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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr.

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Die zweite Session des jetzigen Reichstags.

hebender war das, welches der Reichstag bei der Beratung des Landwehr- und
Landsturmgesetzes zeigte. Mit Ausnahme der Polen, Dänen, Elsaß-Lothringer
und Sozialdemokraten wetteiferten alle Parteien, den Vorschlag der Regierung
zu billigen. Selbst die Welsen zeigten ihre Bereitwilligkeit, das Vaterland so
stark wie möglich zu machen, um allen Gefahren gewachsen zu sein. Das ist
ein großer Fortschritt, wenn nicht des nationalen Bewußtseins, so doch sicherlich
in der Zunahme der Festigkeit des Reiches. Wenn auch das Gesetz erst bei
Kriegsausbruch in Kraft tritt, die Einkleidung und Bewaffnung einer halben
Million Streiter erfordert doch eine bedeutende Ausgabe. Auch diese wurde
ohne Widerspruch bewilligt. Sollte das Elend eines Krieges uns wirklich nicht
erspart werden können, so wird Deutschland seine Unabhängigkeit gegen eine
Welt von Feinden zu verteidigen imstande sein. Mit dem Kriegsminister, dem
der ganze Reichstag stürmischen Beifall spendete, sprechen auch wir: "Möge
der Tag noch recht fern sein, an dem wir nötig haben, das Gesetz praktisch
anzuwenden."

Bei dem Wiederznsammentritt des Reichstags im neue" Jahre ging ihm
zuerst das Sozialistengesetz zu. Vorgeschlagen war dessen Verlängerung auf
weitere fünf Jahre. Außerdem war die erheblichste Abweichung des Entwurfs
von dem bisherigen Gesetz, die Entziehung der Staatsangehörigkeit und Landes¬
verweisung in bestimmten Fällen. Die Motive betonten, daß das Gesetz
bis jetzt durchaus nicht unwirksam gewesen sei, und mit Recht. Das Gegenteil
ist eine thörichte Behauptung derer, die nicht wissen, daß ohne das Gesetz unser
Staat längst aus den Fugen gegangen wäre. Wenn die Sozialistenpartei
dennoch nur gewachsen ist, so ist das ein Beweis, daß eine Ergänzung desGe
setzcs notwendig ist. Geht das Gesetz sogar mit Landesverweisung der schlimmsten
Agitatoren vor, so mögen sich diese die Schuld für eine solche Maßregel selbst
zuschreiben. Der Staat thut nur seine Pflicht, wenn er diejenigen von sich
ausschließt, die seine sittliche Grundlage und ihn selbst aufheben wollen. Von
der Gehässigkeit des Ausnahmegesetzes gegen diejenigen zu reden, die ein Ge¬
schäft aus der Verschwörung gegen die Gesellschaft machen und die die Be¬
gnadigung von Mördern als ein Recht fordern, ist Humcmitcitsdnselei. Natürlich
wurde die Sozialistenvorlage von dem Freisinn wieder zu Parteizwecken aus¬
genutzt. So sprach Herr Barth in einer Berliner fortschrittlichen Bezirksver¬
sammlung über die Wirkungen des bisherigen Sozialistengesetzes und gab sich
große Mühe, den Sozialdemokraten zu gefallen -- ein ebenso thörichtes als
vergebliches Unternehmen. Die Volkszeitung aber schrieb in einem Artikel vom
27. Januar, die Volksvertretung müsse einmal prüfen, wer denn die Leute seien,
zu deren Schutz so ausschweifende Strafbestimmungen gefordert würden. Unter
"diesen Leuten" verstand sie die geheime Polizei; die Herren Fortschrittler haben
ganz die Knüppel Tolles und seiner Kumpane vergessen und wissen gar nicht,
daß sie selbst zuerst "die Leute" sind, zu deren Schutz das Sozialistengesetz da


Die zweite Session des jetzigen Reichstags.

hebender war das, welches der Reichstag bei der Beratung des Landwehr- und
Landsturmgesetzes zeigte. Mit Ausnahme der Polen, Dänen, Elsaß-Lothringer
und Sozialdemokraten wetteiferten alle Parteien, den Vorschlag der Regierung
zu billigen. Selbst die Welsen zeigten ihre Bereitwilligkeit, das Vaterland so
stark wie möglich zu machen, um allen Gefahren gewachsen zu sein. Das ist
ein großer Fortschritt, wenn nicht des nationalen Bewußtseins, so doch sicherlich
in der Zunahme der Festigkeit des Reiches. Wenn auch das Gesetz erst bei
Kriegsausbruch in Kraft tritt, die Einkleidung und Bewaffnung einer halben
Million Streiter erfordert doch eine bedeutende Ausgabe. Auch diese wurde
ohne Widerspruch bewilligt. Sollte das Elend eines Krieges uns wirklich nicht
erspart werden können, so wird Deutschland seine Unabhängigkeit gegen eine
Welt von Feinden zu verteidigen imstande sein. Mit dem Kriegsminister, dem
der ganze Reichstag stürmischen Beifall spendete, sprechen auch wir: „Möge
der Tag noch recht fern sein, an dem wir nötig haben, das Gesetz praktisch
anzuwenden."

Bei dem Wiederznsammentritt des Reichstags im neue» Jahre ging ihm
zuerst das Sozialistengesetz zu. Vorgeschlagen war dessen Verlängerung auf
weitere fünf Jahre. Außerdem war die erheblichste Abweichung des Entwurfs
von dem bisherigen Gesetz, die Entziehung der Staatsangehörigkeit und Landes¬
verweisung in bestimmten Fällen. Die Motive betonten, daß das Gesetz
bis jetzt durchaus nicht unwirksam gewesen sei, und mit Recht. Das Gegenteil
ist eine thörichte Behauptung derer, die nicht wissen, daß ohne das Gesetz unser
Staat längst aus den Fugen gegangen wäre. Wenn die Sozialistenpartei
dennoch nur gewachsen ist, so ist das ein Beweis, daß eine Ergänzung desGe
setzcs notwendig ist. Geht das Gesetz sogar mit Landesverweisung der schlimmsten
Agitatoren vor, so mögen sich diese die Schuld für eine solche Maßregel selbst
zuschreiben. Der Staat thut nur seine Pflicht, wenn er diejenigen von sich
ausschließt, die seine sittliche Grundlage und ihn selbst aufheben wollen. Von
der Gehässigkeit des Ausnahmegesetzes gegen diejenigen zu reden, die ein Ge¬
schäft aus der Verschwörung gegen die Gesellschaft machen und die die Be¬
gnadigung von Mördern als ein Recht fordern, ist Humcmitcitsdnselei. Natürlich
wurde die Sozialistenvorlage von dem Freisinn wieder zu Parteizwecken aus¬
genutzt. So sprach Herr Barth in einer Berliner fortschrittlichen Bezirksver¬
sammlung über die Wirkungen des bisherigen Sozialistengesetzes und gab sich
große Mühe, den Sozialdemokraten zu gefallen — ein ebenso thörichtes als
vergebliches Unternehmen. Die Volkszeitung aber schrieb in einem Artikel vom
27. Januar, die Volksvertretung müsse einmal prüfen, wer denn die Leute seien,
zu deren Schutz so ausschweifende Strafbestimmungen gefordert würden. Unter
„diesen Leuten" verstand sie die geheime Polizei; die Herren Fortschrittler haben
ganz die Knüppel Tolles und seiner Kumpane vergessen und wissen gar nicht,
daß sie selbst zuerst „die Leute" sind, zu deren Schutz das Sozialistengesetz da


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/61>, abgerufen am 28.07.2024.