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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr.

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Neue Lyrik.

Ein naiver Lyriker ist also Saar keineswegs, auch nicht im engsten ästhetischen
Sinne genommen. Seine Bilder wirken sehr selten rein, bloß als Zustand, als
Gefühl, es steckt immer ein absichtsvoller Gedanke dahinter, oft die satirische
Tendenz, wie im "Erwachenden Schloß." Versöhnung findet er nur in der un¬
belebten Landschaft. Auch seine Sprache ist daher nicht die der sogenannten
naiven Lyriker, sie ist nicht am Volksliede geschult, aber auch nicht bei Geibel
oder Platen. Sie ist, ohne anschaulich zu werden, konkret ohne Bildlichkeit.
Metaphern sind selten bei ihm; er meidet die uneigentlichen Ausdrücke und wird
daher häufig ganz prosaisch. Seinen "freien Rhythmen" wird man kaum einen
poetischen Sprechton zugestehen können: abgeteilte rhythmische Prosa, weiter
nichts. Er hütet sich nicht einmal vor Fremdwörtern: Die Wiener Votivkirche
ragt wie ein "steinerner Anachronismus" in die Höhe u. dergl. in. Wenig ge¬
schmackvoll ist folgendes Bild:

Und so entbrennt heute mein Lied
Als reinste Naphthaflcunme der Mitempfindung --
Und nicht als qualmender Docht
Im mifjdnftcnden Öle
Schröder Poetaster-Eitelkeit u. s. w.

Unpoetisch ist es, gar litterarische Zitate anzubringen, wie es Saar in dem
Gedichte auf die Votivkirche thut, wo er an Hans Hopfens "Juschu" anknüpft,
und wieder^ in dem Gedicht auf eine Amerikanerin: "die Bret Harte uns hat
geschildert."

Von der ersten Auflage unterscheidet sich die uns vorliegende zweite zu
ihrem Vorteil durch viele neu hinzugekommene gute Stücke und durch die Aus¬
scheidung von schwächeren, namentlich der nicht ohne Grund getadelten Sonette
"Laienpolitik."

Den Gedichten des Grafen Albrecht Wickenburg (zweite, veränderte
Auflage, Wien, Gerold, 1888) läßt sich zwar weder poetische Originalität noch
hervorragende Kunst oder besondre Schönheit der Sprache nachrühmen, aber
das ganze Bändchen ist doch wegen seines Verfassers interessant. Wickenbnrg
ist eine Erscheinung, der im österreichischen Hochadel nicht häufig zu begegnen
sein dürfte. Er ist ein guter Österreicher, ja ein treuer Freund der Dynastie, der
Erzherzog Albrecht war sogar sein Pate, aber das hinderte ihn nicht, ein guter
Deutscher zu sein und sich lebhaft für die deutsche Sache in Österreich auszu¬
sprechen. Nicht minder steht zu seiner vornehmen Herkunft und materiell ganz
unabhängigen Stellung seine aufrichtige Teilnahme für das niedere Volk, für
die Armut, für das Proletariat im Gegensatze. Dieser Graf ist bei näherem
Zusehen ein wahrer Demokrat. Er hat sein Interesse an der sozialen Frage
nicht wie Saar in einzelnen Bildern dichterisch aussprechen können, aber in der
Wahl der Gedichte, die er aus dem Englischen und Französischen übertragen


Neue Lyrik.

Ein naiver Lyriker ist also Saar keineswegs, auch nicht im engsten ästhetischen
Sinne genommen. Seine Bilder wirken sehr selten rein, bloß als Zustand, als
Gefühl, es steckt immer ein absichtsvoller Gedanke dahinter, oft die satirische
Tendenz, wie im „Erwachenden Schloß." Versöhnung findet er nur in der un¬
belebten Landschaft. Auch seine Sprache ist daher nicht die der sogenannten
naiven Lyriker, sie ist nicht am Volksliede geschult, aber auch nicht bei Geibel
oder Platen. Sie ist, ohne anschaulich zu werden, konkret ohne Bildlichkeit.
Metaphern sind selten bei ihm; er meidet die uneigentlichen Ausdrücke und wird
daher häufig ganz prosaisch. Seinen „freien Rhythmen" wird man kaum einen
poetischen Sprechton zugestehen können: abgeteilte rhythmische Prosa, weiter
nichts. Er hütet sich nicht einmal vor Fremdwörtern: Die Wiener Votivkirche
ragt wie ein „steinerner Anachronismus" in die Höhe u. dergl. in. Wenig ge¬
schmackvoll ist folgendes Bild:

Und so entbrennt heute mein Lied
Als reinste Naphthaflcunme der Mitempfindung —
Und nicht als qualmender Docht
Im mifjdnftcnden Öle
Schröder Poetaster-Eitelkeit u. s. w.

Unpoetisch ist es, gar litterarische Zitate anzubringen, wie es Saar in dem
Gedichte auf die Votivkirche thut, wo er an Hans Hopfens „Juschu" anknüpft,
und wieder^ in dem Gedicht auf eine Amerikanerin: „die Bret Harte uns hat
geschildert."

Von der ersten Auflage unterscheidet sich die uns vorliegende zweite zu
ihrem Vorteil durch viele neu hinzugekommene gute Stücke und durch die Aus¬
scheidung von schwächeren, namentlich der nicht ohne Grund getadelten Sonette
„Laienpolitik."

Den Gedichten des Grafen Albrecht Wickenburg (zweite, veränderte
Auflage, Wien, Gerold, 1888) läßt sich zwar weder poetische Originalität noch
hervorragende Kunst oder besondre Schönheit der Sprache nachrühmen, aber
das ganze Bändchen ist doch wegen seines Verfassers interessant. Wickenbnrg
ist eine Erscheinung, der im österreichischen Hochadel nicht häufig zu begegnen
sein dürfte. Er ist ein guter Österreicher, ja ein treuer Freund der Dynastie, der
Erzherzog Albrecht war sogar sein Pate, aber das hinderte ihn nicht, ein guter
Deutscher zu sein und sich lebhaft für die deutsche Sache in Österreich auszu¬
sprechen. Nicht minder steht zu seiner vornehmen Herkunft und materiell ganz
unabhängigen Stellung seine aufrichtige Teilnahme für das niedere Volk, für
die Armut, für das Proletariat im Gegensatze. Dieser Graf ist bei näherem
Zusehen ein wahrer Demokrat. Er hat sein Interesse an der sozialen Frage
nicht wie Saar in einzelnen Bildern dichterisch aussprechen können, aber in der
Wahl der Gedichte, die er aus dem Englischen und Französischen übertragen


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[0631] Neue Lyrik. Ein naiver Lyriker ist also Saar keineswegs, auch nicht im engsten ästhetischen Sinne genommen. Seine Bilder wirken sehr selten rein, bloß als Zustand, als Gefühl, es steckt immer ein absichtsvoller Gedanke dahinter, oft die satirische Tendenz, wie im „Erwachenden Schloß." Versöhnung findet er nur in der un¬ belebten Landschaft. Auch seine Sprache ist daher nicht die der sogenannten naiven Lyriker, sie ist nicht am Volksliede geschult, aber auch nicht bei Geibel oder Platen. Sie ist, ohne anschaulich zu werden, konkret ohne Bildlichkeit. Metaphern sind selten bei ihm; er meidet die uneigentlichen Ausdrücke und wird daher häufig ganz prosaisch. Seinen „freien Rhythmen" wird man kaum einen poetischen Sprechton zugestehen können: abgeteilte rhythmische Prosa, weiter nichts. Er hütet sich nicht einmal vor Fremdwörtern: Die Wiener Votivkirche ragt wie ein „steinerner Anachronismus" in die Höhe u. dergl. in. Wenig ge¬ schmackvoll ist folgendes Bild: Und so entbrennt heute mein Lied Als reinste Naphthaflcunme der Mitempfindung — Und nicht als qualmender Docht Im mifjdnftcnden Öle Schröder Poetaster-Eitelkeit u. s. w. Unpoetisch ist es, gar litterarische Zitate anzubringen, wie es Saar in dem Gedichte auf die Votivkirche thut, wo er an Hans Hopfens „Juschu" anknüpft, und wieder^ in dem Gedicht auf eine Amerikanerin: „die Bret Harte uns hat geschildert." Von der ersten Auflage unterscheidet sich die uns vorliegende zweite zu ihrem Vorteil durch viele neu hinzugekommene gute Stücke und durch die Aus¬ scheidung von schwächeren, namentlich der nicht ohne Grund getadelten Sonette „Laienpolitik." Den Gedichten des Grafen Albrecht Wickenburg (zweite, veränderte Auflage, Wien, Gerold, 1888) läßt sich zwar weder poetische Originalität noch hervorragende Kunst oder besondre Schönheit der Sprache nachrühmen, aber das ganze Bändchen ist doch wegen seines Verfassers interessant. Wickenbnrg ist eine Erscheinung, der im österreichischen Hochadel nicht häufig zu begegnen sein dürfte. Er ist ein guter Österreicher, ja ein treuer Freund der Dynastie, der Erzherzog Albrecht war sogar sein Pate, aber das hinderte ihn nicht, ein guter Deutscher zu sein und sich lebhaft für die deutsche Sache in Österreich auszu¬ sprechen. Nicht minder steht zu seiner vornehmen Herkunft und materiell ganz unabhängigen Stellung seine aufrichtige Teilnahme für das niedere Volk, für die Armut, für das Proletariat im Gegensatze. Dieser Graf ist bei näherem Zusehen ein wahrer Demokrat. Er hat sein Interesse an der sozialen Frage nicht wie Saar in einzelnen Bildern dichterisch aussprechen können, aber in der Wahl der Gedichte, die er aus dem Englischen und Französischen übertragen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/631>, abgerufen am 28.07.2024.