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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr.

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Ricks Lyhne.

Es war auch eine sehr bange Wiedergenesung; die Kräfte kehrten nur
tropfenweise, gleichsam widerstrebend zurück; da war keine sanfte, heilende Mat¬
tigkeit, im Gegenteil, die leidende empfand eine beunruhigende Schwäche, ein er¬
drückendes Gefühl der Ohnmacht, ein unaufhörliches, brennendes Verlangen nach
Kräften.

Allmählich wurde auch das anders, es ging schneller vorwärts, die Kräfte
kehrten wieder, aber der Gedanke, daß sie sich bald von dem Leben trennen
müsse, verließ sie trotzdem nicht, sondern lag gleich einem Schatten über ihr
und hielt sie in einer unruhigen, schmerzlichen Wehmut befangen.

In dieser Zeit saß sie einmal um die Abendstunde allein im Garten¬
zimmer und starrte durch die geöffneten Flügelthüren. Das Gold des
Sonnenunterganges wurde durch die Bäume verdeckt, nur an einer einzigen
Stelle leuchtete ein brandroter Fleck durch die Stämme hindurch. Über den
unruhigen Baumwipfeln jagten die Wolken düster an einem rauchrvten
Himmel dahin und verloren auf ihrer Flucht kleine Wolkenflocken, winzige
schmale Streifen von abgelösten Wolken, die dann der Sonnenschein rötlich
erglühen machte.

Frau Lyhnc saß da und lauschte dem Sausen des Sturmes und folgte
mit leisen Bewegungen des Hauptes den unregelmäßigen Windstößen, wie sie
dahinbrausten, lauter wurden und erstarken. Ihre Augen aber waren weit fort,
weiter als die Wolken, zu denen sie empvrstarrte. Bleich saß sie da in ihrer
schwarzen Witwentracht mit einem Ausdruck schmerzlicher Unruhe um die blassen
Lippen, und auch in ihren Händen lag eine Unruhe, wie sie das dicke, kleine
Buch, das auf ihrem Schoße lag, hin und her wendeten. Es war Rousseaus
Heloise. Rund um sie her lagen andre Bücher: Schiller, Staffette, Evald und
Novalis, auch große Mappen mit Kupferstichen von alten Kirchen, Ruinen und
Bergseen.

Jetzt wurde eine Thür geöffnet, suchende Schritte erklangen aus den hin¬
tern Zimmern, und Ricks trat ein. Er hatte einen langen Spaziergang am
Meeresstrande gemacht; seine Wangen waren von der frischen Luft gefärbt,
und der Wind haftete noch in seinen Haaren.

Draußen am Himmel hatten blaugraue Farben die Oberhand gewonnen,
und einzelne, schwere Regentropfen schlugen gegen die Scheiben.

Ricks berichtete, wie hoch die Wellen über den Strand rollten, und von
dem Seetang, den sie ans Land getrieben hätten; er erzählte von allem, was
er gesehen hatte und wem er auf seiner Wanderung begegnet war, und während
er so sprach, sammelte er die Bücher, schloß die Gartenthüren und befestigte
die Fensterhaken. Dann nahm er auf dem Schemel zu den Füßen seiner Mutter
Platz, legte ihre Hand in die seine und lehnte seine Wange gegen ihr Knie.

Draußen war jetzt alles schwarz geworden, und der Regen klatschte sto߬
weise in Strömen gegen die Fenster.


Ricks Lyhne.

Es war auch eine sehr bange Wiedergenesung; die Kräfte kehrten nur
tropfenweise, gleichsam widerstrebend zurück; da war keine sanfte, heilende Mat¬
tigkeit, im Gegenteil, die leidende empfand eine beunruhigende Schwäche, ein er¬
drückendes Gefühl der Ohnmacht, ein unaufhörliches, brennendes Verlangen nach
Kräften.

Allmählich wurde auch das anders, es ging schneller vorwärts, die Kräfte
kehrten wieder, aber der Gedanke, daß sie sich bald von dem Leben trennen
müsse, verließ sie trotzdem nicht, sondern lag gleich einem Schatten über ihr
und hielt sie in einer unruhigen, schmerzlichen Wehmut befangen.

In dieser Zeit saß sie einmal um die Abendstunde allein im Garten¬
zimmer und starrte durch die geöffneten Flügelthüren. Das Gold des
Sonnenunterganges wurde durch die Bäume verdeckt, nur an einer einzigen
Stelle leuchtete ein brandroter Fleck durch die Stämme hindurch. Über den
unruhigen Baumwipfeln jagten die Wolken düster an einem rauchrvten
Himmel dahin und verloren auf ihrer Flucht kleine Wolkenflocken, winzige
schmale Streifen von abgelösten Wolken, die dann der Sonnenschein rötlich
erglühen machte.

Frau Lyhnc saß da und lauschte dem Sausen des Sturmes und folgte
mit leisen Bewegungen des Hauptes den unregelmäßigen Windstößen, wie sie
dahinbrausten, lauter wurden und erstarken. Ihre Augen aber waren weit fort,
weiter als die Wolken, zu denen sie empvrstarrte. Bleich saß sie da in ihrer
schwarzen Witwentracht mit einem Ausdruck schmerzlicher Unruhe um die blassen
Lippen, und auch in ihren Händen lag eine Unruhe, wie sie das dicke, kleine
Buch, das auf ihrem Schoße lag, hin und her wendeten. Es war Rousseaus
Heloise. Rund um sie her lagen andre Bücher: Schiller, Staffette, Evald und
Novalis, auch große Mappen mit Kupferstichen von alten Kirchen, Ruinen und
Bergseen.

Jetzt wurde eine Thür geöffnet, suchende Schritte erklangen aus den hin¬
tern Zimmern, und Ricks trat ein. Er hatte einen langen Spaziergang am
Meeresstrande gemacht; seine Wangen waren von der frischen Luft gefärbt,
und der Wind haftete noch in seinen Haaren.

Draußen am Himmel hatten blaugraue Farben die Oberhand gewonnen,
und einzelne, schwere Regentropfen schlugen gegen die Scheiben.

Ricks berichtete, wie hoch die Wellen über den Strand rollten, und von
dem Seetang, den sie ans Land getrieben hätten; er erzählte von allem, was
er gesehen hatte und wem er auf seiner Wanderung begegnet war, und während
er so sprach, sammelte er die Bücher, schloß die Gartenthüren und befestigte
die Fensterhaken. Dann nahm er auf dem Schemel zu den Füßen seiner Mutter
Platz, legte ihre Hand in die seine und lehnte seine Wange gegen ihr Knie.

Draußen war jetzt alles schwarz geworden, und der Regen klatschte sto߬
weise in Strömen gegen die Fenster.


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[0551] Ricks Lyhne. Es war auch eine sehr bange Wiedergenesung; die Kräfte kehrten nur tropfenweise, gleichsam widerstrebend zurück; da war keine sanfte, heilende Mat¬ tigkeit, im Gegenteil, die leidende empfand eine beunruhigende Schwäche, ein er¬ drückendes Gefühl der Ohnmacht, ein unaufhörliches, brennendes Verlangen nach Kräften. Allmählich wurde auch das anders, es ging schneller vorwärts, die Kräfte kehrten wieder, aber der Gedanke, daß sie sich bald von dem Leben trennen müsse, verließ sie trotzdem nicht, sondern lag gleich einem Schatten über ihr und hielt sie in einer unruhigen, schmerzlichen Wehmut befangen. In dieser Zeit saß sie einmal um die Abendstunde allein im Garten¬ zimmer und starrte durch die geöffneten Flügelthüren. Das Gold des Sonnenunterganges wurde durch die Bäume verdeckt, nur an einer einzigen Stelle leuchtete ein brandroter Fleck durch die Stämme hindurch. Über den unruhigen Baumwipfeln jagten die Wolken düster an einem rauchrvten Himmel dahin und verloren auf ihrer Flucht kleine Wolkenflocken, winzige schmale Streifen von abgelösten Wolken, die dann der Sonnenschein rötlich erglühen machte. Frau Lyhnc saß da und lauschte dem Sausen des Sturmes und folgte mit leisen Bewegungen des Hauptes den unregelmäßigen Windstößen, wie sie dahinbrausten, lauter wurden und erstarken. Ihre Augen aber waren weit fort, weiter als die Wolken, zu denen sie empvrstarrte. Bleich saß sie da in ihrer schwarzen Witwentracht mit einem Ausdruck schmerzlicher Unruhe um die blassen Lippen, und auch in ihren Händen lag eine Unruhe, wie sie das dicke, kleine Buch, das auf ihrem Schoße lag, hin und her wendeten. Es war Rousseaus Heloise. Rund um sie her lagen andre Bücher: Schiller, Staffette, Evald und Novalis, auch große Mappen mit Kupferstichen von alten Kirchen, Ruinen und Bergseen. Jetzt wurde eine Thür geöffnet, suchende Schritte erklangen aus den hin¬ tern Zimmern, und Ricks trat ein. Er hatte einen langen Spaziergang am Meeresstrande gemacht; seine Wangen waren von der frischen Luft gefärbt, und der Wind haftete noch in seinen Haaren. Draußen am Himmel hatten blaugraue Farben die Oberhand gewonnen, und einzelne, schwere Regentropfen schlugen gegen die Scheiben. Ricks berichtete, wie hoch die Wellen über den Strand rollten, und von dem Seetang, den sie ans Land getrieben hätten; er erzählte von allem, was er gesehen hatte und wem er auf seiner Wanderung begegnet war, und während er so sprach, sammelte er die Bücher, schloß die Gartenthüren und befestigte die Fensterhaken. Dann nahm er auf dem Schemel zu den Füßen seiner Mutter Platz, legte ihre Hand in die seine und lehnte seine Wange gegen ihr Knie. Draußen war jetzt alles schwarz geworden, und der Regen klatschte sto߬ weise in Strömen gegen die Fenster.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/551>, abgerufen am 28.07.2024.