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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr.

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Das Studium der alten Sprachen ans den Gymnasien.

Endzwecke Griechisch zu lernen, das heißt denn doch eine Dampfmaschine auf¬
stellen, um Pfunde zu heben.

Noch günstiger liegt die Sache für den Juristen. Nur ein einziges grie¬
chisches Buch hat für sein Fach Bedeutung: der Codex. Aber schon Justinian
selbst hat angeordnet, im Abendlande solle nicht das griechische Original, sondern
die lateinische Übersetzung gelten.

Daß das Neue Testament für uns, die wir von Kindheit an Bibelverse
lernen und jeden Sonntag ein Evangelium und eine Epistel vortragen hören,
noch leichter zu verstehen ist als der Homer, deswegen berufe ich mich auf die
Erinnerung eines jeden. Dem schlichten Menschenverstande wird nie einleuchten,
daß in diesem für die "Einfältigen" geschriebenen Buche Geheimnisse verborgen
lägen, zu deren Hebung es eines besondern Grades von griechischer Sprach-
leuntnis bedürfe und daß nicht bereits Luther und Melanchthon in dieser Hin¬
sicht alles besorgt hätten.

Der zukünftige Philologe, der Geschichtsforscher, der Philosoph be¬
darf natürlich einer genaueren Kenntnis des Griechischen. Diese mag er sich
auf dem Gymnasium durch Privatstunden oder später auf der Universität an¬
eignen.

Beschränkt man auf den Gymnasien den griechischen Unterricht in der vor¬
geschlagenen Weise, so könnte das am Ende mit der Zeit zur völlige" Ab¬
schaffung desselben führen. Nun, das wäre kein Unglück, vorausgesetzt, daß die
Kenntnis des Griechentums nicht darunter litte. Im vorigen Jahrhundert
lehrten die Gymnasien fast nur Latein, und man befand sich ganz gut dabei.
Nur gegen das eine, was jetzt von vielen Seiten so lebhaft verlangt wird,
möchte ich mich entschieden aussprechen: die des Griechisch Unkundigen schon
jetzt zum Studium der Medizin zuzulassen. Einesteils ist die Aufrechterhaltung
des gegenwärtigen Zustandes ein leider nötiges Bollwerk gegen den übermäßigen
Andrang zum ärztlichen Berufe und gegen das Eindringen geringerer Elemente
in ihn. Andernteils und hauptsächlich aber gilt die Kenntnis der beiden alten
Sprachen zur Zeit als ein Kennzeichen der Zugehörigkeit zu den höchstge-
bildeten Ständen; und daß der Arzt diesen angehöre und nicht gewissermaßen
ein Gelehrter zweiter Klasse sei, ist eine Forderung, von der durchaus nichts
nachgelassen werden kann. Nur wenn zu gleicher Zeit auch für die Juristen
der Zwang des Griechischlernens wegfiele, könnte der ärztliche Stand eine solche
Erleichterung annehmen, ohne sich selbst zu schädigen.

Es ist nicht müßige Träumerei, soudern das Ergebnis eingehender und
ernsthafter Erwägung der Sache mit erfahrenen und vorurteilsfreien Schul¬
männern und mit verständigen Laien, wenn ich die Behauptung aufstelle: durch
die von mir verlangte Verminderung und Umgestaltung des Unterrichts in
den beiden alten Sprachen wird es möglich werden, die jetzigen 31 bis 32
wöchentlichen Schulstunden der Gymnasien auf 24 herabzusetzen. Kommt dann


Das Studium der alten Sprachen ans den Gymnasien.

Endzwecke Griechisch zu lernen, das heißt denn doch eine Dampfmaschine auf¬
stellen, um Pfunde zu heben.

Noch günstiger liegt die Sache für den Juristen. Nur ein einziges grie¬
chisches Buch hat für sein Fach Bedeutung: der Codex. Aber schon Justinian
selbst hat angeordnet, im Abendlande solle nicht das griechische Original, sondern
die lateinische Übersetzung gelten.

Daß das Neue Testament für uns, die wir von Kindheit an Bibelverse
lernen und jeden Sonntag ein Evangelium und eine Epistel vortragen hören,
noch leichter zu verstehen ist als der Homer, deswegen berufe ich mich auf die
Erinnerung eines jeden. Dem schlichten Menschenverstande wird nie einleuchten,
daß in diesem für die „Einfältigen" geschriebenen Buche Geheimnisse verborgen
lägen, zu deren Hebung es eines besondern Grades von griechischer Sprach-
leuntnis bedürfe und daß nicht bereits Luther und Melanchthon in dieser Hin¬
sicht alles besorgt hätten.

Der zukünftige Philologe, der Geschichtsforscher, der Philosoph be¬
darf natürlich einer genaueren Kenntnis des Griechischen. Diese mag er sich
auf dem Gymnasium durch Privatstunden oder später auf der Universität an¬
eignen.

Beschränkt man auf den Gymnasien den griechischen Unterricht in der vor¬
geschlagenen Weise, so könnte das am Ende mit der Zeit zur völlige» Ab¬
schaffung desselben führen. Nun, das wäre kein Unglück, vorausgesetzt, daß die
Kenntnis des Griechentums nicht darunter litte. Im vorigen Jahrhundert
lehrten die Gymnasien fast nur Latein, und man befand sich ganz gut dabei.
Nur gegen das eine, was jetzt von vielen Seiten so lebhaft verlangt wird,
möchte ich mich entschieden aussprechen: die des Griechisch Unkundigen schon
jetzt zum Studium der Medizin zuzulassen. Einesteils ist die Aufrechterhaltung
des gegenwärtigen Zustandes ein leider nötiges Bollwerk gegen den übermäßigen
Andrang zum ärztlichen Berufe und gegen das Eindringen geringerer Elemente
in ihn. Andernteils und hauptsächlich aber gilt die Kenntnis der beiden alten
Sprachen zur Zeit als ein Kennzeichen der Zugehörigkeit zu den höchstge-
bildeten Ständen; und daß der Arzt diesen angehöre und nicht gewissermaßen
ein Gelehrter zweiter Klasse sei, ist eine Forderung, von der durchaus nichts
nachgelassen werden kann. Nur wenn zu gleicher Zeit auch für die Juristen
der Zwang des Griechischlernens wegfiele, könnte der ärztliche Stand eine solche
Erleichterung annehmen, ohne sich selbst zu schädigen.

Es ist nicht müßige Träumerei, soudern das Ergebnis eingehender und
ernsthafter Erwägung der Sache mit erfahrenen und vorurteilsfreien Schul¬
männern und mit verständigen Laien, wenn ich die Behauptung aufstelle: durch
die von mir verlangte Verminderung und Umgestaltung des Unterrichts in
den beiden alten Sprachen wird es möglich werden, die jetzigen 31 bis 32
wöchentlichen Schulstunden der Gymnasien auf 24 herabzusetzen. Kommt dann


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[0582] Das Studium der alten Sprachen ans den Gymnasien. Endzwecke Griechisch zu lernen, das heißt denn doch eine Dampfmaschine auf¬ stellen, um Pfunde zu heben. Noch günstiger liegt die Sache für den Juristen. Nur ein einziges grie¬ chisches Buch hat für sein Fach Bedeutung: der Codex. Aber schon Justinian selbst hat angeordnet, im Abendlande solle nicht das griechische Original, sondern die lateinische Übersetzung gelten. Daß das Neue Testament für uns, die wir von Kindheit an Bibelverse lernen und jeden Sonntag ein Evangelium und eine Epistel vortragen hören, noch leichter zu verstehen ist als der Homer, deswegen berufe ich mich auf die Erinnerung eines jeden. Dem schlichten Menschenverstande wird nie einleuchten, daß in diesem für die „Einfältigen" geschriebenen Buche Geheimnisse verborgen lägen, zu deren Hebung es eines besondern Grades von griechischer Sprach- leuntnis bedürfe und daß nicht bereits Luther und Melanchthon in dieser Hin¬ sicht alles besorgt hätten. Der zukünftige Philologe, der Geschichtsforscher, der Philosoph be¬ darf natürlich einer genaueren Kenntnis des Griechischen. Diese mag er sich auf dem Gymnasium durch Privatstunden oder später auf der Universität an¬ eignen. Beschränkt man auf den Gymnasien den griechischen Unterricht in der vor¬ geschlagenen Weise, so könnte das am Ende mit der Zeit zur völlige» Ab¬ schaffung desselben führen. Nun, das wäre kein Unglück, vorausgesetzt, daß die Kenntnis des Griechentums nicht darunter litte. Im vorigen Jahrhundert lehrten die Gymnasien fast nur Latein, und man befand sich ganz gut dabei. Nur gegen das eine, was jetzt von vielen Seiten so lebhaft verlangt wird, möchte ich mich entschieden aussprechen: die des Griechisch Unkundigen schon jetzt zum Studium der Medizin zuzulassen. Einesteils ist die Aufrechterhaltung des gegenwärtigen Zustandes ein leider nötiges Bollwerk gegen den übermäßigen Andrang zum ärztlichen Berufe und gegen das Eindringen geringerer Elemente in ihn. Andernteils und hauptsächlich aber gilt die Kenntnis der beiden alten Sprachen zur Zeit als ein Kennzeichen der Zugehörigkeit zu den höchstge- bildeten Ständen; und daß der Arzt diesen angehöre und nicht gewissermaßen ein Gelehrter zweiter Klasse sei, ist eine Forderung, von der durchaus nichts nachgelassen werden kann. Nur wenn zu gleicher Zeit auch für die Juristen der Zwang des Griechischlernens wegfiele, könnte der ärztliche Stand eine solche Erleichterung annehmen, ohne sich selbst zu schädigen. Es ist nicht müßige Träumerei, soudern das Ergebnis eingehender und ernsthafter Erwägung der Sache mit erfahrenen und vorurteilsfreien Schul¬ männern und mit verständigen Laien, wenn ich die Behauptung aufstelle: durch die von mir verlangte Verminderung und Umgestaltung des Unterrichts in den beiden alten Sprachen wird es möglich werden, die jetzigen 31 bis 32 wöchentlichen Schulstunden der Gymnasien auf 24 herabzusetzen. Kommt dann

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/582>, abgerufen am 01.09.2024.