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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr.

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Ricks Lyhne.

aber gewissenhaft in das schon Bestehende ein, er schaute voll Teilnahme zu
und war mit den vernünftigen Verbesserungen einverstanden, die sein alter Ver¬
walter oder der Älteste der Gemeinde nach gründlicher, sehr gründlicher Er¬
wägung in Vorschlag brachten.

Es siel ihm niemals ein, die Kenntnisse, die er in frühern Zeiten erworben
hatte, praktisch zu verwerten, dazu hatte er zu wenig Zutrauen zu dem, was er mit
dem Namen Theorie bezeichnete, und einen viel zu großen Respekt vor den
durch althergebrachte Gewohnheit geheiligten Erfahrungssätzen, welche die andern
das wahrhaft Praktische nannten.

Genau genommen war nichts an ihm, was darauf hindeutete, daß er nicht
sein Leben lang hier gelebt und zwar unter diesen Verhältnissen gelebt hatte.
Mit Ausnahme von einer Kleinigkeit. Und diese bestand darin, daß er oft
halbe Stunden lang regungslos auf einem Balken oder einem Stein am Wege
sitzen und in seltsamer Benommenheit über den üppig grünenden Roggen oder
den goldenen, schwerbefruchtcten Hafer vor sich hinstarren konnte. Das hatte
er anderwärts her, das erinnerte an deu alten Lyhne, an den jungen Lyhne.

Bartholine fand sich in ihrer Welt nicht so auf einmal und ohne Straucheln
zurecht. Nein, zuerst klagte sie sich durch die Verse von hundert Dichtern
hindurch, dann stöhnte sie mit der ganzen breiten Alltäglichkeit jener Zeit über
die tausenderlei Schranken des Menschenlebens, über seine Fesseln und Bande;
bald kleidete sie ihre Klagen in den edeln Zorn, der seinen Wortschwall gegen
den Thron der Kaiser und gegen die Gefängnisse der Tyrannen schleudert, bald
erschienen sie als stiller, mitleidsvoller Kummer, der das reiche Licht der Schön¬
heit von einem blinden, knechtisch gesinnten Geschlecht entweichen sieht, fast
erliegend unter der gedankenlosen Geschäftigkeit der Tage; und ein andermal
war das Gewand ihrer Klage nur ein stiller Seufzer nach dem freien Fluge des
Vogels oder nach den Wolken, die so leicht dahinschweben in die unendliche Ferne.

Aber sie ward des Klagens müde, und die Machtlosigkeit der Klagen er¬
weckte Zweifel und Bitterkeit in ihr; und wie gewisse Gläubige ihren Heiligen
schlagen oder ihn mit Füßen treten, wenn er seine Macht nicht zeigen will, so
spottete sie jetzt der vergötterten Poesie und fragte sich selber höhnisch, ob sie
wohl glaube, daß sich der Vogel Phönix bald im Gurkenbecte niederlassen oder
daß sich Aladdins Wunderhöhle unter dem Milchkeller erschließen würde, ja in
kindischer Übertreibung vergnügte sie sich daran, den Mond einen grünen Käse
und die Rosen Potpourri zu nennen. Dabei hatte sie ein Gefühl, als räche sie
sich, nicht ohne die üugstliche Zwischenempfiudung, daß sie sich einer Blasphemie
schuldig mache. (Fortsetzung folgt.)




Wir machen unsre Leser aus die Anzeigen des Umschlags "Neues vom Büchermarkt" aufmerksam.




Für die Redaktion verantwortlich: Johannes Grunow in Leipzig.
Verlag von Fr. Will). Grunow in Leipzig. -- Druck von Carl Marquart in Leipzig.
Ricks Lyhne.

aber gewissenhaft in das schon Bestehende ein, er schaute voll Teilnahme zu
und war mit den vernünftigen Verbesserungen einverstanden, die sein alter Ver¬
walter oder der Älteste der Gemeinde nach gründlicher, sehr gründlicher Er¬
wägung in Vorschlag brachten.

Es siel ihm niemals ein, die Kenntnisse, die er in frühern Zeiten erworben
hatte, praktisch zu verwerten, dazu hatte er zu wenig Zutrauen zu dem, was er mit
dem Namen Theorie bezeichnete, und einen viel zu großen Respekt vor den
durch althergebrachte Gewohnheit geheiligten Erfahrungssätzen, welche die andern
das wahrhaft Praktische nannten.

Genau genommen war nichts an ihm, was darauf hindeutete, daß er nicht
sein Leben lang hier gelebt und zwar unter diesen Verhältnissen gelebt hatte.
Mit Ausnahme von einer Kleinigkeit. Und diese bestand darin, daß er oft
halbe Stunden lang regungslos auf einem Balken oder einem Stein am Wege
sitzen und in seltsamer Benommenheit über den üppig grünenden Roggen oder
den goldenen, schwerbefruchtcten Hafer vor sich hinstarren konnte. Das hatte
er anderwärts her, das erinnerte an deu alten Lyhne, an den jungen Lyhne.

Bartholine fand sich in ihrer Welt nicht so auf einmal und ohne Straucheln
zurecht. Nein, zuerst klagte sie sich durch die Verse von hundert Dichtern
hindurch, dann stöhnte sie mit der ganzen breiten Alltäglichkeit jener Zeit über
die tausenderlei Schranken des Menschenlebens, über seine Fesseln und Bande;
bald kleidete sie ihre Klagen in den edeln Zorn, der seinen Wortschwall gegen
den Thron der Kaiser und gegen die Gefängnisse der Tyrannen schleudert, bald
erschienen sie als stiller, mitleidsvoller Kummer, der das reiche Licht der Schön¬
heit von einem blinden, knechtisch gesinnten Geschlecht entweichen sieht, fast
erliegend unter der gedankenlosen Geschäftigkeit der Tage; und ein andermal
war das Gewand ihrer Klage nur ein stiller Seufzer nach dem freien Fluge des
Vogels oder nach den Wolken, die so leicht dahinschweben in die unendliche Ferne.

Aber sie ward des Klagens müde, und die Machtlosigkeit der Klagen er¬
weckte Zweifel und Bitterkeit in ihr; und wie gewisse Gläubige ihren Heiligen
schlagen oder ihn mit Füßen treten, wenn er seine Macht nicht zeigen will, so
spottete sie jetzt der vergötterten Poesie und fragte sich selber höhnisch, ob sie
wohl glaube, daß sich der Vogel Phönix bald im Gurkenbecte niederlassen oder
daß sich Aladdins Wunderhöhle unter dem Milchkeller erschließen würde, ja in
kindischer Übertreibung vergnügte sie sich daran, den Mond einen grünen Käse
und die Rosen Potpourri zu nennen. Dabei hatte sie ein Gefühl, als räche sie
sich, nicht ohne die üugstliche Zwischenempfiudung, daß sie sich einer Blasphemie
schuldig mache. (Fortsetzung folgt.)




Wir machen unsre Leser aus die Anzeigen des Umschlags „Neues vom Büchermarkt" aufmerksam.




Für die Redaktion verantwortlich: Johannes Grunow in Leipzig.
Verlag von Fr. Will). Grunow in Leipzig. — Druck von Carl Marquart in Leipzig.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/56>, abgerufen am 27.07.2024.