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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr.

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Neue Lyrik.

das vergessen unsre Pessimisten, und auch Graf Wickenburg ist hierin der Sohn
seiner Zeit -- einer Zeit, die nicht den Mut zu leben hat.

Wickenburgs Gedichtbuch enthält Naturbilder, Stimmungsgedichte, Spruch-
uiid Lehrhaftes, Balladen und Gelegenheitsgedichte. Das Gedicht "Spätroscn"
scheint uns das hübscheste seiner Naturbilder.


[Beginn Spaltensatz]
Herbst versenkte die Natur
Rings in tiefe Trauer,
Und es frösteln Wald und Flur,
Wie im Fieberschauer.
Eisig ist der Winde Hauch,
Schwere Nebel brüten
Und dn, armer Rosenstrauch,
Treibst noch immer Blüten?
Sieh, der Winter, rauh und kalt,
Wird dich bald bezwingen,
Willst du gegen Sturmgewalt,
Wenn auch fruchtlos, ringen?
[Spaltenumbruch]
Überreich ja hinsteht du,
Dir und uns zur Wonne,
Sprich, was gingst du nicht zur Ruh
Mit der Junisonne?
Gleichst dem Schwärmer ganz und gar,
Strauch mit deinen Rosen!
Ob das Alter auch das Haar
Bleiche dem Ruhelosen,
Ob geknickt zu Boden fällt
Blüte ihm um Blüte,
Schwärmend blickt er in die Welt --
Frühling im Gemüte!
[Ende Spaltensatz]

Die Balladen, die meist tirolischem Lokal und tirolischer Geschichte ent¬
nommen sind, zeichnen sich durch Bewegung und Frische aus. "Der schiefe Turm
von Terlaan" hat für seine lustige Pointe mit Glück den Ton des Volksliedes
nachgeahmt. Die sechs Übersetzungen, die das Bändchen schließe", dürften ein
größeres Publikum finden als die Gelegenheitsgedichte rein persönlichen Cha¬
rakters. Das bedeutendste der übertragenen Stücke ist "Das Lied vom Hemd"
des Thomas Hood.

Eine Erscheinung von überraschend erfreulicher Art sind die Lieder vom
goldenen Horn von Karl Foy (Leipzig, Liebeskind, 1888). Hier gewinnt
man das Gefühl, ein wahrhaft berufenes lyrisches Naturell kennen zu lernen.
Diese Lieder sind von einer so reifen, abgeklärten Schönheit, von einer so ein¬
fachen Liebenswürdigkeit, von einem so hohen Adel der Form, daß man nicht
müde wird, sie immer wieder zu lesen. Foy weiß eine große Anzahl von
Stimmungen anzuschlagen, und auch in dieser Beweglichkeit seines Gemütes,
welches bald sehnsüchtig zu träumen, bald scherzend zu kosen weiß, bald tief be¬
trachtet, bald geflügelte Epigramme schmiedet, bekundet sich die echt lyrische
Anlage. Denn der rechte Lyriker ist ein Mensch, dessen Seele Thüren und
Fenster zum Eintritte der Sinnenwelt immer geöffnet hat. Er ist von
keiner Idee beherrscht, nicht einmal von einer Grundstimmung, er ist aber doch
konsequent, zwar nicht wie der Denker, aber wie die Natur. Ein solcher Mensch
ist Karl Foy. Irgend ein Schicksal, welches es war, sagt er nicht, hat ihn in
den Orient, nach Konstantinopel, an den Bosporus, an die Enge der Darda¬
nellen geführt. Was er dort empfunden, erlebt hat, aber nicht bloß dies allein,
hat er besungen. Nicht über den Orient sprechen, sondern aus dem Orient stammen


Grenzboten II. 1L33. 79
Neue Lyrik.

das vergessen unsre Pessimisten, und auch Graf Wickenburg ist hierin der Sohn
seiner Zeit — einer Zeit, die nicht den Mut zu leben hat.

Wickenburgs Gedichtbuch enthält Naturbilder, Stimmungsgedichte, Spruch-
uiid Lehrhaftes, Balladen und Gelegenheitsgedichte. Das Gedicht „Spätroscn"
scheint uns das hübscheste seiner Naturbilder.


[Beginn Spaltensatz]
Herbst versenkte die Natur
Rings in tiefe Trauer,
Und es frösteln Wald und Flur,
Wie im Fieberschauer.
Eisig ist der Winde Hauch,
Schwere Nebel brüten
Und dn, armer Rosenstrauch,
Treibst noch immer Blüten?
Sieh, der Winter, rauh und kalt,
Wird dich bald bezwingen,
Willst du gegen Sturmgewalt,
Wenn auch fruchtlos, ringen?
[Spaltenumbruch]
Überreich ja hinsteht du,
Dir und uns zur Wonne,
Sprich, was gingst du nicht zur Ruh
Mit der Junisonne?
Gleichst dem Schwärmer ganz und gar,
Strauch mit deinen Rosen!
Ob das Alter auch das Haar
Bleiche dem Ruhelosen,
Ob geknickt zu Boden fällt
Blüte ihm um Blüte,
Schwärmend blickt er in die Welt —
Frühling im Gemüte!
[Ende Spaltensatz]

Die Balladen, die meist tirolischem Lokal und tirolischer Geschichte ent¬
nommen sind, zeichnen sich durch Bewegung und Frische aus. „Der schiefe Turm
von Terlaan" hat für seine lustige Pointe mit Glück den Ton des Volksliedes
nachgeahmt. Die sechs Übersetzungen, die das Bändchen schließe«, dürften ein
größeres Publikum finden als die Gelegenheitsgedichte rein persönlichen Cha¬
rakters. Das bedeutendste der übertragenen Stücke ist „Das Lied vom Hemd"
des Thomas Hood.

Eine Erscheinung von überraschend erfreulicher Art sind die Lieder vom
goldenen Horn von Karl Foy (Leipzig, Liebeskind, 1888). Hier gewinnt
man das Gefühl, ein wahrhaft berufenes lyrisches Naturell kennen zu lernen.
Diese Lieder sind von einer so reifen, abgeklärten Schönheit, von einer so ein¬
fachen Liebenswürdigkeit, von einem so hohen Adel der Form, daß man nicht
müde wird, sie immer wieder zu lesen. Foy weiß eine große Anzahl von
Stimmungen anzuschlagen, und auch in dieser Beweglichkeit seines Gemütes,
welches bald sehnsüchtig zu träumen, bald scherzend zu kosen weiß, bald tief be¬
trachtet, bald geflügelte Epigramme schmiedet, bekundet sich die echt lyrische
Anlage. Denn der rechte Lyriker ist ein Mensch, dessen Seele Thüren und
Fenster zum Eintritte der Sinnenwelt immer geöffnet hat. Er ist von
keiner Idee beherrscht, nicht einmal von einer Grundstimmung, er ist aber doch
konsequent, zwar nicht wie der Denker, aber wie die Natur. Ein solcher Mensch
ist Karl Foy. Irgend ein Schicksal, welches es war, sagt er nicht, hat ihn in
den Orient, nach Konstantinopel, an den Bosporus, an die Enge der Darda¬
nellen geführt. Was er dort empfunden, erlebt hat, aber nicht bloß dies allein,
hat er besungen. Nicht über den Orient sprechen, sondern aus dem Orient stammen


Grenzboten II. 1L33. 79
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[0633] Neue Lyrik. das vergessen unsre Pessimisten, und auch Graf Wickenburg ist hierin der Sohn seiner Zeit — einer Zeit, die nicht den Mut zu leben hat. Wickenburgs Gedichtbuch enthält Naturbilder, Stimmungsgedichte, Spruch- uiid Lehrhaftes, Balladen und Gelegenheitsgedichte. Das Gedicht „Spätroscn" scheint uns das hübscheste seiner Naturbilder. Herbst versenkte die Natur Rings in tiefe Trauer, Und es frösteln Wald und Flur, Wie im Fieberschauer. Eisig ist der Winde Hauch, Schwere Nebel brüten Und dn, armer Rosenstrauch, Treibst noch immer Blüten? Sieh, der Winter, rauh und kalt, Wird dich bald bezwingen, Willst du gegen Sturmgewalt, Wenn auch fruchtlos, ringen? Überreich ja hinsteht du, Dir und uns zur Wonne, Sprich, was gingst du nicht zur Ruh Mit der Junisonne? Gleichst dem Schwärmer ganz und gar, Strauch mit deinen Rosen! Ob das Alter auch das Haar Bleiche dem Ruhelosen, Ob geknickt zu Boden fällt Blüte ihm um Blüte, Schwärmend blickt er in die Welt — Frühling im Gemüte! Die Balladen, die meist tirolischem Lokal und tirolischer Geschichte ent¬ nommen sind, zeichnen sich durch Bewegung und Frische aus. „Der schiefe Turm von Terlaan" hat für seine lustige Pointe mit Glück den Ton des Volksliedes nachgeahmt. Die sechs Übersetzungen, die das Bändchen schließe«, dürften ein größeres Publikum finden als die Gelegenheitsgedichte rein persönlichen Cha¬ rakters. Das bedeutendste der übertragenen Stücke ist „Das Lied vom Hemd" des Thomas Hood. Eine Erscheinung von überraschend erfreulicher Art sind die Lieder vom goldenen Horn von Karl Foy (Leipzig, Liebeskind, 1888). Hier gewinnt man das Gefühl, ein wahrhaft berufenes lyrisches Naturell kennen zu lernen. Diese Lieder sind von einer so reifen, abgeklärten Schönheit, von einer so ein¬ fachen Liebenswürdigkeit, von einem so hohen Adel der Form, daß man nicht müde wird, sie immer wieder zu lesen. Foy weiß eine große Anzahl von Stimmungen anzuschlagen, und auch in dieser Beweglichkeit seines Gemütes, welches bald sehnsüchtig zu träumen, bald scherzend zu kosen weiß, bald tief be¬ trachtet, bald geflügelte Epigramme schmiedet, bekundet sich die echt lyrische Anlage. Denn der rechte Lyriker ist ein Mensch, dessen Seele Thüren und Fenster zum Eintritte der Sinnenwelt immer geöffnet hat. Er ist von keiner Idee beherrscht, nicht einmal von einer Grundstimmung, er ist aber doch konsequent, zwar nicht wie der Denker, aber wie die Natur. Ein solcher Mensch ist Karl Foy. Irgend ein Schicksal, welches es war, sagt er nicht, hat ihn in den Orient, nach Konstantinopel, an den Bosporus, an die Enge der Darda¬ nellen geführt. Was er dort empfunden, erlebt hat, aber nicht bloß dies allein, hat er besungen. Nicht über den Orient sprechen, sondern aus dem Orient stammen Grenzboten II. 1L33. 79

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/633>, abgerufen am 28.07.2024.