Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Neue Lyrik.

hat, zeigt sich dieselbe Richtung. In dem Gedichte "Geteilte Empfindung"
gesteht er es geradezu, daß er nicht den Mut habe,

Mit frohem Auge in die Welt zu schauen,
Drein so viel Augen blicken rotgeweint --

obgleich sich doch Wickenburg über sein Schicksal nicht beklagen kann, das ihm
das Glück des Adels, des Reichtums, der Liebe, der Familie zur Genüge ge¬
boten hat.

Wenn ich, gesättigt, andre hungern sehe,
Muß mir nicht schamrot ans der Wange glühn?
Wo so viel Elend sprießt und Qual und Wehe,
Darf ich die Rosen pflücken, die mir blühn?
Drum drückt mein Glück mich oft, als wär's vermessen
Und das Behagen dran ist mir verwehrt,
Denn glücklich sein heißt andrer Leid vergessen,
Und kaun ich dies -- was bin ich selber wert?

Eine sehr ehrenwerte Gesinnung, ohne Zweifel, aber ebenso zweifellos nicht die
Sprache eines starken dichterischen Naturells. Anzunehmen, daß dieses Gedicht
bloß eine Art von Stoßgebetlein gegen den Neid der Götter sein solle, geht
doch nicht an, dafür ist die weiche Sentimentalität des Dichters doch zu ehrlich;
als Ausdruck einer Gesinnung aber deutet es auf keinen ganz gesunden Zu¬
stand hin. Wer möchte nicht gleich mit so einem Grafen tauschen? Oder viel¬
mehr: wer möchte nicht tausendmal lieber wünschen, dieser Dichter, den das
launische Schicksal doch nun einmal sorgenlos und unabhängig, äußerlich glück¬
lich in die Welt gestellt hat, wäre eine naive Natur, ein unbefangener Mensch,
der mit der unschuldigen Selbstsucht eines starken Herzens sich seiner Macht
und seines Glückes freute, der das Leben auf seinen höchsten Höhen in vollen
Zügen genösse, um aus dieser Existenz heraus, die ihn über die Alltagsmisere
so vieler Kollegen in Apoll hinweghcbt, berauschende Lieder, entzückende Märchen
zu singen? Ist denn die Ausübung des künstlerischen Berufes nicht selbst eine
sittliche Thätigkeit? Verleihe die Schöpfung von Dichtungen ihrem Schöpfer
keinen sittlichen Wert? Haben heitere oder erheiternde Gesänge eines Glück¬
lichen nicht ihre Berechtigung? Uns scheinen sie wertvoller zu sein als die ge¬
reimte Teilnahme eines guten Herzens an dem Elende der Welt, das uns seit
den Zeiten der Erzväter bekannt ist. Ja sogar das bloße Schauspiel einer
großen, freien, unvcrkümmerten Menschenbildung dünkt uns für das Ganze der
menschlichen Gesellschaft wertvoller, als jene lyrische Teilnahme, denkt eine solche
Erscheinung erhebt die Entbehrenden, ohne ihren Neid zu erwecken, erfrischt und
befeuert die Unmutigen, die eines Vorbilds bedürfen, um sich aufzurichten, wäh¬
rend in zahllosen modernen Gedichtsammlungen das Elend der Welt von wirk¬
lich entbehrenden ausführlich genug beklagt wird. Daß die Kunst den himm¬
lischen Beruf habe, zu erheben, zu trösten, das Lebensgefühl positiv zu fördern,


Neue Lyrik.

hat, zeigt sich dieselbe Richtung. In dem Gedichte „Geteilte Empfindung"
gesteht er es geradezu, daß er nicht den Mut habe,

Mit frohem Auge in die Welt zu schauen,
Drein so viel Augen blicken rotgeweint —

obgleich sich doch Wickenburg über sein Schicksal nicht beklagen kann, das ihm
das Glück des Adels, des Reichtums, der Liebe, der Familie zur Genüge ge¬
boten hat.

Wenn ich, gesättigt, andre hungern sehe,
Muß mir nicht schamrot ans der Wange glühn?
Wo so viel Elend sprießt und Qual und Wehe,
Darf ich die Rosen pflücken, die mir blühn?
Drum drückt mein Glück mich oft, als wär's vermessen
Und das Behagen dran ist mir verwehrt,
Denn glücklich sein heißt andrer Leid vergessen,
Und kaun ich dies — was bin ich selber wert?

Eine sehr ehrenwerte Gesinnung, ohne Zweifel, aber ebenso zweifellos nicht die
Sprache eines starken dichterischen Naturells. Anzunehmen, daß dieses Gedicht
bloß eine Art von Stoßgebetlein gegen den Neid der Götter sein solle, geht
doch nicht an, dafür ist die weiche Sentimentalität des Dichters doch zu ehrlich;
als Ausdruck einer Gesinnung aber deutet es auf keinen ganz gesunden Zu¬
stand hin. Wer möchte nicht gleich mit so einem Grafen tauschen? Oder viel¬
mehr: wer möchte nicht tausendmal lieber wünschen, dieser Dichter, den das
launische Schicksal doch nun einmal sorgenlos und unabhängig, äußerlich glück¬
lich in die Welt gestellt hat, wäre eine naive Natur, ein unbefangener Mensch,
der mit der unschuldigen Selbstsucht eines starken Herzens sich seiner Macht
und seines Glückes freute, der das Leben auf seinen höchsten Höhen in vollen
Zügen genösse, um aus dieser Existenz heraus, die ihn über die Alltagsmisere
so vieler Kollegen in Apoll hinweghcbt, berauschende Lieder, entzückende Märchen
zu singen? Ist denn die Ausübung des künstlerischen Berufes nicht selbst eine
sittliche Thätigkeit? Verleihe die Schöpfung von Dichtungen ihrem Schöpfer
keinen sittlichen Wert? Haben heitere oder erheiternde Gesänge eines Glück¬
lichen nicht ihre Berechtigung? Uns scheinen sie wertvoller zu sein als die ge¬
reimte Teilnahme eines guten Herzens an dem Elende der Welt, das uns seit
den Zeiten der Erzväter bekannt ist. Ja sogar das bloße Schauspiel einer
großen, freien, unvcrkümmerten Menschenbildung dünkt uns für das Ganze der
menschlichen Gesellschaft wertvoller, als jene lyrische Teilnahme, denkt eine solche
Erscheinung erhebt die Entbehrenden, ohne ihren Neid zu erwecken, erfrischt und
befeuert die Unmutigen, die eines Vorbilds bedürfen, um sich aufzurichten, wäh¬
rend in zahllosen modernen Gedichtsammlungen das Elend der Welt von wirk¬
lich entbehrenden ausführlich genug beklagt wird. Daß die Kunst den himm¬
lischen Beruf habe, zu erheben, zu trösten, das Lebensgefühl positiv zu fördern,


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0632" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/203409"/>
          <fw type="header" place="top"> Neue Lyrik.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1974" prev="#ID_1973" next="#ID_1975"> hat, zeigt sich dieselbe Richtung. In dem Gedichte &#x201E;Geteilte Empfindung"<lb/>
gesteht er es geradezu, daß er nicht den Mut habe,</p><lb/>
          <lg xml:id="POEMID_81" type="poem">
            <l> Mit frohem Auge in die Welt zu schauen,<lb/>
Drein so viel Augen blicken rotgeweint &#x2014;</l>
          </lg><lb/>
          <p xml:id="ID_1975" prev="#ID_1974" next="#ID_1976"> obgleich sich doch Wickenburg über sein Schicksal nicht beklagen kann, das ihm<lb/>
das Glück des Adels, des Reichtums, der Liebe, der Familie zur Genüge ge¬<lb/>
boten hat.</p><lb/>
          <lg xml:id="POEMID_82" type="poem" next="#POEMID_83">
            <l> Wenn ich, gesättigt, andre hungern sehe,<lb/>
Muß mir nicht schamrot ans der Wange glühn?<lb/>
Wo so viel Elend sprießt und Qual und Wehe,<lb/>
Darf ich die Rosen pflücken, die mir blühn?</l>
          </lg><lb/>
          <lg xml:id="POEMID_83" prev="#POEMID_82" type="poem">
            <l> Drum drückt mein Glück mich oft, als wär's vermessen<lb/>
Und das Behagen dran ist mir verwehrt,<lb/>
Denn glücklich sein heißt andrer Leid vergessen,<lb/>
Und kaun ich dies &#x2014; was bin ich selber wert?</l>
          </lg><lb/>
          <p xml:id="ID_1976" prev="#ID_1975" next="#ID_1977"> Eine sehr ehrenwerte Gesinnung, ohne Zweifel, aber ebenso zweifellos nicht die<lb/>
Sprache eines starken dichterischen Naturells. Anzunehmen, daß dieses Gedicht<lb/>
bloß eine Art von Stoßgebetlein gegen den Neid der Götter sein solle, geht<lb/>
doch nicht an, dafür ist die weiche Sentimentalität des Dichters doch zu ehrlich;<lb/>
als Ausdruck einer Gesinnung aber deutet es auf keinen ganz gesunden Zu¬<lb/>
stand hin. Wer möchte nicht gleich mit so einem Grafen tauschen? Oder viel¬<lb/>
mehr: wer möchte nicht tausendmal lieber wünschen, dieser Dichter, den das<lb/>
launische Schicksal doch nun einmal sorgenlos und unabhängig, äußerlich glück¬<lb/>
lich in die Welt gestellt hat, wäre eine naive Natur, ein unbefangener Mensch,<lb/>
der mit der unschuldigen Selbstsucht eines starken Herzens sich seiner Macht<lb/>
und seines Glückes freute, der das Leben auf seinen höchsten Höhen in vollen<lb/>
Zügen genösse, um aus dieser Existenz heraus, die ihn über die Alltagsmisere<lb/>
so vieler Kollegen in Apoll hinweghcbt, berauschende Lieder, entzückende Märchen<lb/>
zu singen? Ist denn die Ausübung des künstlerischen Berufes nicht selbst eine<lb/>
sittliche Thätigkeit? Verleihe die Schöpfung von Dichtungen ihrem Schöpfer<lb/>
keinen sittlichen Wert? Haben heitere oder erheiternde Gesänge eines Glück¬<lb/>
lichen nicht ihre Berechtigung? Uns scheinen sie wertvoller zu sein als die ge¬<lb/>
reimte Teilnahme eines guten Herzens an dem Elende der Welt, das uns seit<lb/>
den Zeiten der Erzväter bekannt ist. Ja sogar das bloße Schauspiel einer<lb/>
großen, freien, unvcrkümmerten Menschenbildung dünkt uns für das Ganze der<lb/>
menschlichen Gesellschaft wertvoller, als jene lyrische Teilnahme, denkt eine solche<lb/>
Erscheinung erhebt die Entbehrenden, ohne ihren Neid zu erwecken, erfrischt und<lb/>
befeuert die Unmutigen, die eines Vorbilds bedürfen, um sich aufzurichten, wäh¬<lb/>
rend in zahllosen modernen Gedichtsammlungen das Elend der Welt von wirk¬<lb/>
lich entbehrenden ausführlich genug beklagt wird. Daß die Kunst den himm¬<lb/>
lischen Beruf habe, zu erheben, zu trösten, das Lebensgefühl positiv zu fördern,</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0632] Neue Lyrik. hat, zeigt sich dieselbe Richtung. In dem Gedichte „Geteilte Empfindung" gesteht er es geradezu, daß er nicht den Mut habe, Mit frohem Auge in die Welt zu schauen, Drein so viel Augen blicken rotgeweint — obgleich sich doch Wickenburg über sein Schicksal nicht beklagen kann, das ihm das Glück des Adels, des Reichtums, der Liebe, der Familie zur Genüge ge¬ boten hat. Wenn ich, gesättigt, andre hungern sehe, Muß mir nicht schamrot ans der Wange glühn? Wo so viel Elend sprießt und Qual und Wehe, Darf ich die Rosen pflücken, die mir blühn? Drum drückt mein Glück mich oft, als wär's vermessen Und das Behagen dran ist mir verwehrt, Denn glücklich sein heißt andrer Leid vergessen, Und kaun ich dies — was bin ich selber wert? Eine sehr ehrenwerte Gesinnung, ohne Zweifel, aber ebenso zweifellos nicht die Sprache eines starken dichterischen Naturells. Anzunehmen, daß dieses Gedicht bloß eine Art von Stoßgebetlein gegen den Neid der Götter sein solle, geht doch nicht an, dafür ist die weiche Sentimentalität des Dichters doch zu ehrlich; als Ausdruck einer Gesinnung aber deutet es auf keinen ganz gesunden Zu¬ stand hin. Wer möchte nicht gleich mit so einem Grafen tauschen? Oder viel¬ mehr: wer möchte nicht tausendmal lieber wünschen, dieser Dichter, den das launische Schicksal doch nun einmal sorgenlos und unabhängig, äußerlich glück¬ lich in die Welt gestellt hat, wäre eine naive Natur, ein unbefangener Mensch, der mit der unschuldigen Selbstsucht eines starken Herzens sich seiner Macht und seines Glückes freute, der das Leben auf seinen höchsten Höhen in vollen Zügen genösse, um aus dieser Existenz heraus, die ihn über die Alltagsmisere so vieler Kollegen in Apoll hinweghcbt, berauschende Lieder, entzückende Märchen zu singen? Ist denn die Ausübung des künstlerischen Berufes nicht selbst eine sittliche Thätigkeit? Verleihe die Schöpfung von Dichtungen ihrem Schöpfer keinen sittlichen Wert? Haben heitere oder erheiternde Gesänge eines Glück¬ lichen nicht ihre Berechtigung? Uns scheinen sie wertvoller zu sein als die ge¬ reimte Teilnahme eines guten Herzens an dem Elende der Welt, das uns seit den Zeiten der Erzväter bekannt ist. Ja sogar das bloße Schauspiel einer großen, freien, unvcrkümmerten Menschenbildung dünkt uns für das Ganze der menschlichen Gesellschaft wertvoller, als jene lyrische Teilnahme, denkt eine solche Erscheinung erhebt die Entbehrenden, ohne ihren Neid zu erwecken, erfrischt und befeuert die Unmutigen, die eines Vorbilds bedürfen, um sich aufzurichten, wäh¬ rend in zahllosen modernen Gedichtsammlungen das Elend der Welt von wirk¬ lich entbehrenden ausführlich genug beklagt wird. Daß die Kunst den himm¬ lischen Beruf habe, zu erheben, zu trösten, das Lebensgefühl positiv zu fördern,

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/632
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/632>, abgerufen am 28.07.2024.