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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr.

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Die zweite Session des jetzigen Reichstags.

wenn fast am Schlüsse des Reichstages noch eine Forderung von zwanzig Mil¬
lionen als Zuschuß des Reiches für Eisenbahnbauten in den östlichen Grenz¬
provinzen eingebracht und bewilligt wurde. Wir sind nun einmal mit der Auf¬
gabe betraut, der Welt den Frieden zu gebieten; wir können es nicht anders
als mit einer Million Soldaten gegen den Westen, mit einer zweiten Million
gegen den Osten, hinter ihnen die kriegsgerüsteten Reserven. Zur Rüstung ge¬
hören auch die Eisenbahnbauten. Die Notwendigkeit zieht auch die Nicht--
wollenden. Wer national denkt, dem muß das Bestehen der Nation auch das
erste sein. Und hierin steht das Volk noch gerade so zu seinem Kanzler und
zu seinem Kaiser, wie es am 21. Februar 1887 stand.

Die Freisinnigen natürlich jubelten über die Kammin-Greisfenberger Wahl;
sie und Herr Windthorst wollen darin einen Verfall des Kartells und eine Ab¬
wendung des Volkswillens von den nationalen Parteien sehen. Der Antrag
auf Beseitigung des Ursprungs- (Jdentitäts-) Nachweises für Getreide soll den
Wählern die Augen geöffnet haben. Aber die Wähler jenes Wahlkreises sind
zum großen Teile pommersche Bauern und Kleinstädter; es ist nicht anzunehmen,
daß diese gegen die Geldvorteile, die gerade ihre Provinz durch die Aufhebung
des Identitätsnachweises gehabt haben würde, dem Lager der Konservativen
untreu geworden wären. Auch was die "Post" und nationalliberale Zei¬
tungen meinten, daß man nichts wissen wolle von Kreuzzeitnngs- und Neichs-
botenmännern, ist nicht in dem Maße glaublich, daß dadurch die freisinnige
Wahl erklärt würde. Eher ließe sich die Abwendung des ländlichen Wahl¬
kreises dadurch erklären, daß auch die letzten Zollerhöhungcn auf Getreide nichts
zum Steigen der Preise beigetragen haben. Daß das starke Sinken des Rudel--
kurses jede bessere Verwertung der ländlichen Erzeugnisse nicht aufkommen läßt,
weil die andauernde Nubelentwertung die Einfuhr russischen Getreides begünstigt,
ist den ländlichen Wählern nieist eine unbekannte Sache. Mit der Unzufrieden¬
heit kommt die Neigung, es mit dem zu versuchen, der die bisherige Lage für
unhaltbar erklärt. Aber noch viel mehr beruht diese Abwendung des Wahl¬
kreises auf persönlicher Abneigung selbst einer Anzahl von Standesgenossen des
Wahlkandidaten, an denen viele schlichte Wähler sich ein Beispiel nahmen.
Blieben die vornehmen Herren bei der Wahl zu Hause, so wurde die Masse
ins freisinnige Lager abgeschwenkt. Das hat den Freisinnigen zu einem Triumph
verholfen. Viel hat die Sache nicht auf sich, nur mahnt sie zur Wachsamkeit.

Wir schließen hiermit unsre politischen Rückblicke auf die jüngste Session
des Reichstages. Die letzte Negierungshcmdlung Kaiser Wilhelms war die volle
Unterschrift für den bevorstehenden Schluß des Reichstages, die er noch auf
seinem Krankenlager fast im Angesichte des Todes gegeben. Eines seiner letzten
Worte, das er bei vollem Bewußtsein am Abend vor seinem Scheiden ge¬
sprochen, lautet: "Ich habe keine Zeit mehr, müde zu sein." Er war größer
als Cäsar und mehr als Solon. Die Geschichte wird den Ausspruch Nüme-


Grenzboten II. 1L38. s
Die zweite Session des jetzigen Reichstags.

wenn fast am Schlüsse des Reichstages noch eine Forderung von zwanzig Mil¬
lionen als Zuschuß des Reiches für Eisenbahnbauten in den östlichen Grenz¬
provinzen eingebracht und bewilligt wurde. Wir sind nun einmal mit der Auf¬
gabe betraut, der Welt den Frieden zu gebieten; wir können es nicht anders
als mit einer Million Soldaten gegen den Westen, mit einer zweiten Million
gegen den Osten, hinter ihnen die kriegsgerüsteten Reserven. Zur Rüstung ge¬
hören auch die Eisenbahnbauten. Die Notwendigkeit zieht auch die Nicht--
wollenden. Wer national denkt, dem muß das Bestehen der Nation auch das
erste sein. Und hierin steht das Volk noch gerade so zu seinem Kanzler und
zu seinem Kaiser, wie es am 21. Februar 1887 stand.

Die Freisinnigen natürlich jubelten über die Kammin-Greisfenberger Wahl;
sie und Herr Windthorst wollen darin einen Verfall des Kartells und eine Ab¬
wendung des Volkswillens von den nationalen Parteien sehen. Der Antrag
auf Beseitigung des Ursprungs- (Jdentitäts-) Nachweises für Getreide soll den
Wählern die Augen geöffnet haben. Aber die Wähler jenes Wahlkreises sind
zum großen Teile pommersche Bauern und Kleinstädter; es ist nicht anzunehmen,
daß diese gegen die Geldvorteile, die gerade ihre Provinz durch die Aufhebung
des Identitätsnachweises gehabt haben würde, dem Lager der Konservativen
untreu geworden wären. Auch was die „Post" und nationalliberale Zei¬
tungen meinten, daß man nichts wissen wolle von Kreuzzeitnngs- und Neichs-
botenmännern, ist nicht in dem Maße glaublich, daß dadurch die freisinnige
Wahl erklärt würde. Eher ließe sich die Abwendung des ländlichen Wahl¬
kreises dadurch erklären, daß auch die letzten Zollerhöhungcn auf Getreide nichts
zum Steigen der Preise beigetragen haben. Daß das starke Sinken des Rudel--
kurses jede bessere Verwertung der ländlichen Erzeugnisse nicht aufkommen läßt,
weil die andauernde Nubelentwertung die Einfuhr russischen Getreides begünstigt,
ist den ländlichen Wählern nieist eine unbekannte Sache. Mit der Unzufrieden¬
heit kommt die Neigung, es mit dem zu versuchen, der die bisherige Lage für
unhaltbar erklärt. Aber noch viel mehr beruht diese Abwendung des Wahl¬
kreises auf persönlicher Abneigung selbst einer Anzahl von Standesgenossen des
Wahlkandidaten, an denen viele schlichte Wähler sich ein Beispiel nahmen.
Blieben die vornehmen Herren bei der Wahl zu Hause, so wurde die Masse
ins freisinnige Lager abgeschwenkt. Das hat den Freisinnigen zu einem Triumph
verholfen. Viel hat die Sache nicht auf sich, nur mahnt sie zur Wachsamkeit.

Wir schließen hiermit unsre politischen Rückblicke auf die jüngste Session
des Reichstages. Die letzte Negierungshcmdlung Kaiser Wilhelms war die volle
Unterschrift für den bevorstehenden Schluß des Reichstages, die er noch auf
seinem Krankenlager fast im Angesichte des Todes gegeben. Eines seiner letzten
Worte, das er bei vollem Bewußtsein am Abend vor seinem Scheiden ge¬
sprochen, lautet: „Ich habe keine Zeit mehr, müde zu sein." Er war größer
als Cäsar und mehr als Solon. Die Geschichte wird den Ausspruch Nüme-


Grenzboten II. 1L38. s
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[0065] Die zweite Session des jetzigen Reichstags. wenn fast am Schlüsse des Reichstages noch eine Forderung von zwanzig Mil¬ lionen als Zuschuß des Reiches für Eisenbahnbauten in den östlichen Grenz¬ provinzen eingebracht und bewilligt wurde. Wir sind nun einmal mit der Auf¬ gabe betraut, der Welt den Frieden zu gebieten; wir können es nicht anders als mit einer Million Soldaten gegen den Westen, mit einer zweiten Million gegen den Osten, hinter ihnen die kriegsgerüsteten Reserven. Zur Rüstung ge¬ hören auch die Eisenbahnbauten. Die Notwendigkeit zieht auch die Nicht-- wollenden. Wer national denkt, dem muß das Bestehen der Nation auch das erste sein. Und hierin steht das Volk noch gerade so zu seinem Kanzler und zu seinem Kaiser, wie es am 21. Februar 1887 stand. Die Freisinnigen natürlich jubelten über die Kammin-Greisfenberger Wahl; sie und Herr Windthorst wollen darin einen Verfall des Kartells und eine Ab¬ wendung des Volkswillens von den nationalen Parteien sehen. Der Antrag auf Beseitigung des Ursprungs- (Jdentitäts-) Nachweises für Getreide soll den Wählern die Augen geöffnet haben. Aber die Wähler jenes Wahlkreises sind zum großen Teile pommersche Bauern und Kleinstädter; es ist nicht anzunehmen, daß diese gegen die Geldvorteile, die gerade ihre Provinz durch die Aufhebung des Identitätsnachweises gehabt haben würde, dem Lager der Konservativen untreu geworden wären. Auch was die „Post" und nationalliberale Zei¬ tungen meinten, daß man nichts wissen wolle von Kreuzzeitnngs- und Neichs- botenmännern, ist nicht in dem Maße glaublich, daß dadurch die freisinnige Wahl erklärt würde. Eher ließe sich die Abwendung des ländlichen Wahl¬ kreises dadurch erklären, daß auch die letzten Zollerhöhungcn auf Getreide nichts zum Steigen der Preise beigetragen haben. Daß das starke Sinken des Rudel-- kurses jede bessere Verwertung der ländlichen Erzeugnisse nicht aufkommen läßt, weil die andauernde Nubelentwertung die Einfuhr russischen Getreides begünstigt, ist den ländlichen Wählern nieist eine unbekannte Sache. Mit der Unzufrieden¬ heit kommt die Neigung, es mit dem zu versuchen, der die bisherige Lage für unhaltbar erklärt. Aber noch viel mehr beruht diese Abwendung des Wahl¬ kreises auf persönlicher Abneigung selbst einer Anzahl von Standesgenossen des Wahlkandidaten, an denen viele schlichte Wähler sich ein Beispiel nahmen. Blieben die vornehmen Herren bei der Wahl zu Hause, so wurde die Masse ins freisinnige Lager abgeschwenkt. Das hat den Freisinnigen zu einem Triumph verholfen. Viel hat die Sache nicht auf sich, nur mahnt sie zur Wachsamkeit. Wir schließen hiermit unsre politischen Rückblicke auf die jüngste Session des Reichstages. Die letzte Negierungshcmdlung Kaiser Wilhelms war die volle Unterschrift für den bevorstehenden Schluß des Reichstages, die er noch auf seinem Krankenlager fast im Angesichte des Todes gegeben. Eines seiner letzten Worte, das er bei vollem Bewußtsein am Abend vor seinem Scheiden ge¬ sprochen, lautet: „Ich habe keine Zeit mehr, müde zu sein." Er war größer als Cäsar und mehr als Solon. Die Geschichte wird den Ausspruch Nüme- Grenzboten II. 1L38. s

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/65>, abgerufen am 28.07.2024.