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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr.

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Amerikanische und deutsche Gewerbeschiedsgerichte und Linigungsämtcr.

bei dem gegenwärtigen Stande der Arbeiterorganisation noch vereinzelte Aus¬
nahmen, und nur einem einzigen Gewerbe, den Buchdruckern, ist es bisher
gelungen, eine vernünftige Regelung der Lohnfrage im größern Maßstabe durch¬
zusetzen, indem seit anderthalb Jahrzehnten zwischen dem Prinzipal- und dem
Gehilfenverbande für ganz Deutschland giltige Normaltarife periodisch vereinbart
worden sind. Indessen bestätigt gerade die Geschichte dieses Gewerbes die Er¬
fahrung, daß solche lediglich den Beteiligten überlassene Einrichtungen im ent¬
scheidenden Augenblick regelmäßig versagen, weil es an einer über den Parteien
stehenden Macht fehlt, die mit ihrem Gewicht und Ansehen für eine friedliche
Ausgleichung eintritt und nötigenfalls eine solche im Interesse der Beteiligten
wie der Allgemeinheit erzwingen kann. Es bedarf keiner weitern Ausführung,
daß diese zwei Dinge -- die staatliche Gewährleistung eines unabhängigen
Schiedsorganes und des erforderlichen Durchführungszwanges -- den sozial¬
politischen Angelpunkt der ganzen Einrichtung bilden.

Dieselbe steht auch durchaus auf dem Boden der Gewerbeordnung,
indem sie die grundsätzliche Freiheit des einzelnen Arbeitsvertrages (Z 105)
und das individuelle Kündigungsrecht (Z 122) unberührt läßt. Die Ein¬
führung jenes besondern, sozusagen kollektiven Küudigungsrechts erschien je¬
doch nötig, um den jeweiligen und eigenartigen Umständen besser Rechnung
tragen zu können, insbesondre um in Form der Konventionalstrafe den durch
Nichteinhaltung der Kündigungsfrist geschädigten -- unbeschadet des zivilrechtlichen
Anspruchs auf Schadenersatz -- eine sofortige Genugthuung zu bieten und durch
Androhung dieser Rechtsfolgen vor allem eine angemessene Übcrgangsfrist zu
sichern, binnen welcher die Gekündigten sich anderweit Arbeit oder Arbeiter ver¬
schaffen können. Es leuchtet ein, daß die Sicherstellung einer solchen Übergangs¬
frist für die friedliche und vernünftige Regelung der Arbeitsverhältnisse und des
ganzen Arbeitsmarktes von der größten Bedeutung ist.

Aus diesem Grunde wird man sich mit der bloß zivilrechtlichen Bürgschaft
nicht begnügen können, besonders da diese den praktischen Bedürfnissen nicht
immer genügen dürfte, namentlich wenn es sich um Lohnstreitigkeiten von größerer
Ausdehnung, z. B. für einen ganzen Gewerbszweig, handelt. Es müßte viel¬
mehr noch die strafrechtliche Bürgschaft hinzutreten, d. h. es müßten Arbeits¬
einstellungen und Arbeiterentlassungen, die den öffentlichen Frieden und das
Gemeinwohl zu gefährden geeignet sind, im staatlichen Interesse nach dem Vor¬
bilde ähnlicher Vorschriften unter Strafe gestellt werden, etwa durch folgenden
Zusatz zu Z 153 der Gewerbeordnung: "Eine Masseneinstellung der Arbeit oder
Massenentlassung von Arbeitern, mittels welcher günstigere Lohn- und Arbeits¬
bedingungen erzwungen werden sollen, wird an den Urhebern mit Gefängnis
von einem Monat bis zu einem Jahre, an den sonstigen Teilnehmern mit Ge¬
fängnis bis zu drei Monaten bestraft, wenn die ordnungsmäßige Vermittelung
des Einigungsamtes nicht angerufen oder die dabei festgesetzte Kündigungsfrist


Amerikanische und deutsche Gewerbeschiedsgerichte und Linigungsämtcr.

bei dem gegenwärtigen Stande der Arbeiterorganisation noch vereinzelte Aus¬
nahmen, und nur einem einzigen Gewerbe, den Buchdruckern, ist es bisher
gelungen, eine vernünftige Regelung der Lohnfrage im größern Maßstabe durch¬
zusetzen, indem seit anderthalb Jahrzehnten zwischen dem Prinzipal- und dem
Gehilfenverbande für ganz Deutschland giltige Normaltarife periodisch vereinbart
worden sind. Indessen bestätigt gerade die Geschichte dieses Gewerbes die Er¬
fahrung, daß solche lediglich den Beteiligten überlassene Einrichtungen im ent¬
scheidenden Augenblick regelmäßig versagen, weil es an einer über den Parteien
stehenden Macht fehlt, die mit ihrem Gewicht und Ansehen für eine friedliche
Ausgleichung eintritt und nötigenfalls eine solche im Interesse der Beteiligten
wie der Allgemeinheit erzwingen kann. Es bedarf keiner weitern Ausführung,
daß diese zwei Dinge — die staatliche Gewährleistung eines unabhängigen
Schiedsorganes und des erforderlichen Durchführungszwanges — den sozial¬
politischen Angelpunkt der ganzen Einrichtung bilden.

Dieselbe steht auch durchaus auf dem Boden der Gewerbeordnung,
indem sie die grundsätzliche Freiheit des einzelnen Arbeitsvertrages (Z 105)
und das individuelle Kündigungsrecht (Z 122) unberührt läßt. Die Ein¬
führung jenes besondern, sozusagen kollektiven Küudigungsrechts erschien je¬
doch nötig, um den jeweiligen und eigenartigen Umständen besser Rechnung
tragen zu können, insbesondre um in Form der Konventionalstrafe den durch
Nichteinhaltung der Kündigungsfrist geschädigten — unbeschadet des zivilrechtlichen
Anspruchs auf Schadenersatz — eine sofortige Genugthuung zu bieten und durch
Androhung dieser Rechtsfolgen vor allem eine angemessene Übcrgangsfrist zu
sichern, binnen welcher die Gekündigten sich anderweit Arbeit oder Arbeiter ver¬
schaffen können. Es leuchtet ein, daß die Sicherstellung einer solchen Übergangs¬
frist für die friedliche und vernünftige Regelung der Arbeitsverhältnisse und des
ganzen Arbeitsmarktes von der größten Bedeutung ist.

Aus diesem Grunde wird man sich mit der bloß zivilrechtlichen Bürgschaft
nicht begnügen können, besonders da diese den praktischen Bedürfnissen nicht
immer genügen dürfte, namentlich wenn es sich um Lohnstreitigkeiten von größerer
Ausdehnung, z. B. für einen ganzen Gewerbszweig, handelt. Es müßte viel¬
mehr noch die strafrechtliche Bürgschaft hinzutreten, d. h. es müßten Arbeits¬
einstellungen und Arbeiterentlassungen, die den öffentlichen Frieden und das
Gemeinwohl zu gefährden geeignet sind, im staatlichen Interesse nach dem Vor¬
bilde ähnlicher Vorschriften unter Strafe gestellt werden, etwa durch folgenden
Zusatz zu Z 153 der Gewerbeordnung: „Eine Masseneinstellung der Arbeit oder
Massenentlassung von Arbeitern, mittels welcher günstigere Lohn- und Arbeits¬
bedingungen erzwungen werden sollen, wird an den Urhebern mit Gefängnis
von einem Monat bis zu einem Jahre, an den sonstigen Teilnehmern mit Ge¬
fängnis bis zu drei Monaten bestraft, wenn die ordnungsmäßige Vermittelung
des Einigungsamtes nicht angerufen oder die dabei festgesetzte Kündigungsfrist


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/622>, abgerufen am 28.07.2024.