Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr.Zur Ästhetik des hässlichen. brennt. Alle diese Scheußlichkeiten werden mit der kalten Ruhe eines Mathe¬ Zola will uns echte Typen aus dem Leben vorführen, und wir sehen nichts Wenn das französische Landvolk in Sprache, Sitte und Gewohnheit so Keine Entschuldigung, nnr eine Erklärung dafür kann in Zolas beharrlich Zola hat Schopenhauer studirt und sich aus dem Arsenal des Pessimis¬ Zur Ästhetik des hässlichen. brennt. Alle diese Scheußlichkeiten werden mit der kalten Ruhe eines Mathe¬ Zola will uns echte Typen aus dem Leben vorführen, und wir sehen nichts Wenn das französische Landvolk in Sprache, Sitte und Gewohnheit so Keine Entschuldigung, nnr eine Erklärung dafür kann in Zolas beharrlich Zola hat Schopenhauer studirt und sich aus dem Arsenal des Pessimis¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0541" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/203318"/> <fw type="header" place="top"> Zur Ästhetik des hässlichen.</fw><lb/> <p xml:id="ID_1683" prev="#ID_1682"> brennt. Alle diese Scheußlichkeiten werden mit der kalten Ruhe eines Mathe¬<lb/> matikers aufgezählt, und alles verläuft für die Übelthätcr so erwünscht, als ob<lb/> es in Frankreich gar keine strafende Gerechtigkeit mehr gäbe.</p><lb/> <p xml:id="ID_1684"> Zola will uns echte Typen aus dem Leben vorführen, und wir sehen nichts<lb/> als Karikaturen, die uns mit ihren Ungeheuerlichkeiten nicht ergreifen und er¬<lb/> schüttern, sondern höchstens den Eindruck der Lächerlichkeit auf uns machen.</p><lb/> <p xml:id="ID_1685"> Wenn das französische Landvolk in Sprache, Sitte und Gewohnheit so<lb/> verkommen ist, wie Zola es schildert, dann geht Frankreich mit rasenden Schrittet!<lb/> seiner Selbstauflösung entgegen. Lagen aber diese Übertreibungen in Zolas Ab¬<lb/> sicht, so mußte der ganze Roman auch von einem satirischen Grundgedanken ge¬<lb/> tragen sein. Allein er will gar keine Satire schreiben, sondern nur allgemeine<lb/> bestehende Thatsachen berichten, für die er Beweisstücke — natürlich aus Zei¬<lb/> tungsberichten gesammelt — aufzuzeigen vermag. Unter der Flagge der Wahr¬<lb/> heit sind jedoch derartige Fälschungen umso verwerflicher.</p><lb/> <p xml:id="ID_1686"> Keine Entschuldigung, nnr eine Erklärung dafür kann in Zolas beharrlich<lb/> durchgeführten Versuch liegen, mit seinem großen Romanzyklus: Niswirs na.-<lb/> wrgllk «ze sooiiüe ä'rav karnills sous 1s sseonä snixiro eine Frage zu beantworten,<lb/> vor der sonst die Franzosen ratlos dastehen, die Frage nämlich, wie es möglich<lb/> gewesen ist, daß der alten xloirc; Frankreichs im Kriege von 1870/71 ein so kläg¬<lb/> liches Ende bereitet wurde. Zola ist ehrlich genug, nicht den Mangel an Mit¬<lb/> teln, nicht die Überlegenheit des Feindes, nicht den Verrat der Führer für die<lb/> furchtbare Katastrophe als Erklärung herbeizuziehen, er findet den alleinigen<lb/> Grund in der sittlichen und physischen Verkommenheit des französischen Volkes,<lb/> wie sie durch allmähliche Vererbung entstanden ist, in dem bodenlosen Leichtsinn<lb/> der Aristokratie, in dem Egoismus der Bourgeoisie, in der Entsittlichung und<lb/> Verrohung der Arbeiter und des Landvolkes. Es gehört gewiß Mut dazu,<lb/> dem französischen Chauvinismus so ins Gesicht zu schlagen, wie es Zola an<lb/> einer Stelle in 1.3. ?eir<z gethan hat. Der deutsch-französische Krieg ist aus-<lb/> gebrochen; im Dorfe Beauce wird uns eine Mobilmachung im Kleinen vorge¬<lb/> führt, und Zola hat hier die Kühnheit, zu erzählen, wie sich ein Bauerbursche<lb/> beim Trommelwirbel wegschleicht und sich den Zeigefinger abhackt, um nicht dem<lb/> Rufe des Vaterlandes folgen zu müssen.</p><lb/> <p xml:id="ID_1687" next="#ID_1688"> Zola hat Schopenhauer studirt und sich aus dem Arsenal des Pessimis¬<lb/> mus manche Leuchtraketen angeeignet. So spricht er im <Förmwa1 von der<lb/> imMM as Wut, 1'6tMnsI1ö änulsur as l'sxistsnos, und auch durch l'srrv<lb/> weht in dem vergeblichen Ringen der Menschheit mit der Mutter Erde ein<lb/> schwüler pessimistischer Hauch. Aber Schopenhauer hatte im Humor ein<lb/> Palliativ gefunden gegen das tragische Wertgesetz, gegen das Häßliche des Daseins.<lb/> Zola kennt dieses Göttergeschenk nicht und gelangt nicht dahin, das konkrete<lb/> Häßliche zu überwinden und aus ihm den „dummen Teufel" zu machen, der<lb/> im Kampfe gegen das Schöne in jämmerlicher Weise unterliegt. Er bleibt in</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0541]
Zur Ästhetik des hässlichen.
brennt. Alle diese Scheußlichkeiten werden mit der kalten Ruhe eines Mathe¬
matikers aufgezählt, und alles verläuft für die Übelthätcr so erwünscht, als ob
es in Frankreich gar keine strafende Gerechtigkeit mehr gäbe.
Zola will uns echte Typen aus dem Leben vorführen, und wir sehen nichts
als Karikaturen, die uns mit ihren Ungeheuerlichkeiten nicht ergreifen und er¬
schüttern, sondern höchstens den Eindruck der Lächerlichkeit auf uns machen.
Wenn das französische Landvolk in Sprache, Sitte und Gewohnheit so
verkommen ist, wie Zola es schildert, dann geht Frankreich mit rasenden Schrittet!
seiner Selbstauflösung entgegen. Lagen aber diese Übertreibungen in Zolas Ab¬
sicht, so mußte der ganze Roman auch von einem satirischen Grundgedanken ge¬
tragen sein. Allein er will gar keine Satire schreiben, sondern nur allgemeine
bestehende Thatsachen berichten, für die er Beweisstücke — natürlich aus Zei¬
tungsberichten gesammelt — aufzuzeigen vermag. Unter der Flagge der Wahr¬
heit sind jedoch derartige Fälschungen umso verwerflicher.
Keine Entschuldigung, nnr eine Erklärung dafür kann in Zolas beharrlich
durchgeführten Versuch liegen, mit seinem großen Romanzyklus: Niswirs na.-
wrgllk «ze sooiiüe ä'rav karnills sous 1s sseonä snixiro eine Frage zu beantworten,
vor der sonst die Franzosen ratlos dastehen, die Frage nämlich, wie es möglich
gewesen ist, daß der alten xloirc; Frankreichs im Kriege von 1870/71 ein so kläg¬
liches Ende bereitet wurde. Zola ist ehrlich genug, nicht den Mangel an Mit¬
teln, nicht die Überlegenheit des Feindes, nicht den Verrat der Führer für die
furchtbare Katastrophe als Erklärung herbeizuziehen, er findet den alleinigen
Grund in der sittlichen und physischen Verkommenheit des französischen Volkes,
wie sie durch allmähliche Vererbung entstanden ist, in dem bodenlosen Leichtsinn
der Aristokratie, in dem Egoismus der Bourgeoisie, in der Entsittlichung und
Verrohung der Arbeiter und des Landvolkes. Es gehört gewiß Mut dazu,
dem französischen Chauvinismus so ins Gesicht zu schlagen, wie es Zola an
einer Stelle in 1.3. ?eir<z gethan hat. Der deutsch-französische Krieg ist aus-
gebrochen; im Dorfe Beauce wird uns eine Mobilmachung im Kleinen vorge¬
führt, und Zola hat hier die Kühnheit, zu erzählen, wie sich ein Bauerbursche
beim Trommelwirbel wegschleicht und sich den Zeigefinger abhackt, um nicht dem
Rufe des Vaterlandes folgen zu müssen.
Zola hat Schopenhauer studirt und sich aus dem Arsenal des Pessimis¬
mus manche Leuchtraketen angeeignet. So spricht er im <Förmwa1 von der
imMM as Wut, 1'6tMnsI1ö änulsur as l'sxistsnos, und auch durch l'srrv
weht in dem vergeblichen Ringen der Menschheit mit der Mutter Erde ein
schwüler pessimistischer Hauch. Aber Schopenhauer hatte im Humor ein
Palliativ gefunden gegen das tragische Wertgesetz, gegen das Häßliche des Daseins.
Zola kennt dieses Göttergeschenk nicht und gelangt nicht dahin, das konkrete
Häßliche zu überwinden und aus ihm den „dummen Teufel" zu machen, der
im Kampfe gegen das Schöne in jämmerlicher Weise unterliegt. Er bleibt in
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |