaftlichen Zeitgenossen gewirkt hat
und heutzutage, wenn sie überhaupt noch von Physikern studirt wird, als ein
Anachronismus erscheint, während „Kraft und Stoff" und die gleichzeitige
materialistische Litteratur noch immer ein großes Publikum haben. Freilich
es klingt uns Modernen fremdartig, wenn wir die Atomistik und unsre Auf¬
fassung der Physik verteidigen hören gegenüber den Vertretern Schellingscher,


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[0087] Zum Andenken Gustav Theodor Fechners. Schauer zu verfolgen. Aber er war kein müßiger Zuschauer, wie sich an spätern Arbeiten zeigte. Das 1865 erschienene Buch: „Über die physikalische und philo¬ sophische Atomenlehre" faßte die Gründe, welche die Physiker dazu nötigen, die Körper als aus diskreten Atomen erbaut zu denken, in einer so lichtvollen Weise zusammen, wie es vorher von keinem einzigen Vertreter der Atomistik geschehen war, und zeigte Fechner als einen gründlichen Kenner der physikalischen Litte¬ ratur und zugleich als einen Kritiker, der in der Litteratur seiner Wissenschaft das Wichtige von dem minder Bedeutenden zu scheiden verstand und auch den Gründen der Gegner gerecht zu werden suchte, soweit sie wissenschaftliche Be¬ deutung hatten. Man vergegenwärtige sich den Charakter der wissenschaftlichen Diskussion der fünfziger Jahre: in demselben Jahre wie die „Atomenlehre" Fechners erschien Büchners „Kraft und Stoff." Welch ein Gegensatz der Gedankenrichtung, der Begründungsweisc und des Stils! Der Physiker Fechner verteidigt das Recht des Physikers, innerhalb seiner Wissenschaft Atomistiker und Materialist zu sein, so weit es sich als notwendig erweist, gegenüber den Anmaßungen einer unwissen¬ schaftlichen idealistischen Philosophie; seine Gründe sind lediglich den wissen¬ schaftlichen Thatsachen entlehnt, frei von aller dogmatischen Metaphysik, während er das Recht der Philosophie, in den Gebieten, an welche die Wissenschaft nicht hinanreicht, ihre eignen Gründe zu haben, anerkennt, ja den Idealismus seiner Metaphysik hochhält gegenüber dem Materialismus seiner Wissenschaft, der Physik. Der Stil Fechners ist nicht populär in dem gewöhnlichen Sinne; er redet nicht znM ungebildeten und halbgebildeter großen Publikum, das ihm fremd ist, er redet zu einem Kreise für die allgemeinen Fragen der Wissenschaft inter- essirter Männer, denen er zutraut, daß ihnen die Thatsachen, welche zur Sprache kommen, ebenso geläufig seien wie ihm selbst, während sie nach einer einheit¬ lichen Verknüpfung der Thatsachen suchen mit dem Eifer, der ihm selbst eigen ist. Seine Sprache ist reich an Bildern und Vergleichen; aber er verwechselt nicht das Bild mit der Sache, zieht aus dem Vergleich keine Schlüsse über die Bedeutung des Vergleichs hinaus; es herrscht in jedem Kapitel ein würdevoller, akademischer Ton. Alle diese Vorzüge ließen die „Atomenlehre" unpopulär erscheinen gegen¬ über den populären Schriften der dogmatischen Materialisten, und es ist kein Wunder, daß Fechners „Atomenlehre" trotz des unvergleichlich schönen Stils, der packenden Diskussion, der glanzvollen Darstellung des Wissenschaftlicher nur auf einen kleinen Kreis seiner wissenschaftlichen Zeitgenossen gewirkt hat und heutzutage, wenn sie überhaupt noch von Physikern studirt wird, als ein Anachronismus erscheint, während „Kraft und Stoff" und die gleichzeitige materialistische Litteratur noch immer ein großes Publikum haben. Freilich es klingt uns Modernen fremdartig, wenn wir die Atomistik und unsre Auf¬ fassung der Physik verteidigen hören gegenüber den Vertretern Schellingscher,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/87>, abgerufen am 01.09.2024.