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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr.

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Die zweite Sossion des jetzigen Reichstags.

ist. Was insbesondre das Geschrei wegen Landesverweisung betrifft, so wies mit
vollem Recht der sächsische Bevollmächtigte zum Bundesrat darauf hin, daß die
Agitation mit dem bisher bestehenden Gesetz nicht getroffen werden kann und
daß die Verbannung durchaus keine juristische Ungeheuerlichkeit ist. Denn die
Staatsangehörigkeit ist kein unveräußerliches Gut; kann sie verliehen werden,
so kann sie auch genommen werden; kann ich auf sie verzichten, so kann ich sie
auch verlieren. Wo sichs um das Bestehen des Staates handelt, ist es
Schwachheit, über juristische Zwirnsfaden zu stolpern. Die Agitatoren sind
nicht Arbeiter, sondern Bummler; mögen sie sich den Boden für ihre Völker¬
beglückung wo anders suchen! Das beste Mittel gegen Frechheit, Einschmieren
mit einem eichenen Butterwecken, wie es Luther gegen lüderliche Taugenichtse
empfahl, hat doch noch für lange Zeit keine Aussicht auf Anwendung. Da
müßte erst der Humanitätsschwindel aus den Köpfen hinaus, der solche Frei¬
heitshelden wie Herrn Bamberger, welcher das Sozialistengesetz einfach aufzuheben
rät, möge kommen, was da wolle, für ernst zu nehmende Staatsmänner hält.
Blätter wie die Volkszeitung sahen in der dreitägigen Generaldebatte des Reichs¬
tags über das Sozialistcngcsetz nur einen "vollständigen Sieg der Sozialdemo¬
kratie." Dabei könne man nicht über Dinge hinwegkommen, "über welche das
Gewissen des Volkes nicht hinwegkommen kann und wird." Die Volkszeitung
nennt nämlich ihre Ansicht von den Dingen "das Gewissen des Volkes." Nach
dieser Seite hin wäre denn das Ergebnis der Debatte, welches darin besteht,
daß die Geltung des bisherigen Sozialistengesetzes auf weitere zwei Jahre aus¬
gedehnt wird, nicht von übler Bedeutung. Aber heilsam ist das Schicksal des
Sozialistengesetzes im Reichstage doch nicht gewesen; die Sozialisten, Deutsch¬
freisinnigen und Ultramontanen haben doch die Genugthuung erlebt, daß eine
ihnen verhaßte Vorlage der Negierung zu Falle gebracht worden ist. Das
Leipziger Tageblatt sagt dazu: "Wir wollen nur wünschen, daß diese Verant¬
wortlichkeit Oberer, welche dagegen gestimmt haben) nicht eine allzu schwere sein
möge, und daß nicht erst wie vor zehn Jahren wieder entsetzliche Ereignisse
nötig sein werden, um der Nation und ihren Vertretern die volle Überzeugung
der außerordentlichen Gefährlichkeit der auf dem Sumpfboden der sozialdemo¬
kratischen Agitation wachsenden Früchte und der unbedingten Notwendigkeit
scharfer Gegenwehr zu geben."

Der Antrag der Neichstagsmehrheit wegen Verlängerung der Legislatur¬
periode des Reichstags von drei auf fünf Jahre bezweckte die Abschaffung einer
wahren Notlage in jeder Hinsicht, die früher auch von der liberalen Seite
überall als solche anerkannt worden war. Darauf wies auch zur Begründung
des Antrags Graf von Behr hin, indem er einen Zeitungsartikel Herrn Vam-
bergers aus dem Jahre 1874 anführte, worin es heißt, daß die Verfassung
mit unbegreiflicher Oberflächlichkeit die ganz ungenügende dreijährige Wahl¬
periode eingeführt und damit der Reichsregierung, dem Reichstage und der


Die zweite Sossion des jetzigen Reichstags.

ist. Was insbesondre das Geschrei wegen Landesverweisung betrifft, so wies mit
vollem Recht der sächsische Bevollmächtigte zum Bundesrat darauf hin, daß die
Agitation mit dem bisher bestehenden Gesetz nicht getroffen werden kann und
daß die Verbannung durchaus keine juristische Ungeheuerlichkeit ist. Denn die
Staatsangehörigkeit ist kein unveräußerliches Gut; kann sie verliehen werden,
so kann sie auch genommen werden; kann ich auf sie verzichten, so kann ich sie
auch verlieren. Wo sichs um das Bestehen des Staates handelt, ist es
Schwachheit, über juristische Zwirnsfaden zu stolpern. Die Agitatoren sind
nicht Arbeiter, sondern Bummler; mögen sie sich den Boden für ihre Völker¬
beglückung wo anders suchen! Das beste Mittel gegen Frechheit, Einschmieren
mit einem eichenen Butterwecken, wie es Luther gegen lüderliche Taugenichtse
empfahl, hat doch noch für lange Zeit keine Aussicht auf Anwendung. Da
müßte erst der Humanitätsschwindel aus den Köpfen hinaus, der solche Frei¬
heitshelden wie Herrn Bamberger, welcher das Sozialistengesetz einfach aufzuheben
rät, möge kommen, was da wolle, für ernst zu nehmende Staatsmänner hält.
Blätter wie die Volkszeitung sahen in der dreitägigen Generaldebatte des Reichs¬
tags über das Sozialistcngcsetz nur einen „vollständigen Sieg der Sozialdemo¬
kratie." Dabei könne man nicht über Dinge hinwegkommen, „über welche das
Gewissen des Volkes nicht hinwegkommen kann und wird." Die Volkszeitung
nennt nämlich ihre Ansicht von den Dingen „das Gewissen des Volkes." Nach
dieser Seite hin wäre denn das Ergebnis der Debatte, welches darin besteht,
daß die Geltung des bisherigen Sozialistengesetzes auf weitere zwei Jahre aus¬
gedehnt wird, nicht von übler Bedeutung. Aber heilsam ist das Schicksal des
Sozialistengesetzes im Reichstage doch nicht gewesen; die Sozialisten, Deutsch¬
freisinnigen und Ultramontanen haben doch die Genugthuung erlebt, daß eine
ihnen verhaßte Vorlage der Negierung zu Falle gebracht worden ist. Das
Leipziger Tageblatt sagt dazu: „Wir wollen nur wünschen, daß diese Verant¬
wortlichkeit Oberer, welche dagegen gestimmt haben) nicht eine allzu schwere sein
möge, und daß nicht erst wie vor zehn Jahren wieder entsetzliche Ereignisse
nötig sein werden, um der Nation und ihren Vertretern die volle Überzeugung
der außerordentlichen Gefährlichkeit der auf dem Sumpfboden der sozialdemo¬
kratischen Agitation wachsenden Früchte und der unbedingten Notwendigkeit
scharfer Gegenwehr zu geben."

Der Antrag der Neichstagsmehrheit wegen Verlängerung der Legislatur¬
periode des Reichstags von drei auf fünf Jahre bezweckte die Abschaffung einer
wahren Notlage in jeder Hinsicht, die früher auch von der liberalen Seite
überall als solche anerkannt worden war. Darauf wies auch zur Begründung
des Antrags Graf von Behr hin, indem er einen Zeitungsartikel Herrn Vam-
bergers aus dem Jahre 1874 anführte, worin es heißt, daß die Verfassung
mit unbegreiflicher Oberflächlichkeit die ganz ungenügende dreijährige Wahl¬
periode eingeführt und damit der Reichsregierung, dem Reichstage und der


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/62>, abgerufen am 28.07.2024.