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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr.

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Die zweite Session des jetzigen Reichstags.

"hockten sie auseinander, wie die Artisten im Zirkus bei den Pyramidengruppen."
Die Rede des Reichskanzlers währte beinahe zwei Stunden; der leitende Faden
derselben war: Wir wollen den Frieden, aber wir furchten den Krieg nicht.
Die Rede war reich an patriotischen Stellen von der packendsten Wirkung. An
keiner Stelle war diese aber ungeheurer und zugleich feierlicher als da, wo der
Redner am Schlüsse sagte: "Wir Deutschen fürchten Gott, sonst nichts in der
Welt, und die Gottesfurcht schon ist es, die uns den Frieden lieben und pflegen
läßt. Wer ihn aber trotzdem bricht, wird sich davon überzeugen, daß die kampfes-
freudige Vaterlandsliebe, welche 1813 die gesamte Bevölkerung des schwachen,
kleinen und ausgesogenen Preußens unter die Fahnen rief, heute ein Gemeingut
der gesamten deutschen Nation ist, und daß die deutsche Nation, wer sie angreift,
einheitlich gewappnet finden wird, und jeden Wehrmann mit dem festen Glauben
im Herzen: Gott wird mit uns sein!" Wie er endete, folgte auch links Hände¬
klatschen und Bravo. Überall im Hause fühlte man während der ganzen Rede,
daß ein Augenblick von weltgeschichtlicher Bedeutung vorüberzog. Auch bei
dieser Friedensrede wurde die Seele von dem Gefühle erfaßt: Das ist der
Mann, der die deutsche Uhr auf hundert Jahre richtig gestellt hat. Nach der
Rede spürte man die Einwirkung: die Nebel, die auf unserm Erdteil lagen,
sind zerstreut. Von dem Zaren wurde berichtet, daß er nach Durchlesung der
Rede gesagt habe: Bismarck hat Recht, ich will den Frieden.

Am Tage nach der Rede Bismarcks wurde die Vorlage über die Verlänge¬
rung der Legislaturperiode in zweiter Lesung verhandelt. Den Rednern, die da¬
gegen auftraten, Windthorst wie Nickert und Hänel, lag die Wirkung der Bis-
marckschen Worte noch in den Gliedern; sie sprachen lahm und matt. Die
Vorlage ging in der entscheidenden Lesung ohne viel Schwierigkeit mit großer
Mehrheit durch; man betrachtete die Frage als das, was sie war, als eine
Frage der Zweckmäßigkeit. Marquardsen machte geltend, "daß man für bürger¬
liche, religiöse und politische Freiheit sein und dennoch der Vorlage zustimmen"
könne. Herr Nickert aber ließ seinen Ärger über das Ergebnis der Abstim¬
mung (183 für, 95 gegen) dadurch aus, daß er plötzlich und ganz unerwartet
einen Antrag auf Einführung von Diäten stellte. Herr Windthorst sekundirte,
und so ergab sich das Schauspiel, daß die, welche stets gegen Verfassungs¬
änderungen zu sein behaupten, hier ohne jede Rücksicht auf die Geschäftsordnung
einen Antrag ohne vorhergegangene Prüfung an das Haus bringen wollten.
Der Antrag war weiter nichts als eine künstliche Verquickung mit der Vorlage
über die Legislaturperiode, rein aus taktischen Gründen gestellt. Das Haus
entschied, daß der Antrag Nickert mit dem vorliegenden nicht in Zusammenhang
stehe und demnach nicht zugleich mit ihm zur Verhandlung kommen könne.

Trotz der zweifellosen Friedensliebe des Zaren wurden doch auch nach der
Bismarckschen Friedensrede die russischen Truppen nicht von den deutschen und
östcrreichischci? Grenzen zurückgezogen. Es war deshalb nicht zu verwundern,


Die zweite Session des jetzigen Reichstags.

„hockten sie auseinander, wie die Artisten im Zirkus bei den Pyramidengruppen."
Die Rede des Reichskanzlers währte beinahe zwei Stunden; der leitende Faden
derselben war: Wir wollen den Frieden, aber wir furchten den Krieg nicht.
Die Rede war reich an patriotischen Stellen von der packendsten Wirkung. An
keiner Stelle war diese aber ungeheurer und zugleich feierlicher als da, wo der
Redner am Schlüsse sagte: „Wir Deutschen fürchten Gott, sonst nichts in der
Welt, und die Gottesfurcht schon ist es, die uns den Frieden lieben und pflegen
läßt. Wer ihn aber trotzdem bricht, wird sich davon überzeugen, daß die kampfes-
freudige Vaterlandsliebe, welche 1813 die gesamte Bevölkerung des schwachen,
kleinen und ausgesogenen Preußens unter die Fahnen rief, heute ein Gemeingut
der gesamten deutschen Nation ist, und daß die deutsche Nation, wer sie angreift,
einheitlich gewappnet finden wird, und jeden Wehrmann mit dem festen Glauben
im Herzen: Gott wird mit uns sein!" Wie er endete, folgte auch links Hände¬
klatschen und Bravo. Überall im Hause fühlte man während der ganzen Rede,
daß ein Augenblick von weltgeschichtlicher Bedeutung vorüberzog. Auch bei
dieser Friedensrede wurde die Seele von dem Gefühle erfaßt: Das ist der
Mann, der die deutsche Uhr auf hundert Jahre richtig gestellt hat. Nach der
Rede spürte man die Einwirkung: die Nebel, die auf unserm Erdteil lagen,
sind zerstreut. Von dem Zaren wurde berichtet, daß er nach Durchlesung der
Rede gesagt habe: Bismarck hat Recht, ich will den Frieden.

Am Tage nach der Rede Bismarcks wurde die Vorlage über die Verlänge¬
rung der Legislaturperiode in zweiter Lesung verhandelt. Den Rednern, die da¬
gegen auftraten, Windthorst wie Nickert und Hänel, lag die Wirkung der Bis-
marckschen Worte noch in den Gliedern; sie sprachen lahm und matt. Die
Vorlage ging in der entscheidenden Lesung ohne viel Schwierigkeit mit großer
Mehrheit durch; man betrachtete die Frage als das, was sie war, als eine
Frage der Zweckmäßigkeit. Marquardsen machte geltend, „daß man für bürger¬
liche, religiöse und politische Freiheit sein und dennoch der Vorlage zustimmen"
könne. Herr Nickert aber ließ seinen Ärger über das Ergebnis der Abstim¬
mung (183 für, 95 gegen) dadurch aus, daß er plötzlich und ganz unerwartet
einen Antrag auf Einführung von Diäten stellte. Herr Windthorst sekundirte,
und so ergab sich das Schauspiel, daß die, welche stets gegen Verfassungs¬
änderungen zu sein behaupten, hier ohne jede Rücksicht auf die Geschäftsordnung
einen Antrag ohne vorhergegangene Prüfung an das Haus bringen wollten.
Der Antrag war weiter nichts als eine künstliche Verquickung mit der Vorlage
über die Legislaturperiode, rein aus taktischen Gründen gestellt. Das Haus
entschied, daß der Antrag Nickert mit dem vorliegenden nicht in Zusammenhang
stehe und demnach nicht zugleich mit ihm zur Verhandlung kommen könne.

Trotz der zweifellosen Friedensliebe des Zaren wurden doch auch nach der
Bismarckschen Friedensrede die russischen Truppen nicht von den deutschen und
östcrreichischci? Grenzen zurückgezogen. Es war deshalb nicht zu verwundern,


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[0064] Die zweite Session des jetzigen Reichstags. „hockten sie auseinander, wie die Artisten im Zirkus bei den Pyramidengruppen." Die Rede des Reichskanzlers währte beinahe zwei Stunden; der leitende Faden derselben war: Wir wollen den Frieden, aber wir furchten den Krieg nicht. Die Rede war reich an patriotischen Stellen von der packendsten Wirkung. An keiner Stelle war diese aber ungeheurer und zugleich feierlicher als da, wo der Redner am Schlüsse sagte: „Wir Deutschen fürchten Gott, sonst nichts in der Welt, und die Gottesfurcht schon ist es, die uns den Frieden lieben und pflegen läßt. Wer ihn aber trotzdem bricht, wird sich davon überzeugen, daß die kampfes- freudige Vaterlandsliebe, welche 1813 die gesamte Bevölkerung des schwachen, kleinen und ausgesogenen Preußens unter die Fahnen rief, heute ein Gemeingut der gesamten deutschen Nation ist, und daß die deutsche Nation, wer sie angreift, einheitlich gewappnet finden wird, und jeden Wehrmann mit dem festen Glauben im Herzen: Gott wird mit uns sein!" Wie er endete, folgte auch links Hände¬ klatschen und Bravo. Überall im Hause fühlte man während der ganzen Rede, daß ein Augenblick von weltgeschichtlicher Bedeutung vorüberzog. Auch bei dieser Friedensrede wurde die Seele von dem Gefühle erfaßt: Das ist der Mann, der die deutsche Uhr auf hundert Jahre richtig gestellt hat. Nach der Rede spürte man die Einwirkung: die Nebel, die auf unserm Erdteil lagen, sind zerstreut. Von dem Zaren wurde berichtet, daß er nach Durchlesung der Rede gesagt habe: Bismarck hat Recht, ich will den Frieden. Am Tage nach der Rede Bismarcks wurde die Vorlage über die Verlänge¬ rung der Legislaturperiode in zweiter Lesung verhandelt. Den Rednern, die da¬ gegen auftraten, Windthorst wie Nickert und Hänel, lag die Wirkung der Bis- marckschen Worte noch in den Gliedern; sie sprachen lahm und matt. Die Vorlage ging in der entscheidenden Lesung ohne viel Schwierigkeit mit großer Mehrheit durch; man betrachtete die Frage als das, was sie war, als eine Frage der Zweckmäßigkeit. Marquardsen machte geltend, „daß man für bürger¬ liche, religiöse und politische Freiheit sein und dennoch der Vorlage zustimmen" könne. Herr Nickert aber ließ seinen Ärger über das Ergebnis der Abstim¬ mung (183 für, 95 gegen) dadurch aus, daß er plötzlich und ganz unerwartet einen Antrag auf Einführung von Diäten stellte. Herr Windthorst sekundirte, und so ergab sich das Schauspiel, daß die, welche stets gegen Verfassungs¬ änderungen zu sein behaupten, hier ohne jede Rücksicht auf die Geschäftsordnung einen Antrag ohne vorhergegangene Prüfung an das Haus bringen wollten. Der Antrag war weiter nichts als eine künstliche Verquickung mit der Vorlage über die Legislaturperiode, rein aus taktischen Gründen gestellt. Das Haus entschied, daß der Antrag Nickert mit dem vorliegenden nicht in Zusammenhang stehe und demnach nicht zugleich mit ihm zur Verhandlung kommen könne. Trotz der zweifellosen Friedensliebe des Zaren wurden doch auch nach der Bismarckschen Friedensrede die russischen Truppen nicht von den deutschen und östcrreichischci? Grenzen zurückgezogen. Es war deshalb nicht zu verwundern,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/64>, abgerufen am 28.07.2024.