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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr.

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poetische Theorien und Theorie der Poesie.

nicht hätte werden können, was er geworden ist," das muß doch -- besonders
bei der genauen Kenntnis, die uns von dieser Gesellschaft möglich ist -- ent¬
schieden in den Satz umgekehrt werden: "Ohne Goethe hätte die Weimarer Ge¬
sellschaft nicht werden können, was sie geworden ist." Sie sind so mißlich,
diese Sätze ans Prinzipien, die außerhalb der Sache liegen. Und bei der Un¬
angemessenheit des vorliegenden zu dem darauf gegründeten Gegenstande fehlt
ihnen auch uoch das Blendende, das sonst in ähnlichen Fällen über ihre Un¬
Haltbarkeit hinwegsehen läßt. Bestenfalls sind sie selbstverständlich, wie all die
Ausführungen über unterbrochene Arbeit, geteilte Arbeit (bei der übrigens die
Heranziehung der mittelalterlichen Litteratur etwas schiefes hat), Sortimeuter,
Verleger, ja sogar Buchbinder, Kabalen der Kritik, Feuilleton u. dergl. Man
muß sich hierbei allerdings erinnern, daß es Studenten sind, an die sich der
Vortrag wendet. Im "Publikum" selbst ist eine Aufklärung über diese Ver¬
hältnisse in unsrer Zeit -- leider -- nicht nötig. Ihre gewichtige Behandlung
von wissenschaftlicher Seite ruft uns nur die bedenklichen praktischen Folgen
solcher Bemühungen zurück, von der wir im Eingange zu reden hatten.

Dieser geflissentlicher Herabdrückung des künstlerischen Charakters der Poesie,
diesem seltsamen Festsitzen auf äußerlich entlehnten nationalökonomischen Be¬
griffen, wie "Tauschwert," "Angebot und Nachfrage" n. dergl., entspricht na¬
türlich die Entscheidung der verschiednen, das Thema einschließenden Grundfragen.
Daß die Frage nach dem Ursprünge der Poesie cvolutionistisch entschieden wird,
gehört selbstverständlich zum Programm des Buches. Ein obseöner Festge¬
brauch der Australneger dient bei Scherer als Ausgangspunkt zur Versinn-
lichung der UrPoesie. Das Beispiel scheint nicht glücklich gewählt, weil der
Vorgang, selbst im cvolutionistischen Sinne, durchaus keine Keimkraft aufweist.
Der bloße Schrei bei der Vorstellung des Geschlechtsgenusses hat so wenig
Beziehung zur Poesie als der bloße tierische Schrei zur Sprache. Scherer macht
hier bei der sprachlichen Kunst sich eine Theorie zu eigen, der er als Sprach¬
forscher sorgfältig aus dem Wege gegangen ist. Es kommt bei der Erörterung
dieser Frage, die ich im Nahmen einer Poetik nicht für sehr fruchtbringend halte
(da man hier erst seit der Berücksichtigung der uns wirklich bekannten Uranfänge
weiter gekommen ist), zunächst darauf an, was man unter Poesie versteht. Und
die Erklärung hierüber vermeidet er, wie Definitionen überhaupt (siehe Vorwort),
absichtlich. Formell könnte man sie dem Poetiker ja wohl erlassen, wenn er
dnrch eine umso sprechendere Darstellung, eine umso tiefer eindringende Analyse
der zu Gründe liegenden innern Vorgänge ersetzte. Aber diese vermißt man
eben durchaus. Ich weiß nicht, ob das bloße Wort Stimmung in dieser
Poetik auch nur einmal vorkommt. Und man kann im Gegensatz zu den von
Scherer so einseitig bevorzugten Äußerlichkeiten nicht gerade behaupten, daß
das betreffende weite und bedeutende Feld auch nur entfernt in Angriff ge¬
nommen, geschweige denn würdig erledigt wäre. Hier könnte eine umfassende


poetische Theorien und Theorie der Poesie.

nicht hätte werden können, was er geworden ist," das muß doch — besonders
bei der genauen Kenntnis, die uns von dieser Gesellschaft möglich ist — ent¬
schieden in den Satz umgekehrt werden: „Ohne Goethe hätte die Weimarer Ge¬
sellschaft nicht werden können, was sie geworden ist." Sie sind so mißlich,
diese Sätze ans Prinzipien, die außerhalb der Sache liegen. Und bei der Un¬
angemessenheit des vorliegenden zu dem darauf gegründeten Gegenstande fehlt
ihnen auch uoch das Blendende, das sonst in ähnlichen Fällen über ihre Un¬
Haltbarkeit hinwegsehen läßt. Bestenfalls sind sie selbstverständlich, wie all die
Ausführungen über unterbrochene Arbeit, geteilte Arbeit (bei der übrigens die
Heranziehung der mittelalterlichen Litteratur etwas schiefes hat), Sortimeuter,
Verleger, ja sogar Buchbinder, Kabalen der Kritik, Feuilleton u. dergl. Man
muß sich hierbei allerdings erinnern, daß es Studenten sind, an die sich der
Vortrag wendet. Im „Publikum" selbst ist eine Aufklärung über diese Ver¬
hältnisse in unsrer Zeit — leider — nicht nötig. Ihre gewichtige Behandlung
von wissenschaftlicher Seite ruft uns nur die bedenklichen praktischen Folgen
solcher Bemühungen zurück, von der wir im Eingange zu reden hatten.

Dieser geflissentlicher Herabdrückung des künstlerischen Charakters der Poesie,
diesem seltsamen Festsitzen auf äußerlich entlehnten nationalökonomischen Be¬
griffen, wie „Tauschwert," „Angebot und Nachfrage" n. dergl., entspricht na¬
türlich die Entscheidung der verschiednen, das Thema einschließenden Grundfragen.
Daß die Frage nach dem Ursprünge der Poesie cvolutionistisch entschieden wird,
gehört selbstverständlich zum Programm des Buches. Ein obseöner Festge¬
brauch der Australneger dient bei Scherer als Ausgangspunkt zur Versinn-
lichung der UrPoesie. Das Beispiel scheint nicht glücklich gewählt, weil der
Vorgang, selbst im cvolutionistischen Sinne, durchaus keine Keimkraft aufweist.
Der bloße Schrei bei der Vorstellung des Geschlechtsgenusses hat so wenig
Beziehung zur Poesie als der bloße tierische Schrei zur Sprache. Scherer macht
hier bei der sprachlichen Kunst sich eine Theorie zu eigen, der er als Sprach¬
forscher sorgfältig aus dem Wege gegangen ist. Es kommt bei der Erörterung
dieser Frage, die ich im Nahmen einer Poetik nicht für sehr fruchtbringend halte
(da man hier erst seit der Berücksichtigung der uns wirklich bekannten Uranfänge
weiter gekommen ist), zunächst darauf an, was man unter Poesie versteht. Und
die Erklärung hierüber vermeidet er, wie Definitionen überhaupt (siehe Vorwort),
absichtlich. Formell könnte man sie dem Poetiker ja wohl erlassen, wenn er
dnrch eine umso sprechendere Darstellung, eine umso tiefer eindringende Analyse
der zu Gründe liegenden innern Vorgänge ersetzte. Aber diese vermißt man
eben durchaus. Ich weiß nicht, ob das bloße Wort Stimmung in dieser
Poetik auch nur einmal vorkommt. Und man kann im Gegensatz zu den von
Scherer so einseitig bevorzugten Äußerlichkeiten nicht gerade behaupten, daß
das betreffende weite und bedeutende Feld auch nur entfernt in Angriff ge¬
nommen, geschweige denn würdig erledigt wäre. Hier könnte eine umfassende


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[0588] poetische Theorien und Theorie der Poesie. nicht hätte werden können, was er geworden ist," das muß doch — besonders bei der genauen Kenntnis, die uns von dieser Gesellschaft möglich ist — ent¬ schieden in den Satz umgekehrt werden: „Ohne Goethe hätte die Weimarer Ge¬ sellschaft nicht werden können, was sie geworden ist." Sie sind so mißlich, diese Sätze ans Prinzipien, die außerhalb der Sache liegen. Und bei der Un¬ angemessenheit des vorliegenden zu dem darauf gegründeten Gegenstande fehlt ihnen auch uoch das Blendende, das sonst in ähnlichen Fällen über ihre Un¬ Haltbarkeit hinwegsehen läßt. Bestenfalls sind sie selbstverständlich, wie all die Ausführungen über unterbrochene Arbeit, geteilte Arbeit (bei der übrigens die Heranziehung der mittelalterlichen Litteratur etwas schiefes hat), Sortimeuter, Verleger, ja sogar Buchbinder, Kabalen der Kritik, Feuilleton u. dergl. Man muß sich hierbei allerdings erinnern, daß es Studenten sind, an die sich der Vortrag wendet. Im „Publikum" selbst ist eine Aufklärung über diese Ver¬ hältnisse in unsrer Zeit — leider — nicht nötig. Ihre gewichtige Behandlung von wissenschaftlicher Seite ruft uns nur die bedenklichen praktischen Folgen solcher Bemühungen zurück, von der wir im Eingange zu reden hatten. Dieser geflissentlicher Herabdrückung des künstlerischen Charakters der Poesie, diesem seltsamen Festsitzen auf äußerlich entlehnten nationalökonomischen Be¬ griffen, wie „Tauschwert," „Angebot und Nachfrage" n. dergl., entspricht na¬ türlich die Entscheidung der verschiednen, das Thema einschließenden Grundfragen. Daß die Frage nach dem Ursprünge der Poesie cvolutionistisch entschieden wird, gehört selbstverständlich zum Programm des Buches. Ein obseöner Festge¬ brauch der Australneger dient bei Scherer als Ausgangspunkt zur Versinn- lichung der UrPoesie. Das Beispiel scheint nicht glücklich gewählt, weil der Vorgang, selbst im cvolutionistischen Sinne, durchaus keine Keimkraft aufweist. Der bloße Schrei bei der Vorstellung des Geschlechtsgenusses hat so wenig Beziehung zur Poesie als der bloße tierische Schrei zur Sprache. Scherer macht hier bei der sprachlichen Kunst sich eine Theorie zu eigen, der er als Sprach¬ forscher sorgfältig aus dem Wege gegangen ist. Es kommt bei der Erörterung dieser Frage, die ich im Nahmen einer Poetik nicht für sehr fruchtbringend halte (da man hier erst seit der Berücksichtigung der uns wirklich bekannten Uranfänge weiter gekommen ist), zunächst darauf an, was man unter Poesie versteht. Und die Erklärung hierüber vermeidet er, wie Definitionen überhaupt (siehe Vorwort), absichtlich. Formell könnte man sie dem Poetiker ja wohl erlassen, wenn er dnrch eine umso sprechendere Darstellung, eine umso tiefer eindringende Analyse der zu Gründe liegenden innern Vorgänge ersetzte. Aber diese vermißt man eben durchaus. Ich weiß nicht, ob das bloße Wort Stimmung in dieser Poetik auch nur einmal vorkommt. Und man kann im Gegensatz zu den von Scherer so einseitig bevorzugten Äußerlichkeiten nicht gerade behaupten, daß das betreffende weite und bedeutende Feld auch nur entfernt in Angriff ge¬ nommen, geschweige denn würdig erledigt wäre. Hier könnte eine umfassende

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/588>, abgerufen am 28.07.2024.