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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr.

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Zum Aubenton Gustav Theodor Fechners.

im Nacken sich erst nach Monaten schlössen. Die Narben hat er mit ins Grab
genommen.

Im Jahre 1843 ward dem Schwergeprüften sein Zustand, den er bis
dahin mit unsäglicher Geduld ertragen hatte, doch fast zu schwer, und er hatte
Stunden, wo er fast verzweifeln wollte. Nächte, in denen er laut klagte, waren
nicht selten. Ein Choral, in der Nebenstube gespielt, brachte ihn dann zu einiger
Ruhe. Endlich behauptete er, es nicht mehr aushalten zu können, er müsse
einmal etwas sehen. So wurden die dicken Vorhänge etwas gelüftet, und er
riß die Augen, die sich stets krampfhaft vor jedem Schimmer schlossen, gewaltsam
eine Sekunde auf. Lichthungrig geworden, wiederholte er dies, bis er es nach
mehreren Stunden in einer leidlich dämmerigen Stube aushalten konnte und
den nächsten Tag noch mehr Licht vertrug. Die Freude war groß, aber kurz.
Wenige Tage nur, und er mußte in die alte Nacht zurückkehren. Diese Prüfung
war hart, und man fürchtete, Gott würde dem armen Dulder auch noch das
Geisteslicht entziehen. Aber nach einigen Wochen war der Kranke wieder in
leidlicher Helligkeit, und von da an ging es immer besser. Seine Augen blieben
freilich schwach, und er mußte die Arbeit in den folgenden Jahren oft unterbrechen,
um ihnen Ruhe zu gönnen. Dennoch hat er viel und mit Erfolg gearbeitet.

Im Jahre 1874 reiste Fechner auf Veranlassung seines Freundes Dr. H.
mit seiner Frau nach Italien. In den dunkeln römischen Kirchen merkte er,
was er schon vorher beobachtet hatte, daß seine Augen anfingen, sich zu
verschleiern. Bei der Rückkehr von der Reise im November fragte er durch
seinen Schwager Professor Volkmann in Halle bei öl-. Gräfe an, ob er ihn
behandeln wolle. Auf dessen bejahende Antwort ging er mit seiner Frau
nach Halle, wo er glücklich auf einem Auge vom Staar operirt ward. Das
nächste Jahr machte sich die gleiche Reise notwendig, um auch das andre Auge
zu operiren. Doch hat er schwache Augen bis an sein Ende behalten. Die
letzten Jahre seines Lebens konnte er fast gar nicht mehr lesen und mußte sich
darauf beschränken, sich vorlesen zu lassen. Schreiben konnte er noch hinreichend,
und er hat gearbeitet bei voller Geistesklarheit den ganzen Tag, auch an dem
Tage, wo ihn abends ein Schlaganfall traf, der seinem Leben am zwölften
Tage darauf ein Ende machte. Das war am 18. November.

Soweit die Mitteilungen seiner Gattin.

An die Öffentlichkeit trat Fechner zuerst (1821 und 1822) mit zwei Satiren
auf die Medizin. Die beiden noch heute wegen ihres treffenden Witzes und
vortrefflichen Stils lesenswerten Schriftchen bedeuten seinen Bruch mit der
Medizin, und charakterisiren den Zwanzigjährigen als einen hervorragend zur
Kritik angelegten Kopf. Die Schelling-Okensche Naturphilosophie hatte eine
gefährliche Herrschaft über die Vertreter der Heilkunde erlangt, und der Kampf,
welcher zwischen den Männern der herrschenden Richtung und Hahnemann, dem
Vater der Homöopathie, geführt wurde, zeigte ebenso wie die philosophischen


Zum Aubenton Gustav Theodor Fechners.

im Nacken sich erst nach Monaten schlössen. Die Narben hat er mit ins Grab
genommen.

Im Jahre 1843 ward dem Schwergeprüften sein Zustand, den er bis
dahin mit unsäglicher Geduld ertragen hatte, doch fast zu schwer, und er hatte
Stunden, wo er fast verzweifeln wollte. Nächte, in denen er laut klagte, waren
nicht selten. Ein Choral, in der Nebenstube gespielt, brachte ihn dann zu einiger
Ruhe. Endlich behauptete er, es nicht mehr aushalten zu können, er müsse
einmal etwas sehen. So wurden die dicken Vorhänge etwas gelüftet, und er
riß die Augen, die sich stets krampfhaft vor jedem Schimmer schlossen, gewaltsam
eine Sekunde auf. Lichthungrig geworden, wiederholte er dies, bis er es nach
mehreren Stunden in einer leidlich dämmerigen Stube aushalten konnte und
den nächsten Tag noch mehr Licht vertrug. Die Freude war groß, aber kurz.
Wenige Tage nur, und er mußte in die alte Nacht zurückkehren. Diese Prüfung
war hart, und man fürchtete, Gott würde dem armen Dulder auch noch das
Geisteslicht entziehen. Aber nach einigen Wochen war der Kranke wieder in
leidlicher Helligkeit, und von da an ging es immer besser. Seine Augen blieben
freilich schwach, und er mußte die Arbeit in den folgenden Jahren oft unterbrechen,
um ihnen Ruhe zu gönnen. Dennoch hat er viel und mit Erfolg gearbeitet.

Im Jahre 1874 reiste Fechner auf Veranlassung seines Freundes Dr. H.
mit seiner Frau nach Italien. In den dunkeln römischen Kirchen merkte er,
was er schon vorher beobachtet hatte, daß seine Augen anfingen, sich zu
verschleiern. Bei der Rückkehr von der Reise im November fragte er durch
seinen Schwager Professor Volkmann in Halle bei öl-. Gräfe an, ob er ihn
behandeln wolle. Auf dessen bejahende Antwort ging er mit seiner Frau
nach Halle, wo er glücklich auf einem Auge vom Staar operirt ward. Das
nächste Jahr machte sich die gleiche Reise notwendig, um auch das andre Auge
zu operiren. Doch hat er schwache Augen bis an sein Ende behalten. Die
letzten Jahre seines Lebens konnte er fast gar nicht mehr lesen und mußte sich
darauf beschränken, sich vorlesen zu lassen. Schreiben konnte er noch hinreichend,
und er hat gearbeitet bei voller Geistesklarheit den ganzen Tag, auch an dem
Tage, wo ihn abends ein Schlaganfall traf, der seinem Leben am zwölften
Tage darauf ein Ende machte. Das war am 18. November.

Soweit die Mitteilungen seiner Gattin.

An die Öffentlichkeit trat Fechner zuerst (1821 und 1822) mit zwei Satiren
auf die Medizin. Die beiden noch heute wegen ihres treffenden Witzes und
vortrefflichen Stils lesenswerten Schriftchen bedeuten seinen Bruch mit der
Medizin, und charakterisiren den Zwanzigjährigen als einen hervorragend zur
Kritik angelegten Kopf. Die Schelling-Okensche Naturphilosophie hatte eine
gefährliche Herrschaft über die Vertreter der Heilkunde erlangt, und der Kampf,
welcher zwischen den Männern der herrschenden Richtung und Hahnemann, dem
Vater der Homöopathie, geführt wurde, zeigte ebenso wie die philosophischen


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[0084] Zum Aubenton Gustav Theodor Fechners. im Nacken sich erst nach Monaten schlössen. Die Narben hat er mit ins Grab genommen. Im Jahre 1843 ward dem Schwergeprüften sein Zustand, den er bis dahin mit unsäglicher Geduld ertragen hatte, doch fast zu schwer, und er hatte Stunden, wo er fast verzweifeln wollte. Nächte, in denen er laut klagte, waren nicht selten. Ein Choral, in der Nebenstube gespielt, brachte ihn dann zu einiger Ruhe. Endlich behauptete er, es nicht mehr aushalten zu können, er müsse einmal etwas sehen. So wurden die dicken Vorhänge etwas gelüftet, und er riß die Augen, die sich stets krampfhaft vor jedem Schimmer schlossen, gewaltsam eine Sekunde auf. Lichthungrig geworden, wiederholte er dies, bis er es nach mehreren Stunden in einer leidlich dämmerigen Stube aushalten konnte und den nächsten Tag noch mehr Licht vertrug. Die Freude war groß, aber kurz. Wenige Tage nur, und er mußte in die alte Nacht zurückkehren. Diese Prüfung war hart, und man fürchtete, Gott würde dem armen Dulder auch noch das Geisteslicht entziehen. Aber nach einigen Wochen war der Kranke wieder in leidlicher Helligkeit, und von da an ging es immer besser. Seine Augen blieben freilich schwach, und er mußte die Arbeit in den folgenden Jahren oft unterbrechen, um ihnen Ruhe zu gönnen. Dennoch hat er viel und mit Erfolg gearbeitet. Im Jahre 1874 reiste Fechner auf Veranlassung seines Freundes Dr. H. mit seiner Frau nach Italien. In den dunkeln römischen Kirchen merkte er, was er schon vorher beobachtet hatte, daß seine Augen anfingen, sich zu verschleiern. Bei der Rückkehr von der Reise im November fragte er durch seinen Schwager Professor Volkmann in Halle bei öl-. Gräfe an, ob er ihn behandeln wolle. Auf dessen bejahende Antwort ging er mit seiner Frau nach Halle, wo er glücklich auf einem Auge vom Staar operirt ward. Das nächste Jahr machte sich die gleiche Reise notwendig, um auch das andre Auge zu operiren. Doch hat er schwache Augen bis an sein Ende behalten. Die letzten Jahre seines Lebens konnte er fast gar nicht mehr lesen und mußte sich darauf beschränken, sich vorlesen zu lassen. Schreiben konnte er noch hinreichend, und er hat gearbeitet bei voller Geistesklarheit den ganzen Tag, auch an dem Tage, wo ihn abends ein Schlaganfall traf, der seinem Leben am zwölften Tage darauf ein Ende machte. Das war am 18. November. Soweit die Mitteilungen seiner Gattin. An die Öffentlichkeit trat Fechner zuerst (1821 und 1822) mit zwei Satiren auf die Medizin. Die beiden noch heute wegen ihres treffenden Witzes und vortrefflichen Stils lesenswerten Schriftchen bedeuten seinen Bruch mit der Medizin, und charakterisiren den Zwanzigjährigen als einen hervorragend zur Kritik angelegten Kopf. Die Schelling-Okensche Naturphilosophie hatte eine gefährliche Herrschaft über die Vertreter der Heilkunde erlangt, und der Kampf, welcher zwischen den Männern der herrschenden Richtung und Hahnemann, dem Vater der Homöopathie, geführt wurde, zeigte ebenso wie die philosophischen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/84>, abgerufen am 01.09.2024.