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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr.

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Die Smaragdinsel.

hatten. Das Land, das 1845 über 8 Millionen ernährte, ist also jetzt nicht mehr
imstande, ö Millionen den Lebensunterhalt zu gewähren. Es ist dies umso
sonderbarer, als das Land von der Natur bevorzugt ist, wie wenig andre
Länder. Die Lage ist für den Handelsverkehr die denkbar günstigste, der Boden
ist fruchtbar und von zahlreichen Wasserläufen durchzogen. Keine Schneeberge
widersetzen sich der Kultur; nur mäßige Höhen ziehen sich an der Küste hin.
Die feuchten Winde von der Atlantis machen den Winter mild und verleihen
dem Lande jenes immergrüne Aussehen, dem es den Namen der Smaragdinsel
verdankt. Es ist wie geschaffen zum Ackerbau.

Und dennoch Elend auf allen Seiten. Die Bevölkerung nimmt beständig
ab, weil es dem irischen Ackerbauer unter den herrschenden Verhältnissen nicht
möglich ist, sein Leben zu fristen. Hierin, in der sozialen Lage, liegt die
Schwierigkeit einer Lösung der irischen Frage, und mag Salisbury oder Glad-
stone am Nuder sein, mag man Irland mit Ausnahmegesetzen behandeln oder
ihm ein eignes Parlament geben, es wird alles vergeblich sein, so lange nicht
die Grundfrage der Existenzmöglichkeit überwunden, so lange, um es mit einem
Worte zu sagen, das britische Reich nicht aus dem mittelalterlichen Feudalis¬
mus heraus ist.

Man war lange Zeit in Deutschland gewöhnt, den Inselstaat jenseits des
Kanals als Ideal eines modernen Gemeinwesens zu betrachten. In mancher
Beziehung, das läßt sich nicht leugnen, steht Großbritannien in politischer Ent¬
wicklung an der Spitze und hat vor andern Staaten den Vorteil voraus, daß
es seine Einrichtungen allmählich aus sich selbst entwickelt hat und demnach
nicht den vielen Mißgriffen unterworfen gewesen ist, wie z. B. Frankreich, das
mit Dutzenden von Verfassungen beglückt worden ist, ohne eine einzige auf die
Dauer brauchbar finden zu können.

Anderseits aber hat diese allmähliche Entwicklung auch vieles in die neuere
Zeit mit hinübergenommen, was besser nicht mehr bestünde. England ist ein
altertümliches, solid gebautes Haus mit einer Fassade, die den Abgeordneten
Reichensperger entzücken würde. Die Bewohner sind in vieler Beziehung
dem veränderten Geschmack nachgekommen; man hat im Innern umgebaut und
große Gesellschaftsräume hergestellt. Aber die Schlafzimmer, die das profane
Auge des Besuchers nicht zu sehen bekommt, sind aus Ersparnisrücksichten die
alten geblieben, dumpf und niedrig und eng, und daher kommt es, daß nicht
jeder sich guter Gesundheit erfreut, trotz der schönen gothischen Fassade.

Unser englischer Vetter hat sich noch manches schöne Stück Altertum
bewahrt. Die Zöpfe hat er zwar abgeschnitten, aber der Richter waltet noch
heute in gepuderter Perrücke seines Amtes. In den Städten ist die Dampf¬
maschine geschäftig, aber auf dem Lande herrscht der feudale Junker, dessen
Ideal die Fuchshatz ist.

Im Jahre 1615 klagte Thomas Morus in seiner Utoxig. gar bitter über


Die Smaragdinsel.

hatten. Das Land, das 1845 über 8 Millionen ernährte, ist also jetzt nicht mehr
imstande, ö Millionen den Lebensunterhalt zu gewähren. Es ist dies umso
sonderbarer, als das Land von der Natur bevorzugt ist, wie wenig andre
Länder. Die Lage ist für den Handelsverkehr die denkbar günstigste, der Boden
ist fruchtbar und von zahlreichen Wasserläufen durchzogen. Keine Schneeberge
widersetzen sich der Kultur; nur mäßige Höhen ziehen sich an der Küste hin.
Die feuchten Winde von der Atlantis machen den Winter mild und verleihen
dem Lande jenes immergrüne Aussehen, dem es den Namen der Smaragdinsel
verdankt. Es ist wie geschaffen zum Ackerbau.

Und dennoch Elend auf allen Seiten. Die Bevölkerung nimmt beständig
ab, weil es dem irischen Ackerbauer unter den herrschenden Verhältnissen nicht
möglich ist, sein Leben zu fristen. Hierin, in der sozialen Lage, liegt die
Schwierigkeit einer Lösung der irischen Frage, und mag Salisbury oder Glad-
stone am Nuder sein, mag man Irland mit Ausnahmegesetzen behandeln oder
ihm ein eignes Parlament geben, es wird alles vergeblich sein, so lange nicht
die Grundfrage der Existenzmöglichkeit überwunden, so lange, um es mit einem
Worte zu sagen, das britische Reich nicht aus dem mittelalterlichen Feudalis¬
mus heraus ist.

Man war lange Zeit in Deutschland gewöhnt, den Inselstaat jenseits des
Kanals als Ideal eines modernen Gemeinwesens zu betrachten. In mancher
Beziehung, das läßt sich nicht leugnen, steht Großbritannien in politischer Ent¬
wicklung an der Spitze und hat vor andern Staaten den Vorteil voraus, daß
es seine Einrichtungen allmählich aus sich selbst entwickelt hat und demnach
nicht den vielen Mißgriffen unterworfen gewesen ist, wie z. B. Frankreich, das
mit Dutzenden von Verfassungen beglückt worden ist, ohne eine einzige auf die
Dauer brauchbar finden zu können.

Anderseits aber hat diese allmähliche Entwicklung auch vieles in die neuere
Zeit mit hinübergenommen, was besser nicht mehr bestünde. England ist ein
altertümliches, solid gebautes Haus mit einer Fassade, die den Abgeordneten
Reichensperger entzücken würde. Die Bewohner sind in vieler Beziehung
dem veränderten Geschmack nachgekommen; man hat im Innern umgebaut und
große Gesellschaftsräume hergestellt. Aber die Schlafzimmer, die das profane
Auge des Besuchers nicht zu sehen bekommt, sind aus Ersparnisrücksichten die
alten geblieben, dumpf und niedrig und eng, und daher kommt es, daß nicht
jeder sich guter Gesundheit erfreut, trotz der schönen gothischen Fassade.

Unser englischer Vetter hat sich noch manches schöne Stück Altertum
bewahrt. Die Zöpfe hat er zwar abgeschnitten, aber der Richter waltet noch
heute in gepuderter Perrücke seines Amtes. In den Städten ist die Dampf¬
maschine geschäftig, aber auf dem Lande herrscht der feudale Junker, dessen
Ideal die Fuchshatz ist.

Im Jahre 1615 klagte Thomas Morus in seiner Utoxig. gar bitter über


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[0640] Die Smaragdinsel. hatten. Das Land, das 1845 über 8 Millionen ernährte, ist also jetzt nicht mehr imstande, ö Millionen den Lebensunterhalt zu gewähren. Es ist dies umso sonderbarer, als das Land von der Natur bevorzugt ist, wie wenig andre Länder. Die Lage ist für den Handelsverkehr die denkbar günstigste, der Boden ist fruchtbar und von zahlreichen Wasserläufen durchzogen. Keine Schneeberge widersetzen sich der Kultur; nur mäßige Höhen ziehen sich an der Küste hin. Die feuchten Winde von der Atlantis machen den Winter mild und verleihen dem Lande jenes immergrüne Aussehen, dem es den Namen der Smaragdinsel verdankt. Es ist wie geschaffen zum Ackerbau. Und dennoch Elend auf allen Seiten. Die Bevölkerung nimmt beständig ab, weil es dem irischen Ackerbauer unter den herrschenden Verhältnissen nicht möglich ist, sein Leben zu fristen. Hierin, in der sozialen Lage, liegt die Schwierigkeit einer Lösung der irischen Frage, und mag Salisbury oder Glad- stone am Nuder sein, mag man Irland mit Ausnahmegesetzen behandeln oder ihm ein eignes Parlament geben, es wird alles vergeblich sein, so lange nicht die Grundfrage der Existenzmöglichkeit überwunden, so lange, um es mit einem Worte zu sagen, das britische Reich nicht aus dem mittelalterlichen Feudalis¬ mus heraus ist. Man war lange Zeit in Deutschland gewöhnt, den Inselstaat jenseits des Kanals als Ideal eines modernen Gemeinwesens zu betrachten. In mancher Beziehung, das läßt sich nicht leugnen, steht Großbritannien in politischer Ent¬ wicklung an der Spitze und hat vor andern Staaten den Vorteil voraus, daß es seine Einrichtungen allmählich aus sich selbst entwickelt hat und demnach nicht den vielen Mißgriffen unterworfen gewesen ist, wie z. B. Frankreich, das mit Dutzenden von Verfassungen beglückt worden ist, ohne eine einzige auf die Dauer brauchbar finden zu können. Anderseits aber hat diese allmähliche Entwicklung auch vieles in die neuere Zeit mit hinübergenommen, was besser nicht mehr bestünde. England ist ein altertümliches, solid gebautes Haus mit einer Fassade, die den Abgeordneten Reichensperger entzücken würde. Die Bewohner sind in vieler Beziehung dem veränderten Geschmack nachgekommen; man hat im Innern umgebaut und große Gesellschaftsräume hergestellt. Aber die Schlafzimmer, die das profane Auge des Besuchers nicht zu sehen bekommt, sind aus Ersparnisrücksichten die alten geblieben, dumpf und niedrig und eng, und daher kommt es, daß nicht jeder sich guter Gesundheit erfreut, trotz der schönen gothischen Fassade. Unser englischer Vetter hat sich noch manches schöne Stück Altertum bewahrt. Die Zöpfe hat er zwar abgeschnitten, aber der Richter waltet noch heute in gepuderter Perrücke seines Amtes. In den Städten ist die Dampf¬ maschine geschäftig, aber auf dem Lande herrscht der feudale Junker, dessen Ideal die Fuchshatz ist. Im Jahre 1615 klagte Thomas Morus in seiner Utoxig. gar bitter über

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/640>, abgerufen am 28.07.2024.