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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr.

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Die zweite Session des jetzigen Reichstags.

ganzen Wahlkörperschaft einen der schlechtesten Dienste erwiesen habe. Auch sei
der Punkt am gewissesten einer Prüfung zu unterziehen. Nur meinte Herr
Bamberger damals, es sei nicht anzunehmen, daß solche Vorschläge Unterstützung
finden würden; es fehle das Gefühl der großen Gesamtinteressen. Jetzt, wo
die Vorschläge durchgebracht werden konnten, war dies für Herrn Bamberger
und ebenso für Herrn Windthorst, der sich in ähnlicher Stellung befand wie
jener, ganz unthunlich, weil eine Mehrheit von Konservativen und National-
liberalen in Verbindung mit der Negierung die Änderung für wünschenswert
ansah. Und was geschah nnn? Herr Bamberger fand sich mit einem Schnorrer¬
witz ab: "Wenn man, wie ich, vierzig Jahre mit der Feder sündigt, so wird
man freilich finden, daß nicht immer alles, was wir geschrieben haben, zu
einander paßt." Herr Windthorst aber kam von seiner frühern Ansicht für
eine längere Legislaturperiode zurück, weil es die allerungünstigste Zeit für Ver¬
fassungsänderungen sei, da noch nicht "normale Zustände" eingetreten seien.
Diese normalen Zustände sind nämlich für Herrn Windthorst erst eingetreten,
wenn die "Schultyrannei" aufhört und die Kirche so herrscht, daß sie den
Bildungsstand im Staate vorschreibt.

Am 6. Februar hielt Fürst Bismarck seine bei Gelegenheit der Wehrvorlage
erwartete Rede. Im Hintergrunde derselben stand folgender Vorgang. Ungefähr
zu gleicher Zeit mit der Wehrvorlage hatte der Reichs- und Staatsanzeiger
das am 7. Oktober 1879 mit der österreichisch-ungarischen Monarchie abgeschlossene
Bündnis veröffentlicht, "um den Zweifeln ein Ende zu machen, welche an den
rein defensiven Intentionen desselben auf verschiednen Seiten gehegt und zu
verschiednen Zwecken verwertet werden." Man sah in dieser Veröffentlichung
ein Zeichen, daß die russischen Rüstungen in hohem Grade als bedrohlich er¬
achtet wurden. Die Veröffentlichung machte darum auch nicht bloß in Wien
und Berlin, sondern in der ganzen europäischen Welt ungeheures Aufsehen.
Man sagte sich Wohl, daß dieses "Schach dem Zaren," zu dem man sich jetzt
entschlossen hatte, zur Voraussetzung habe, daß die in dem Vertrage selbst vor¬
gesehene vertrauliche Mitteilung an den Zaren nicht den gewünschten Erfolg
gehabt habe. Gerade diese Unzugänglichkeit des russischen Herrschers kenn¬
zeichnete die Lage als furchtbar ernst.

Da kam die Rede Bismarcks am 6. Februar. Die Spannung und Er¬
regung an diesem Montage waren so beispiellos, wie sie seit Bestehen des
deutschen Reichstags kaum je gewesen ist. Auch der Andrang von seiten des
Publikums innerhalb und außerhalb des Reichstagsgebäudes war nie gewaltiger.
Im Neichstagsgebäude selbst ging vor der Ankunft des Kanzlers "ein brausender
Lärm, ein betäubendes Durcheinander von Stimmen durch die Räume, wie eme
Meeresbrandung." Auf den Zuschauertribünen stand und saß die Menge Kopf
an Kopf; auf der Jourualistcntribüne waren sämtliche Zeitungen des Kontinents
dnrch Spezialberichterstcitter vertreten; nach einem Berichte von jenem Tage


Die zweite Session des jetzigen Reichstags.

ganzen Wahlkörperschaft einen der schlechtesten Dienste erwiesen habe. Auch sei
der Punkt am gewissesten einer Prüfung zu unterziehen. Nur meinte Herr
Bamberger damals, es sei nicht anzunehmen, daß solche Vorschläge Unterstützung
finden würden; es fehle das Gefühl der großen Gesamtinteressen. Jetzt, wo
die Vorschläge durchgebracht werden konnten, war dies für Herrn Bamberger
und ebenso für Herrn Windthorst, der sich in ähnlicher Stellung befand wie
jener, ganz unthunlich, weil eine Mehrheit von Konservativen und National-
liberalen in Verbindung mit der Negierung die Änderung für wünschenswert
ansah. Und was geschah nnn? Herr Bamberger fand sich mit einem Schnorrer¬
witz ab: „Wenn man, wie ich, vierzig Jahre mit der Feder sündigt, so wird
man freilich finden, daß nicht immer alles, was wir geschrieben haben, zu
einander paßt." Herr Windthorst aber kam von seiner frühern Ansicht für
eine längere Legislaturperiode zurück, weil es die allerungünstigste Zeit für Ver¬
fassungsänderungen sei, da noch nicht „normale Zustände" eingetreten seien.
Diese normalen Zustände sind nämlich für Herrn Windthorst erst eingetreten,
wenn die „Schultyrannei" aufhört und die Kirche so herrscht, daß sie den
Bildungsstand im Staate vorschreibt.

Am 6. Februar hielt Fürst Bismarck seine bei Gelegenheit der Wehrvorlage
erwartete Rede. Im Hintergrunde derselben stand folgender Vorgang. Ungefähr
zu gleicher Zeit mit der Wehrvorlage hatte der Reichs- und Staatsanzeiger
das am 7. Oktober 1879 mit der österreichisch-ungarischen Monarchie abgeschlossene
Bündnis veröffentlicht, „um den Zweifeln ein Ende zu machen, welche an den
rein defensiven Intentionen desselben auf verschiednen Seiten gehegt und zu
verschiednen Zwecken verwertet werden." Man sah in dieser Veröffentlichung
ein Zeichen, daß die russischen Rüstungen in hohem Grade als bedrohlich er¬
achtet wurden. Die Veröffentlichung machte darum auch nicht bloß in Wien
und Berlin, sondern in der ganzen europäischen Welt ungeheures Aufsehen.
Man sagte sich Wohl, daß dieses „Schach dem Zaren," zu dem man sich jetzt
entschlossen hatte, zur Voraussetzung habe, daß die in dem Vertrage selbst vor¬
gesehene vertrauliche Mitteilung an den Zaren nicht den gewünschten Erfolg
gehabt habe. Gerade diese Unzugänglichkeit des russischen Herrschers kenn¬
zeichnete die Lage als furchtbar ernst.

Da kam die Rede Bismarcks am 6. Februar. Die Spannung und Er¬
regung an diesem Montage waren so beispiellos, wie sie seit Bestehen des
deutschen Reichstags kaum je gewesen ist. Auch der Andrang von seiten des
Publikums innerhalb und außerhalb des Reichstagsgebäudes war nie gewaltiger.
Im Neichstagsgebäude selbst ging vor der Ankunft des Kanzlers „ein brausender
Lärm, ein betäubendes Durcheinander von Stimmen durch die Räume, wie eme
Meeresbrandung." Auf den Zuschauertribünen stand und saß die Menge Kopf
an Kopf; auf der Jourualistcntribüne waren sämtliche Zeitungen des Kontinents
dnrch Spezialberichterstcitter vertreten; nach einem Berichte von jenem Tage


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/63>, abgerufen am 28.07.2024.