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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr.

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Wiener Litteratur.

aller europäischen Börsen in Verbindung, liest den ganzen Tag die großen Zei¬
tungen, ist ein förmlicher Gelehrter seines Faches, um schließlich sich doch zu
seinem Ärger sagen lassen zu müssen, daß der andre, der leichtblütig, blind,
mit dem bloßen Instinkte des Geldmenschen das Spiel betreibt, mehr Geld ge¬
winne, als er mit seiner "Wissenschaft."

Dies der Inhalt und die Tendenz des Balderschen Romans. Man wird
nicht sagen können, daß er, der Fachmann, das Börsengetriebe, wie mancher
abgeschmackte Nationalökonom, als sittliche Macht hinstelle und lobpreise. Diese
seine objektive und strenge Haltung verdient volle Achtung. Allein zu einem
guten Romane bedarf es noch mehr, als einer leidlich gewandten Feder und
Kenntnis der Gesellschaft: es bedarf der künstlerischen Form der Sprache, der
Fähigkeit, zu gestalten und eine Handlung spannend darzustellen. In alledem
ist Balder uur ein begabter Dilettant. Anstatt zu schildern, reflektirt oder
witzelt er, anstatt zu gestalten, kritisirt er, im Grunde tritt er nie aus sich
heraus, er spricht immerfort selbst und viel zu viel, sodaß man Wohl begreift,
daß "Leonie" von vielen Lesern der Leihbibliotheken als langweilig bezeichnet
wird. Sein Walther ist übrigens eine mißlungene Figur, so hübsch sie ange¬
legt ist. Am besten ist noch die Praterszcne geraten, in welcher Walther und
Leonie sich ihre Liebe erklären.

Über das Buch eines andern Wiener Schriftstellers, über die Lebens¬
künstler, ein Sittenbild von Gustav Schwarzkopf (Dresden und Leipzig,
Heinrich Minden, 1888), das schon vor mehreren Monaten erschienen ist,
haben die Wiener Blätter keine Reklamen gebracht, sie haben beharrlich davon
geschwiegen, und nicht bloß deswegen, weil Schwarzkopf kein einflußreicher
Vantdirektor ist. sein Buch ist allerdings nicht fehlerlos, es hat sogar viele
Schwächen, allein eine beachtenswerte Erscheinung ist es immerhin, und das
Schicksal, totgeschwiegen zu werden, hat es nicht verdient. Freilich, Schwarzkopf
hat die Kühnheit gehabt, mit der Sachkenntnis des Eingeweihten die Wiener
Presse zu geißeln, und dies kann ihm, bei allen Sympathien, die er per¬
sönlich genießen mag, nicht verziehen werden. Hier wird gleiches Recht gegen
alle geübt.

Schwarzkopf ist ein ganz eigenartiger Geselle. Er entstammt derselben
Gesellschaft wie Erwin Balder, er fühlt und denkt gerade so wie dieser und
entbehrt noch mehr der Grundlage akademischer Bildung. Auch er kennt genau
die Kreise der Geld- und Börscnmenschen, allerdings nicht ausschließlich, sein
Gesichtsfeld ist breiter und reicher, und auch er hat sich den Haß gegen diese
Gesellschaft mit einem energischen Rechts- und Moralgefühl herangebildet, ohne
sich diesen Kreise" ganz entziehen zu können. Aber in der ursprünglichen lit¬
terarischen Begabung ist er Balder weit überlegen. Schwarzkopf ist ein Beob¬
achter von einer Schärfe und Wahrhaftigkeit, von einer analytischen Kraft und
moralisirenden Strenge, vou einer Rücksichtslosigkeit und Kaltblütigkeit, wie


Wiener Litteratur.

aller europäischen Börsen in Verbindung, liest den ganzen Tag die großen Zei¬
tungen, ist ein förmlicher Gelehrter seines Faches, um schließlich sich doch zu
seinem Ärger sagen lassen zu müssen, daß der andre, der leichtblütig, blind,
mit dem bloßen Instinkte des Geldmenschen das Spiel betreibt, mehr Geld ge¬
winne, als er mit seiner „Wissenschaft."

Dies der Inhalt und die Tendenz des Balderschen Romans. Man wird
nicht sagen können, daß er, der Fachmann, das Börsengetriebe, wie mancher
abgeschmackte Nationalökonom, als sittliche Macht hinstelle und lobpreise. Diese
seine objektive und strenge Haltung verdient volle Achtung. Allein zu einem
guten Romane bedarf es noch mehr, als einer leidlich gewandten Feder und
Kenntnis der Gesellschaft: es bedarf der künstlerischen Form der Sprache, der
Fähigkeit, zu gestalten und eine Handlung spannend darzustellen. In alledem
ist Balder uur ein begabter Dilettant. Anstatt zu schildern, reflektirt oder
witzelt er, anstatt zu gestalten, kritisirt er, im Grunde tritt er nie aus sich
heraus, er spricht immerfort selbst und viel zu viel, sodaß man Wohl begreift,
daß „Leonie" von vielen Lesern der Leihbibliotheken als langweilig bezeichnet
wird. Sein Walther ist übrigens eine mißlungene Figur, so hübsch sie ange¬
legt ist. Am besten ist noch die Praterszcne geraten, in welcher Walther und
Leonie sich ihre Liebe erklären.

Über das Buch eines andern Wiener Schriftstellers, über die Lebens¬
künstler, ein Sittenbild von Gustav Schwarzkopf (Dresden und Leipzig,
Heinrich Minden, 1888), das schon vor mehreren Monaten erschienen ist,
haben die Wiener Blätter keine Reklamen gebracht, sie haben beharrlich davon
geschwiegen, und nicht bloß deswegen, weil Schwarzkopf kein einflußreicher
Vantdirektor ist. sein Buch ist allerdings nicht fehlerlos, es hat sogar viele
Schwächen, allein eine beachtenswerte Erscheinung ist es immerhin, und das
Schicksal, totgeschwiegen zu werden, hat es nicht verdient. Freilich, Schwarzkopf
hat die Kühnheit gehabt, mit der Sachkenntnis des Eingeweihten die Wiener
Presse zu geißeln, und dies kann ihm, bei allen Sympathien, die er per¬
sönlich genießen mag, nicht verziehen werden. Hier wird gleiches Recht gegen
alle geübt.

Schwarzkopf ist ein ganz eigenartiger Geselle. Er entstammt derselben
Gesellschaft wie Erwin Balder, er fühlt und denkt gerade so wie dieser und
entbehrt noch mehr der Grundlage akademischer Bildung. Auch er kennt genau
die Kreise der Geld- und Börscnmenschen, allerdings nicht ausschließlich, sein
Gesichtsfeld ist breiter und reicher, und auch er hat sich den Haß gegen diese
Gesellschaft mit einem energischen Rechts- und Moralgefühl herangebildet, ohne
sich diesen Kreise» ganz entziehen zu können. Aber in der ursprünglichen lit¬
terarischen Begabung ist er Balder weit überlegen. Schwarzkopf ist ein Beob¬
achter von einer Schärfe und Wahrhaftigkeit, von einer analytischen Kraft und
moralisirenden Strenge, vou einer Rücksichtslosigkeit und Kaltblütigkeit, wie


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[0492] Wiener Litteratur. aller europäischen Börsen in Verbindung, liest den ganzen Tag die großen Zei¬ tungen, ist ein förmlicher Gelehrter seines Faches, um schließlich sich doch zu seinem Ärger sagen lassen zu müssen, daß der andre, der leichtblütig, blind, mit dem bloßen Instinkte des Geldmenschen das Spiel betreibt, mehr Geld ge¬ winne, als er mit seiner „Wissenschaft." Dies der Inhalt und die Tendenz des Balderschen Romans. Man wird nicht sagen können, daß er, der Fachmann, das Börsengetriebe, wie mancher abgeschmackte Nationalökonom, als sittliche Macht hinstelle und lobpreise. Diese seine objektive und strenge Haltung verdient volle Achtung. Allein zu einem guten Romane bedarf es noch mehr, als einer leidlich gewandten Feder und Kenntnis der Gesellschaft: es bedarf der künstlerischen Form der Sprache, der Fähigkeit, zu gestalten und eine Handlung spannend darzustellen. In alledem ist Balder uur ein begabter Dilettant. Anstatt zu schildern, reflektirt oder witzelt er, anstatt zu gestalten, kritisirt er, im Grunde tritt er nie aus sich heraus, er spricht immerfort selbst und viel zu viel, sodaß man Wohl begreift, daß „Leonie" von vielen Lesern der Leihbibliotheken als langweilig bezeichnet wird. Sein Walther ist übrigens eine mißlungene Figur, so hübsch sie ange¬ legt ist. Am besten ist noch die Praterszcne geraten, in welcher Walther und Leonie sich ihre Liebe erklären. Über das Buch eines andern Wiener Schriftstellers, über die Lebens¬ künstler, ein Sittenbild von Gustav Schwarzkopf (Dresden und Leipzig, Heinrich Minden, 1888), das schon vor mehreren Monaten erschienen ist, haben die Wiener Blätter keine Reklamen gebracht, sie haben beharrlich davon geschwiegen, und nicht bloß deswegen, weil Schwarzkopf kein einflußreicher Vantdirektor ist. sein Buch ist allerdings nicht fehlerlos, es hat sogar viele Schwächen, allein eine beachtenswerte Erscheinung ist es immerhin, und das Schicksal, totgeschwiegen zu werden, hat es nicht verdient. Freilich, Schwarzkopf hat die Kühnheit gehabt, mit der Sachkenntnis des Eingeweihten die Wiener Presse zu geißeln, und dies kann ihm, bei allen Sympathien, die er per¬ sönlich genießen mag, nicht verziehen werden. Hier wird gleiches Recht gegen alle geübt. Schwarzkopf ist ein ganz eigenartiger Geselle. Er entstammt derselben Gesellschaft wie Erwin Balder, er fühlt und denkt gerade so wie dieser und entbehrt noch mehr der Grundlage akademischer Bildung. Auch er kennt genau die Kreise der Geld- und Börscnmenschen, allerdings nicht ausschließlich, sein Gesichtsfeld ist breiter und reicher, und auch er hat sich den Haß gegen diese Gesellschaft mit einem energischen Rechts- und Moralgefühl herangebildet, ohne sich diesen Kreise» ganz entziehen zu können. Aber in der ursprünglichen lit¬ terarischen Begabung ist er Balder weit überlegen. Schwarzkopf ist ein Beob¬ achter von einer Schärfe und Wahrhaftigkeit, von einer analytischen Kraft und moralisirenden Strenge, vou einer Rücksichtslosigkeit und Kaltblütigkeit, wie

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/492>, abgerufen am 01.09.2024.