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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr.

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Tötungsakt (genau ans der Stufe des Andranges zur Hinrichtung!) herum¬
kommen zu wollen, bestenfalls (wie zu allen Zeiten die flachsten Rationalisten)
mit dem Gefühle der Sicherheit des Hörers gegenüber den poetischen Vorgängen,
d. h. doch die Bedeutung eines Problems stark unterschätzen, "an dessen Auf¬
lösung >mit Kant zu redend Jahrtausende vergeblich gearbeitet haben, die
daher wohl schwerlich so ganz auf der Oberfläche gefunden werden dürfte." Zu
den Zeiten Lvhenftcinischer Dramatik und Weisischer Poesieauffassung konnten
solche Erklärungen angemessen erscheinen, nach dem Jahrhundert Lessings,
Schillers, Kants und Humboldts aber dürfen sie als erledigt gelten, ob sie nnn
mit oder ohne Prinzip aufgestellt werden. Aber an den Gedankenkreisen dieser
Richtung geht Scherer stets ruhig vorbei, kaum daß Schiller einmal auf "naiv
und sentimental" hin gestreift wird. Das alles ist ihm Philosophie und
Ästhetik, und daß erstere von der Poetik so haarscharf zu sondern, letztere mit
ihrer Verwendung des Schlagwortes "schwungvoll" erschöpfend charakterisirt sei,
darf billig bezweifelt werden. Scherer befragt doch gelegentlich wenigstens
Fechner. Wenn er weiter, nur bis zu Herbart, gegangen wäre, würde er ohne
Frage bei seinem scharfen Auge noch andre Ausdrücke als das Wort schwung¬
voll, darunter gerade für ihn sehr lichtspendcnde Merkzeichen entdeckt haben.
Wenigstens würde er dann wissen, daß der Begriff "Schwelle" in der Ästhetik
auf Herbart und nicht erst auf Fechner (S. 198) zurückgeht. Und gar wenn
er sich zum "großen Unbekannten," wir meinen Kant, auch nur einmal aufge¬
schwungen hätte, so würde er bei einer im Auditorium allerdings darwinistisch
schwer zu behandelnden Frage, der Frage des sittlichen Gehaltes der Poesie,
nicht ratlos gewesen sein. Scherer macht hier diejenigen Zugeständnisse im
Abfall von seinem Prinzip, die unter manchen andern, dem philologischen Ge¬
schmack, der Korrektheit und dem historischen Erkenntnisse dargebrachten Zuge¬
ständnissen auffällig hervorragen, weil sie eben grundlegend sind. Aber gerade
sie dürften die Gegner des Prinzips wenig befriedigen. Scherer wirtschaftet
hier stets mit sittlicher Endwirkung, bleibt gerade hier am Zweckbegriff hängen.
Und so verurteilt er merkwürdigerweise daraufhin einen Dichter unsrer Tage,
in dem auch ohne Namensnennung jeder Leser alsbald Paul Heyse erkennen
wird (S. 142 f.), obwohl gerade sein Verfahren (wie es Scherer auffaßt) dem
aus den Verhältnissen des litterarischen Marktes abgezogenen Maßstabe außer¬
ordentlich entsprechen müßte. Beides aber, sowohl Verurteilung als Auffassung,
erscheint unbegründet. Heyse ist kein Tendenzdichter wie andre neueste Poeten,
und wenn er seine freilich sehr uneigentlich zu nennende "höhere Sittlichkeit"
als eine ewige Thatsache dem wirklichen Leben wirklich (und nicht bloß, wie
andre, vor der Hand) unterliegen läßt, so verbreitet er durchaus keine "Illu¬
sionen über das Leben." Illusionen aber sind gerade das Ziel des, oder besser,
der Schererschen Dichter, und ihre Beschränkung durch die "sittlichen Instinkte"
ist eben, wie vorausgeschickt, eine philosophische Ratlosigkeit. Ich beneide die


Tötungsakt (genau ans der Stufe des Andranges zur Hinrichtung!) herum¬
kommen zu wollen, bestenfalls (wie zu allen Zeiten die flachsten Rationalisten)
mit dem Gefühle der Sicherheit des Hörers gegenüber den poetischen Vorgängen,
d. h. doch die Bedeutung eines Problems stark unterschätzen, „an dessen Auf¬
lösung >mit Kant zu redend Jahrtausende vergeblich gearbeitet haben, die
daher wohl schwerlich so ganz auf der Oberfläche gefunden werden dürfte." Zu
den Zeiten Lvhenftcinischer Dramatik und Weisischer Poesieauffassung konnten
solche Erklärungen angemessen erscheinen, nach dem Jahrhundert Lessings,
Schillers, Kants und Humboldts aber dürfen sie als erledigt gelten, ob sie nnn
mit oder ohne Prinzip aufgestellt werden. Aber an den Gedankenkreisen dieser
Richtung geht Scherer stets ruhig vorbei, kaum daß Schiller einmal auf „naiv
und sentimental" hin gestreift wird. Das alles ist ihm Philosophie und
Ästhetik, und daß erstere von der Poetik so haarscharf zu sondern, letztere mit
ihrer Verwendung des Schlagwortes „schwungvoll" erschöpfend charakterisirt sei,
darf billig bezweifelt werden. Scherer befragt doch gelegentlich wenigstens
Fechner. Wenn er weiter, nur bis zu Herbart, gegangen wäre, würde er ohne
Frage bei seinem scharfen Auge noch andre Ausdrücke als das Wort schwung¬
voll, darunter gerade für ihn sehr lichtspendcnde Merkzeichen entdeckt haben.
Wenigstens würde er dann wissen, daß der Begriff „Schwelle" in der Ästhetik
auf Herbart und nicht erst auf Fechner (S. 198) zurückgeht. Und gar wenn
er sich zum „großen Unbekannten," wir meinen Kant, auch nur einmal aufge¬
schwungen hätte, so würde er bei einer im Auditorium allerdings darwinistisch
schwer zu behandelnden Frage, der Frage des sittlichen Gehaltes der Poesie,
nicht ratlos gewesen sein. Scherer macht hier diejenigen Zugeständnisse im
Abfall von seinem Prinzip, die unter manchen andern, dem philologischen Ge¬
schmack, der Korrektheit und dem historischen Erkenntnisse dargebrachten Zuge¬
ständnissen auffällig hervorragen, weil sie eben grundlegend sind. Aber gerade
sie dürften die Gegner des Prinzips wenig befriedigen. Scherer wirtschaftet
hier stets mit sittlicher Endwirkung, bleibt gerade hier am Zweckbegriff hängen.
Und so verurteilt er merkwürdigerweise daraufhin einen Dichter unsrer Tage,
in dem auch ohne Namensnennung jeder Leser alsbald Paul Heyse erkennen
wird (S. 142 f.), obwohl gerade sein Verfahren (wie es Scherer auffaßt) dem
aus den Verhältnissen des litterarischen Marktes abgezogenen Maßstabe außer¬
ordentlich entsprechen müßte. Beides aber, sowohl Verurteilung als Auffassung,
erscheint unbegründet. Heyse ist kein Tendenzdichter wie andre neueste Poeten,
und wenn er seine freilich sehr uneigentlich zu nennende „höhere Sittlichkeit"
als eine ewige Thatsache dem wirklichen Leben wirklich (und nicht bloß, wie
andre, vor der Hand) unterliegen läßt, so verbreitet er durchaus keine „Illu¬
sionen über das Leben." Illusionen aber sind gerade das Ziel des, oder besser,
der Schererschen Dichter, und ihre Beschränkung durch die „sittlichen Instinkte"
ist eben, wie vorausgeschickt, eine philosophische Ratlosigkeit. Ich beneide die


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[0590] Tötungsakt (genau ans der Stufe des Andranges zur Hinrichtung!) herum¬ kommen zu wollen, bestenfalls (wie zu allen Zeiten die flachsten Rationalisten) mit dem Gefühle der Sicherheit des Hörers gegenüber den poetischen Vorgängen, d. h. doch die Bedeutung eines Problems stark unterschätzen, „an dessen Auf¬ lösung >mit Kant zu redend Jahrtausende vergeblich gearbeitet haben, die daher wohl schwerlich so ganz auf der Oberfläche gefunden werden dürfte." Zu den Zeiten Lvhenftcinischer Dramatik und Weisischer Poesieauffassung konnten solche Erklärungen angemessen erscheinen, nach dem Jahrhundert Lessings, Schillers, Kants und Humboldts aber dürfen sie als erledigt gelten, ob sie nnn mit oder ohne Prinzip aufgestellt werden. Aber an den Gedankenkreisen dieser Richtung geht Scherer stets ruhig vorbei, kaum daß Schiller einmal auf „naiv und sentimental" hin gestreift wird. Das alles ist ihm Philosophie und Ästhetik, und daß erstere von der Poetik so haarscharf zu sondern, letztere mit ihrer Verwendung des Schlagwortes „schwungvoll" erschöpfend charakterisirt sei, darf billig bezweifelt werden. Scherer befragt doch gelegentlich wenigstens Fechner. Wenn er weiter, nur bis zu Herbart, gegangen wäre, würde er ohne Frage bei seinem scharfen Auge noch andre Ausdrücke als das Wort schwung¬ voll, darunter gerade für ihn sehr lichtspendcnde Merkzeichen entdeckt haben. Wenigstens würde er dann wissen, daß der Begriff „Schwelle" in der Ästhetik auf Herbart und nicht erst auf Fechner (S. 198) zurückgeht. Und gar wenn er sich zum „großen Unbekannten," wir meinen Kant, auch nur einmal aufge¬ schwungen hätte, so würde er bei einer im Auditorium allerdings darwinistisch schwer zu behandelnden Frage, der Frage des sittlichen Gehaltes der Poesie, nicht ratlos gewesen sein. Scherer macht hier diejenigen Zugeständnisse im Abfall von seinem Prinzip, die unter manchen andern, dem philologischen Ge¬ schmack, der Korrektheit und dem historischen Erkenntnisse dargebrachten Zuge¬ ständnissen auffällig hervorragen, weil sie eben grundlegend sind. Aber gerade sie dürften die Gegner des Prinzips wenig befriedigen. Scherer wirtschaftet hier stets mit sittlicher Endwirkung, bleibt gerade hier am Zweckbegriff hängen. Und so verurteilt er merkwürdigerweise daraufhin einen Dichter unsrer Tage, in dem auch ohne Namensnennung jeder Leser alsbald Paul Heyse erkennen wird (S. 142 f.), obwohl gerade sein Verfahren (wie es Scherer auffaßt) dem aus den Verhältnissen des litterarischen Marktes abgezogenen Maßstabe außer¬ ordentlich entsprechen müßte. Beides aber, sowohl Verurteilung als Auffassung, erscheint unbegründet. Heyse ist kein Tendenzdichter wie andre neueste Poeten, und wenn er seine freilich sehr uneigentlich zu nennende „höhere Sittlichkeit" als eine ewige Thatsache dem wirklichen Leben wirklich (und nicht bloß, wie andre, vor der Hand) unterliegen läßt, so verbreitet er durchaus keine „Illu¬ sionen über das Leben." Illusionen aber sind gerade das Ziel des, oder besser, der Schererschen Dichter, und ihre Beschränkung durch die „sittlichen Instinkte" ist eben, wie vorausgeschickt, eine philosophische Ratlosigkeit. Ich beneide die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/590>, abgerufen am 28.07.2024.