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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr.

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poetische Theorien und Theorie der Poesie.

sucht, aus solchen Dingen höhere Schlüsse zu ziehen, aber die große Entfaltung
der Kunstwissenschaft im vorigen Jahrhundert lehrte lächelnd davon absehen,
indem sie zur Bewältigung der eigentlichen innern Aufgabe aufforderte. Ich
kaun mir nicht helfen, die Ergebnisse dieser Methode sind gering und wirken
höchstens verstimmend. Was können wir daraufhin andres in tausend Büchern
lesen, als daß die Künstler sich immer gequält haben, daß die Kunst immer
nach Brot gegangen ist, daß hie und da ein Glücklicher gewesen und merk¬
würdigerweise gerade gewöhnlich in armem Lande, in karger Zeit! Frucht¬
barer wäre eine Erörterung der Beziehung?" zur Bevölkerungsstatistik. Aber
es sind wahrhaftig ärmliche "Gesetze," die sich daraus ergeben, wenn man etwa
die Kornpreise zu Litteratur und Kunst in Verhältnis setzt; und wenn die
Geisteswissenschaft auf nichts weiter als solche "Ziele" angewiesen wäre, wie
sie Buckle in seinem "Luxusgesetz" aufstellt, so stünde es traurig um die Be¬
schäftigung mit ihr. Was in der Geistesgeschichte gerade Gegenstand der Be¬
trachtung ist, die Summe und der Umfang der geistigen Kraft, die ihr Gesetze
giebt, das ist glücklicherweise unabhängig von Kornpreisen und Luxus und wird
es hoffentlich im Interesse ihres kräftigen Fortganges bleiben. Ich möchte eher
behaupten, daß sich von jeher ein offenbarer Gegensatz, ein kräftiger Widerstreit
nachweisen lasse zwischen den Erscheinungen der Geistesgeschichte und den
materiellen Verhältnissen, unter denen sie entstehen, gerade in dieser Hinsicht,
in der Hinsicht ihres Eingreifens in den materiellen Lauf der Dinge. Diese
Betrachtung ist von jeher bedeutsam gewesen, macht die Biographie zu einem
so gewaltigen Hebel im höhern Leben der Menschheit. So erzwingt sich schließlich
das Talent in allen Fächern seinen Mäcen (wenn das auch ein -- leider --
weiter Begriff ist), aber der eigentliche Müeen der Talente sind sie selbst. Das
ist heute so wie früher, und ich begreife nicht, wie ein auf Überlegenheit ge¬
richteter Kopf vom Schlage Schcrcrs mit dem Ansehen eines so einseitigen
und unwissenschaftlichen Betrachters wie Zola zwischen unsrer "demokratischen"
Zeit und der ganzen Vergangenheit (wegen des vorgeblichen Unterschiedes
des glücklichen Ersatzes der Mäeene durch das "Volk") einen großen Strich
machen kann. Wenn es auf das Volk ankäme in der Förderung oder gar
Schaffung geistiger Größen, so wären wir weit mit unsrer geistigen Bildung
überhaupt; wenn wirklich der Künstler auf sein Publikum zielte bei seiner
Schöpfung und nicht bildete, weil der "Gott im Busen" es ihm so und nicht anders
vorschreibt, wenn wirklich ein Schaffen ohne Rücksicht auf Erfolg nicht denkbar
oder ein ganz besonders zu erwägender Fall wäre, nun, dann würde Scherer
kaum in die Verlegenheit gekommen sein, eine Poetik zu schreiben, und es gäbe
keinen langweiligeren Praß als den jetzigen Ruhm der Menschheit, ihre Kunst¬
geschichte. Nicht "das Publikum von Athen, Florenz, Paris ist Bedingung
für die betreffende Litteratur" (S. 187), sondern sehr einfach die Sophokles,
Tasso, Corneille. Und daß "ohne die spezifisch Weimarische Gesellschaft Goethe


poetische Theorien und Theorie der Poesie.

sucht, aus solchen Dingen höhere Schlüsse zu ziehen, aber die große Entfaltung
der Kunstwissenschaft im vorigen Jahrhundert lehrte lächelnd davon absehen,
indem sie zur Bewältigung der eigentlichen innern Aufgabe aufforderte. Ich
kaun mir nicht helfen, die Ergebnisse dieser Methode sind gering und wirken
höchstens verstimmend. Was können wir daraufhin andres in tausend Büchern
lesen, als daß die Künstler sich immer gequält haben, daß die Kunst immer
nach Brot gegangen ist, daß hie und da ein Glücklicher gewesen und merk¬
würdigerweise gerade gewöhnlich in armem Lande, in karger Zeit! Frucht¬
barer wäre eine Erörterung der Beziehung?» zur Bevölkerungsstatistik. Aber
es sind wahrhaftig ärmliche „Gesetze," die sich daraus ergeben, wenn man etwa
die Kornpreise zu Litteratur und Kunst in Verhältnis setzt; und wenn die
Geisteswissenschaft auf nichts weiter als solche „Ziele" angewiesen wäre, wie
sie Buckle in seinem „Luxusgesetz" aufstellt, so stünde es traurig um die Be¬
schäftigung mit ihr. Was in der Geistesgeschichte gerade Gegenstand der Be¬
trachtung ist, die Summe und der Umfang der geistigen Kraft, die ihr Gesetze
giebt, das ist glücklicherweise unabhängig von Kornpreisen und Luxus und wird
es hoffentlich im Interesse ihres kräftigen Fortganges bleiben. Ich möchte eher
behaupten, daß sich von jeher ein offenbarer Gegensatz, ein kräftiger Widerstreit
nachweisen lasse zwischen den Erscheinungen der Geistesgeschichte und den
materiellen Verhältnissen, unter denen sie entstehen, gerade in dieser Hinsicht,
in der Hinsicht ihres Eingreifens in den materiellen Lauf der Dinge. Diese
Betrachtung ist von jeher bedeutsam gewesen, macht die Biographie zu einem
so gewaltigen Hebel im höhern Leben der Menschheit. So erzwingt sich schließlich
das Talent in allen Fächern seinen Mäcen (wenn das auch ein — leider —
weiter Begriff ist), aber der eigentliche Müeen der Talente sind sie selbst. Das
ist heute so wie früher, und ich begreife nicht, wie ein auf Überlegenheit ge¬
richteter Kopf vom Schlage Schcrcrs mit dem Ansehen eines so einseitigen
und unwissenschaftlichen Betrachters wie Zola zwischen unsrer „demokratischen"
Zeit und der ganzen Vergangenheit (wegen des vorgeblichen Unterschiedes
des glücklichen Ersatzes der Mäeene durch das „Volk") einen großen Strich
machen kann. Wenn es auf das Volk ankäme in der Förderung oder gar
Schaffung geistiger Größen, so wären wir weit mit unsrer geistigen Bildung
überhaupt; wenn wirklich der Künstler auf sein Publikum zielte bei seiner
Schöpfung und nicht bildete, weil der „Gott im Busen" es ihm so und nicht anders
vorschreibt, wenn wirklich ein Schaffen ohne Rücksicht auf Erfolg nicht denkbar
oder ein ganz besonders zu erwägender Fall wäre, nun, dann würde Scherer
kaum in die Verlegenheit gekommen sein, eine Poetik zu schreiben, und es gäbe
keinen langweiligeren Praß als den jetzigen Ruhm der Menschheit, ihre Kunst¬
geschichte. Nicht „das Publikum von Athen, Florenz, Paris ist Bedingung
für die betreffende Litteratur" (S. 187), sondern sehr einfach die Sophokles,
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[0587] poetische Theorien und Theorie der Poesie. sucht, aus solchen Dingen höhere Schlüsse zu ziehen, aber die große Entfaltung der Kunstwissenschaft im vorigen Jahrhundert lehrte lächelnd davon absehen, indem sie zur Bewältigung der eigentlichen innern Aufgabe aufforderte. Ich kaun mir nicht helfen, die Ergebnisse dieser Methode sind gering und wirken höchstens verstimmend. Was können wir daraufhin andres in tausend Büchern lesen, als daß die Künstler sich immer gequält haben, daß die Kunst immer nach Brot gegangen ist, daß hie und da ein Glücklicher gewesen und merk¬ würdigerweise gerade gewöhnlich in armem Lande, in karger Zeit! Frucht¬ barer wäre eine Erörterung der Beziehung?» zur Bevölkerungsstatistik. Aber es sind wahrhaftig ärmliche „Gesetze," die sich daraus ergeben, wenn man etwa die Kornpreise zu Litteratur und Kunst in Verhältnis setzt; und wenn die Geisteswissenschaft auf nichts weiter als solche „Ziele" angewiesen wäre, wie sie Buckle in seinem „Luxusgesetz" aufstellt, so stünde es traurig um die Be¬ schäftigung mit ihr. Was in der Geistesgeschichte gerade Gegenstand der Be¬ trachtung ist, die Summe und der Umfang der geistigen Kraft, die ihr Gesetze giebt, das ist glücklicherweise unabhängig von Kornpreisen und Luxus und wird es hoffentlich im Interesse ihres kräftigen Fortganges bleiben. Ich möchte eher behaupten, daß sich von jeher ein offenbarer Gegensatz, ein kräftiger Widerstreit nachweisen lasse zwischen den Erscheinungen der Geistesgeschichte und den materiellen Verhältnissen, unter denen sie entstehen, gerade in dieser Hinsicht, in der Hinsicht ihres Eingreifens in den materiellen Lauf der Dinge. Diese Betrachtung ist von jeher bedeutsam gewesen, macht die Biographie zu einem so gewaltigen Hebel im höhern Leben der Menschheit. So erzwingt sich schließlich das Talent in allen Fächern seinen Mäcen (wenn das auch ein — leider — weiter Begriff ist), aber der eigentliche Müeen der Talente sind sie selbst. Das ist heute so wie früher, und ich begreife nicht, wie ein auf Überlegenheit ge¬ richteter Kopf vom Schlage Schcrcrs mit dem Ansehen eines so einseitigen und unwissenschaftlichen Betrachters wie Zola zwischen unsrer „demokratischen" Zeit und der ganzen Vergangenheit (wegen des vorgeblichen Unterschiedes des glücklichen Ersatzes der Mäeene durch das „Volk") einen großen Strich machen kann. Wenn es auf das Volk ankäme in der Förderung oder gar Schaffung geistiger Größen, so wären wir weit mit unsrer geistigen Bildung überhaupt; wenn wirklich der Künstler auf sein Publikum zielte bei seiner Schöpfung und nicht bildete, weil der „Gott im Busen" es ihm so und nicht anders vorschreibt, wenn wirklich ein Schaffen ohne Rücksicht auf Erfolg nicht denkbar oder ein ganz besonders zu erwägender Fall wäre, nun, dann würde Scherer kaum in die Verlegenheit gekommen sein, eine Poetik zu schreiben, und es gäbe keinen langweiligeren Praß als den jetzigen Ruhm der Menschheit, ihre Kunst¬ geschichte. Nicht „das Publikum von Athen, Florenz, Paris ist Bedingung für die betreffende Litteratur" (S. 187), sondern sehr einfach die Sophokles, Tasso, Corneille. Und daß „ohne die spezifisch Weimarische Gesellschaft Goethe

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/587>, abgerufen am 28.07.2024.