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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr.

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Munckcrs Rlopstockbiographie.

den wir natürlich nicht gerade das erste und zweite Jahr nach dem Tode eines
hervorragenden Mannes betrachten, da Pflegt es oft Menschenalter zu dauern,
bis die Lücke ausgefüllt wird. Die Säkularfeier von Klopstocks Geburtstag im
Jahre 1824 hatte nur unbedeutende und herzlich oberflächliche Schriften gebracht,
erst viele Jahrzehnte später setzte David Friedrich Strauß die Feder zu einer
Klopstockbiogrciphie an, die nicht über die Anfänge hinaus gedieh und von der
nur ein paar kostbare Bruchstücke in seinen "Kleinern Schriften" gedruckt wurden.
Und wiederum ein Menschenalter nachher hat Franz Muncker in München,
ein Schüler des geistvollen, universell gebildeten Michael Bernahs, den Vorsatz
zu einer neuen historischen Darstellung des Messiasdichters gefaßt. So¬
weit dieser Vorsatz einer Rechtfertigung bedarf, hat sie Muncker in einigen
Sätzen seiner Vorrede gegeben, die man Wort für Wort unterschreiben kann.
"Unter den großen Autoren unsrer neuern Litteratur sind nur wenige, für deren
richtige Erkenntnis und Würdigung eine wissenschaftliche Biographie so erforderlich
sein mag, wie für Klopstock. Von seinen Zeitgenossen einst vergöttert, ist er
und was er geschaffen hat, uns längst fremd, zum Teil sogar ungenießbar und
unverständlich geworden; wir sprechen heutzutage im allgemeinen oft noch das
Lob nach, das frühere Bewunderer ihm gezollt haben, aber wir freuen uns seiner
Werke nicht mehr unmittelbar. Und doch wissen wir, daß er durch diese Werke
unsre neuere Dichtung erst begründet hat, daß auf seine Anregung vieles
zurückgeht, was wir zu dem Bedeutendsten und Schönsten in unsrer Kunst zählen,
daß er einst nicht bloß von der Menge, sondern fast noch mehr von den größten
Geistern unsers Volkes, deren Urteilen wir sonst nur zaghaft zu widersprechen
Pflegten, als echter, genialer Dichter laut und oft gefeiert worden ist. Nur die
geschichtliche unparteiische Betrachtung seines Lebens und Wirkens kann uns
diesen Zwiespalt unsrer Anschauungen erklären und versöhnen."

Es ist in der Ordnung, daß Muncker in seiner Vorrede den "tüchtigen Ansätzen,"
die zur geschichtlichen Betrachtung Klopstocks gemacht worden sind, alle Gerechtig¬
keit widerfahren läßt und aufzählt, was er an Material und Vorarbeiten vor¬
fand. Wie viel einem geschichtlichen Darsteller zu thun blieb, wie wenig (immer
die Straußsche Prachtschildernng der Jugend Klopstocks ausgenommen) für die
eigentliche Aufgabe: die einer umfassenden, lebensvollen, vergangene Zeiten und
Zustände, Ideale und Empfindungen greifbar heraufbeschwörenden Darstellung,
seither geschehen ist, kann jeder andre unnmwundener sagen als der Verfasser. An
"Material" hat es Muncker wahrlich uicht gefehlt, kaum über einen zweiten
Dichter seines Zeitalters ist schon bei Lebzeiten so viel geschrieben und gedruckt
worden, wie über Klopstock. Die Neuheit der Erscheinung, die allgemeine Be¬
geisterung, die sie weckte, die geradezu einzige Stellung, die sein Selbstgefühl,
sein Stoff, sein langes Leben im Vollgenuß des Ruhmes dem Dichter gaben,
der Mangel an bedeutenden zeitgenössischen Gegenständen, über die allenfalls zu
schreiben war, die behagliche Breite, mit der z. V. C. F. Cramer sechs Teile "Er


Munckcrs Rlopstockbiographie.

den wir natürlich nicht gerade das erste und zweite Jahr nach dem Tode eines
hervorragenden Mannes betrachten, da Pflegt es oft Menschenalter zu dauern,
bis die Lücke ausgefüllt wird. Die Säkularfeier von Klopstocks Geburtstag im
Jahre 1824 hatte nur unbedeutende und herzlich oberflächliche Schriften gebracht,
erst viele Jahrzehnte später setzte David Friedrich Strauß die Feder zu einer
Klopstockbiogrciphie an, die nicht über die Anfänge hinaus gedieh und von der
nur ein paar kostbare Bruchstücke in seinen „Kleinern Schriften" gedruckt wurden.
Und wiederum ein Menschenalter nachher hat Franz Muncker in München,
ein Schüler des geistvollen, universell gebildeten Michael Bernahs, den Vorsatz
zu einer neuen historischen Darstellung des Messiasdichters gefaßt. So¬
weit dieser Vorsatz einer Rechtfertigung bedarf, hat sie Muncker in einigen
Sätzen seiner Vorrede gegeben, die man Wort für Wort unterschreiben kann.
„Unter den großen Autoren unsrer neuern Litteratur sind nur wenige, für deren
richtige Erkenntnis und Würdigung eine wissenschaftliche Biographie so erforderlich
sein mag, wie für Klopstock. Von seinen Zeitgenossen einst vergöttert, ist er
und was er geschaffen hat, uns längst fremd, zum Teil sogar ungenießbar und
unverständlich geworden; wir sprechen heutzutage im allgemeinen oft noch das
Lob nach, das frühere Bewunderer ihm gezollt haben, aber wir freuen uns seiner
Werke nicht mehr unmittelbar. Und doch wissen wir, daß er durch diese Werke
unsre neuere Dichtung erst begründet hat, daß auf seine Anregung vieles
zurückgeht, was wir zu dem Bedeutendsten und Schönsten in unsrer Kunst zählen,
daß er einst nicht bloß von der Menge, sondern fast noch mehr von den größten
Geistern unsers Volkes, deren Urteilen wir sonst nur zaghaft zu widersprechen
Pflegten, als echter, genialer Dichter laut und oft gefeiert worden ist. Nur die
geschichtliche unparteiische Betrachtung seines Lebens und Wirkens kann uns
diesen Zwiespalt unsrer Anschauungen erklären und versöhnen."

Es ist in der Ordnung, daß Muncker in seiner Vorrede den „tüchtigen Ansätzen,"
die zur geschichtlichen Betrachtung Klopstocks gemacht worden sind, alle Gerechtig¬
keit widerfahren läßt und aufzählt, was er an Material und Vorarbeiten vor¬
fand. Wie viel einem geschichtlichen Darsteller zu thun blieb, wie wenig (immer
die Straußsche Prachtschildernng der Jugend Klopstocks ausgenommen) für die
eigentliche Aufgabe: die einer umfassenden, lebensvollen, vergangene Zeiten und
Zustände, Ideale und Empfindungen greifbar heraufbeschwörenden Darstellung,
seither geschehen ist, kann jeder andre unnmwundener sagen als der Verfasser. An
„Material" hat es Muncker wahrlich uicht gefehlt, kaum über einen zweiten
Dichter seines Zeitalters ist schon bei Lebzeiten so viel geschrieben und gedruckt
worden, wie über Klopstock. Die Neuheit der Erscheinung, die allgemeine Be¬
geisterung, die sie weckte, die geradezu einzige Stellung, die sein Selbstgefühl,
sein Stoff, sein langes Leben im Vollgenuß des Ruhmes dem Dichter gaben,
der Mangel an bedeutenden zeitgenössischen Gegenständen, über die allenfalls zu
schreiben war, die behagliche Breite, mit der z. V. C. F. Cramer sechs Teile „Er


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/531>, abgerufen am 01.09.2024.