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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr.

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Das Studium der alten Sprachen auf den Gymnasien.

Schon den Wohlklang der Verse vermag keine Übersetzung auch nur annähernd
wiederzugeben. Das; es indes möglich sei, den Inhalt der Odyssee und der
Ilicis in einer deutschen Übertragung und in derselben metrischen Forni genau
niederzugehen, und zwar weit vollendeter, als es I. H. Voß gethan hat, das
wird niemand bezweifeln, der die meisterhaften Geibelschen Übersetzungen einer
Anzahl der schönsten griechischen Gedichte kennt. Man stelle einmal die Preis¬
aufgabe, sie wird gelöst werden."

Die Frage nach der Bedeutung des Griechischen für den "gebildeten Mann
würde ich so beantworten: Notwendig ist es nicht -- wünschenswert jedenfalls.
Denn diese Bildung soll ja eben doch über das bloß Notwendige hinausgehen
und ihn möglichst mit dem Schönen vertraut machen. Man verbanne also das
Griechische nicht von den Gymnasien, aber man beschränke es, gleich dem La¬
teinischen, auf ein bescheidnes Maß. Man beginne es in Unterprima, aber dort
mit Ernst, und secure von Anfang an auf das Lesen des Homer los. Dann
wird der Abiturient fließend seine Odyssee und seine Ilias lesen; das ist
genug, alles andre ist vom Übel. Vor allem aber räume man gründlich mit
dein von unsern Philologen sorgfältig und gewiß in bester Absicht genährten
Irrtume auf: Kenntnis der griechischen Sprache und Kenntnis des Griechentums
sei gleichbedeutend. Die griechische Sprache ist höchstens die Pforte des Vor-
hofes. Man bleibe daher nicht Jahre lang an der Thür stehen, sondern führe
die Jugend rasch und entschlossen in den herrlichen Tempel selbst, und das ge¬
schehe, indem man sie möglichst mit der Kultur der Hellenen vertraut macht.
Man führe sie in die Museen, vor die Gipsabgüsse der griechische" Skulp¬
turen und zu den Nachbildungen der antiken Bauwerke; man lasse ihnen durch
einen Rezitator die griechischen Tragiker in den besten Übersetzungen vorlesen
und sie dann dies nachahmen; man lasse endlich dnrch die befähigtsten unter
ihnen die Tragödie" unter Anleitung eines Schauspielers aufführen. Das
letztere geschah regelmäßig in den Sommerferien von den Primanern des Gym¬
nasiums zu Braunschweig vor einer ausgewählten Zuhörerschaft; ich habe nie
mit solcher Begeisterung, und ich muß hinzusetzen, selten so vortrefflich spielen,
nie mit solchem Interesse zuschauen sehe" als bei diesen Darstellungen.
"

So viel vom "gebildete" Manne. Nun zum Fachgelehrten. Reicht die
von mir beanspruchte Kenntnis des Griechischen für die Universitätsstudien aus,
und für welche? Für den Arzt, den Mathematiker, den Naturforscher, den
Geographen ohne Zweifel. Zwar bedient sich, namentlich die Medizin, jetzt so
viel griechischer und grano-lateinischer Kunstausdrücke, daß kein Mensch mehr
imstande ist, einen ärztlichen Bericht zu verstehen, und daß namentlich die
Militärbehörden mit Recht anfangen, Beschwerde darüber zu erheben. Diese
Ausdrücke durch deutsche zu ersetzen, wird auch schwer halten; schon des so¬
genannten Nimbus wegen; sodann weil viele davon in der That ein bequemes
Mittel zur Verständigung der Gelehrten aller Nationen bilden. Aber zu diesem


Das Studium der alten Sprachen auf den Gymnasien.

Schon den Wohlklang der Verse vermag keine Übersetzung auch nur annähernd
wiederzugeben. Das; es indes möglich sei, den Inhalt der Odyssee und der
Ilicis in einer deutschen Übertragung und in derselben metrischen Forni genau
niederzugehen, und zwar weit vollendeter, als es I. H. Voß gethan hat, das
wird niemand bezweifeln, der die meisterhaften Geibelschen Übersetzungen einer
Anzahl der schönsten griechischen Gedichte kennt. Man stelle einmal die Preis¬
aufgabe, sie wird gelöst werden."

Die Frage nach der Bedeutung des Griechischen für den „gebildeten Mann
würde ich so beantworten: Notwendig ist es nicht — wünschenswert jedenfalls.
Denn diese Bildung soll ja eben doch über das bloß Notwendige hinausgehen
und ihn möglichst mit dem Schönen vertraut machen. Man verbanne also das
Griechische nicht von den Gymnasien, aber man beschränke es, gleich dem La¬
teinischen, auf ein bescheidnes Maß. Man beginne es in Unterprima, aber dort
mit Ernst, und secure von Anfang an auf das Lesen des Homer los. Dann
wird der Abiturient fließend seine Odyssee und seine Ilias lesen; das ist
genug, alles andre ist vom Übel. Vor allem aber räume man gründlich mit
dein von unsern Philologen sorgfältig und gewiß in bester Absicht genährten
Irrtume auf: Kenntnis der griechischen Sprache und Kenntnis des Griechentums
sei gleichbedeutend. Die griechische Sprache ist höchstens die Pforte des Vor-
hofes. Man bleibe daher nicht Jahre lang an der Thür stehen, sondern führe
die Jugend rasch und entschlossen in den herrlichen Tempel selbst, und das ge¬
schehe, indem man sie möglichst mit der Kultur der Hellenen vertraut macht.
Man führe sie in die Museen, vor die Gipsabgüsse der griechische» Skulp¬
turen und zu den Nachbildungen der antiken Bauwerke; man lasse ihnen durch
einen Rezitator die griechischen Tragiker in den besten Übersetzungen vorlesen
und sie dann dies nachahmen; man lasse endlich dnrch die befähigtsten unter
ihnen die Tragödie« unter Anleitung eines Schauspielers aufführen. Das
letztere geschah regelmäßig in den Sommerferien von den Primanern des Gym¬
nasiums zu Braunschweig vor einer ausgewählten Zuhörerschaft; ich habe nie
mit solcher Begeisterung, und ich muß hinzusetzen, selten so vortrefflich spielen,
nie mit solchem Interesse zuschauen sehe» als bei diesen Darstellungen.
"

So viel vom „gebildete» Manne. Nun zum Fachgelehrten. Reicht die
von mir beanspruchte Kenntnis des Griechischen für die Universitätsstudien aus,
und für welche? Für den Arzt, den Mathematiker, den Naturforscher, den
Geographen ohne Zweifel. Zwar bedient sich, namentlich die Medizin, jetzt so
viel griechischer und grano-lateinischer Kunstausdrücke, daß kein Mensch mehr
imstande ist, einen ärztlichen Bericht zu verstehen, und daß namentlich die
Militärbehörden mit Recht anfangen, Beschwerde darüber zu erheben. Diese
Ausdrücke durch deutsche zu ersetzen, wird auch schwer halten; schon des so¬
genannten Nimbus wegen; sodann weil viele davon in der That ein bequemes
Mittel zur Verständigung der Gelehrten aller Nationen bilden. Aber zu diesem


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[0581] Das Studium der alten Sprachen auf den Gymnasien. Schon den Wohlklang der Verse vermag keine Übersetzung auch nur annähernd wiederzugeben. Das; es indes möglich sei, den Inhalt der Odyssee und der Ilicis in einer deutschen Übertragung und in derselben metrischen Forni genau niederzugehen, und zwar weit vollendeter, als es I. H. Voß gethan hat, das wird niemand bezweifeln, der die meisterhaften Geibelschen Übersetzungen einer Anzahl der schönsten griechischen Gedichte kennt. Man stelle einmal die Preis¬ aufgabe, sie wird gelöst werden." Die Frage nach der Bedeutung des Griechischen für den „gebildeten Mann würde ich so beantworten: Notwendig ist es nicht — wünschenswert jedenfalls. Denn diese Bildung soll ja eben doch über das bloß Notwendige hinausgehen und ihn möglichst mit dem Schönen vertraut machen. Man verbanne also das Griechische nicht von den Gymnasien, aber man beschränke es, gleich dem La¬ teinischen, auf ein bescheidnes Maß. Man beginne es in Unterprima, aber dort mit Ernst, und secure von Anfang an auf das Lesen des Homer los. Dann wird der Abiturient fließend seine Odyssee und seine Ilias lesen; das ist genug, alles andre ist vom Übel. Vor allem aber räume man gründlich mit dein von unsern Philologen sorgfältig und gewiß in bester Absicht genährten Irrtume auf: Kenntnis der griechischen Sprache und Kenntnis des Griechentums sei gleichbedeutend. Die griechische Sprache ist höchstens die Pforte des Vor- hofes. Man bleibe daher nicht Jahre lang an der Thür stehen, sondern führe die Jugend rasch und entschlossen in den herrlichen Tempel selbst, und das ge¬ schehe, indem man sie möglichst mit der Kultur der Hellenen vertraut macht. Man führe sie in die Museen, vor die Gipsabgüsse der griechische» Skulp¬ turen und zu den Nachbildungen der antiken Bauwerke; man lasse ihnen durch einen Rezitator die griechischen Tragiker in den besten Übersetzungen vorlesen und sie dann dies nachahmen; man lasse endlich dnrch die befähigtsten unter ihnen die Tragödie« unter Anleitung eines Schauspielers aufführen. Das letztere geschah regelmäßig in den Sommerferien von den Primanern des Gym¬ nasiums zu Braunschweig vor einer ausgewählten Zuhörerschaft; ich habe nie mit solcher Begeisterung, und ich muß hinzusetzen, selten so vortrefflich spielen, nie mit solchem Interesse zuschauen sehe» als bei diesen Darstellungen. " So viel vom „gebildete» Manne. Nun zum Fachgelehrten. Reicht die von mir beanspruchte Kenntnis des Griechischen für die Universitätsstudien aus, und für welche? Für den Arzt, den Mathematiker, den Naturforscher, den Geographen ohne Zweifel. Zwar bedient sich, namentlich die Medizin, jetzt so viel griechischer und grano-lateinischer Kunstausdrücke, daß kein Mensch mehr imstande ist, einen ärztlichen Bericht zu verstehen, und daß namentlich die Militärbehörden mit Recht anfangen, Beschwerde darüber zu erheben. Diese Ausdrücke durch deutsche zu ersetzen, wird auch schwer halten; schon des so¬ genannten Nimbus wegen; sodann weil viele davon in der That ein bequemes Mittel zur Verständigung der Gelehrten aller Nationen bilden. Aber zu diesem

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/581>, abgerufen am 01.09.2024.