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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr.

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Die zweite Session des jetzigen Reichstags.

schon sie für zum Abschluß reif gelten konnten, doch unerledigt bleiben mußten,
was auf jeden Fall einer gewissenhaften Prüfung nicht schaden wird. Was die
auswärtige Politik betrifft, so wurde in der Thronrede die Aufgabe Deutsch¬
lands betont, den Frieden zu erhalten durch Pflege freundschaftlicher Beziehungen
zu allen Mächten und durch Festhalten an den Verträgen und Bündnissen,
wobei der Gedanke Ausdruck fand, daß unserm Volke "die unchristliche Neigung
zu Überfällen benachbarter Völker fremd" sei, daß wir aber entschlossen seien,
unsre Unabhängigkeit zu verteidigen, ein Entschluß, der seine kräftigste Unter¬
stützung durch eine Vorlage erhielt, die die Landwehr und den Landsturm betraf,
um eine wesentliche Erhöhung der Wehrkraft herbeizuführen. Man soll erfahren
-- dies klang durch den Schluß der Thronrede laut hindurch --, daß wir stark
und bereit sind, allen ungerechten Angriffen unsrer Feinde entgegenzutreten.
Dieser Gedanke war es auch, den der greise Heldenkaiser selbst beim Empfang
des Reichstagspräsidiums betonte, wenn er sagte: "Ich hätte Ihnen gern per¬
sönlich gesagt, daß ich den Frieden will, aber -- und bei diesen Worten richtete
sich der Einundneunzigjährige hoch auf -- wenn ich angegriffen werde, so soll
die Welt wissen, daß Deutschland gerüstet ist, um allen Angriffen zu begegnen."
Diese mächtige Sprache that umso nötiger, da der Besuch des Zaren am 18. No¬
vember geradezu verblüffende Enthüllungen über eine Politik aufgedeckt hatte,
die nicht vor Fälschung von Depeschen zurückschreckte, um Europa in der bul¬
garischen Frage in Verwirrung und Krieg zu stürzen.

Zur Einweihung der zweiten Session des Reichstags hatte die freisinnige
Partei sofort nach Eröffnung desselben drei Anträge eingebracht, welche sich
auf die Überweisung von politischen und Preßvergehen an Geschworene, auf
die Wiedereinführung der Berufung in Strafsachen und auf die Entschädigung
schuldlos verurteilter beziehen. Man braucht nicht gerade gegen die letzten
beiden Anträge zu sein, aber mit diesen "aus der Apotheke von 48" entnommenen
Rezepten, welche die freisinnigen Marktschreier anpriesen, um "die Rechtsprechung
der deutschen Gerichte in Einklang zu bringen mit den Rechtsgefühlen des
Volkes," wollten die Herren wieder etwas gethan haben, was "vorzugsweise
im Interesse des cirmern Volkes" liege, wie die Volkszeitung so schön sagte.
Gegenüber den staatlichen Aufgaben, wie sie die Gegenwart gebieterisch stellt,
sollen das Heilmittel sein, die von allen gehandhabt werden müssen, "die
noch nicht freiwillig in die Knechtschaft zu stürzen geneigt sind." Solche Redens¬
arten hatte unsre Demokratie selbst zu einer Zeit nicht verlernt, die an den
sprechendsten Beispielen in unserm Nachbarlande zeigte, welche elende, verächt¬
liche Rolle das Ding zu spielen imstande ist, welches man Republik nennt.

Als bei der Haushaltsbcratung im Reichstage über die Getreidezölle ge¬
sprochen wurde, zeigte sich wieder, daß die dcutschfreisinnige Agitation sich von
der sozialdemokratischen unterscheidet wie ein El vom andern. Für Rickert wie
für Bebel sind es nur die Aristokratie, die Junker, die von den Zöllen Vorteil


Die zweite Session des jetzigen Reichstags.

schon sie für zum Abschluß reif gelten konnten, doch unerledigt bleiben mußten,
was auf jeden Fall einer gewissenhaften Prüfung nicht schaden wird. Was die
auswärtige Politik betrifft, so wurde in der Thronrede die Aufgabe Deutsch¬
lands betont, den Frieden zu erhalten durch Pflege freundschaftlicher Beziehungen
zu allen Mächten und durch Festhalten an den Verträgen und Bündnissen,
wobei der Gedanke Ausdruck fand, daß unserm Volke „die unchristliche Neigung
zu Überfällen benachbarter Völker fremd" sei, daß wir aber entschlossen seien,
unsre Unabhängigkeit zu verteidigen, ein Entschluß, der seine kräftigste Unter¬
stützung durch eine Vorlage erhielt, die die Landwehr und den Landsturm betraf,
um eine wesentliche Erhöhung der Wehrkraft herbeizuführen. Man soll erfahren
— dies klang durch den Schluß der Thronrede laut hindurch —, daß wir stark
und bereit sind, allen ungerechten Angriffen unsrer Feinde entgegenzutreten.
Dieser Gedanke war es auch, den der greise Heldenkaiser selbst beim Empfang
des Reichstagspräsidiums betonte, wenn er sagte: „Ich hätte Ihnen gern per¬
sönlich gesagt, daß ich den Frieden will, aber — und bei diesen Worten richtete
sich der Einundneunzigjährige hoch auf — wenn ich angegriffen werde, so soll
die Welt wissen, daß Deutschland gerüstet ist, um allen Angriffen zu begegnen."
Diese mächtige Sprache that umso nötiger, da der Besuch des Zaren am 18. No¬
vember geradezu verblüffende Enthüllungen über eine Politik aufgedeckt hatte,
die nicht vor Fälschung von Depeschen zurückschreckte, um Europa in der bul¬
garischen Frage in Verwirrung und Krieg zu stürzen.

Zur Einweihung der zweiten Session des Reichstags hatte die freisinnige
Partei sofort nach Eröffnung desselben drei Anträge eingebracht, welche sich
auf die Überweisung von politischen und Preßvergehen an Geschworene, auf
die Wiedereinführung der Berufung in Strafsachen und auf die Entschädigung
schuldlos verurteilter beziehen. Man braucht nicht gerade gegen die letzten
beiden Anträge zu sein, aber mit diesen „aus der Apotheke von 48" entnommenen
Rezepten, welche die freisinnigen Marktschreier anpriesen, um „die Rechtsprechung
der deutschen Gerichte in Einklang zu bringen mit den Rechtsgefühlen des
Volkes," wollten die Herren wieder etwas gethan haben, was „vorzugsweise
im Interesse des cirmern Volkes" liege, wie die Volkszeitung so schön sagte.
Gegenüber den staatlichen Aufgaben, wie sie die Gegenwart gebieterisch stellt,
sollen das Heilmittel sein, die von allen gehandhabt werden müssen, „die
noch nicht freiwillig in die Knechtschaft zu stürzen geneigt sind." Solche Redens¬
arten hatte unsre Demokratie selbst zu einer Zeit nicht verlernt, die an den
sprechendsten Beispielen in unserm Nachbarlande zeigte, welche elende, verächt¬
liche Rolle das Ding zu spielen imstande ist, welches man Republik nennt.

Als bei der Haushaltsbcratung im Reichstage über die Getreidezölle ge¬
sprochen wurde, zeigte sich wieder, daß die dcutschfreisinnige Agitation sich von
der sozialdemokratischen unterscheidet wie ein El vom andern. Für Rickert wie
für Bebel sind es nur die Aristokratie, die Junker, die von den Zöllen Vorteil


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/58>, abgerufen am 27.07.2024.