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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr.

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Wiener Litteratur.

teilen wollten. Dieses Übermaß der Verurteilung ist auch nicht gerecht, aber
es ist der natürliche Gegenschlag für die Herausforderung der Leser durch die
Reklame.

Was Erwin Balder mit seinem Romane hat sagen wollen, hat er seiner
Heldin in der Schlußszene selbst in den Mund gelegt. "Ich sehe die Welt
s^sagt Leonie im Streite mit ihrem Gegner Holberg^ erst seit einigen Jahren
in ihrer wirklichen Gestalt, denn in der ersten Jugend betrachtet man ja alles
durch gefärbte Brillen. Da habe ich nun die Wahrnehmung gemacht, daß es
eine große Klasse Menschen giebt, welche durch ihre Vorurteilslosigkeit sehr be¬
deutende Erfolge erzielt. Man sage nicht, daß sie Schurken sind, o, das wäre
eine sehr arge Entstellung. Es sind einfach vernünftige Leute, welche begreifen,
daß es ganz unmöglich ist, in der Welt vorwärts zu kommen, wenn man den
mit Fibellehren vollgestopften Tornister auf dem Rücken schleppen soll. Sie
entledigen sich daher dieses Tornisters, nichts weiter. Alle diese Menschen be¬
gehen keine schlechten oder gemeinen Handlungen, sie sind überhaupt nicht aktiv,
sondern begnügen sich, aus den Ereignissen Nutzen zu ziehen. Läßt sich da¬
gegen das Mindeste einwenden? Nicht wahr, nein! Man ist nicht moralisch,
aber man ist tadellos anständig, und aus einer gewissen Entfernung betrachtet
ist das eins und dasselbe. . . . Wenn Sie einen Augenblick den Standpunkt
der reinen Moral einnehmen wollen, so müssen Sie ster Börsenspekulant Hol-
berg^j zugeben, daß Ihr ganzes Thun und Treiben im höchsten Grade ver¬
werflich ist. Ich erinnere Sie an die geheimnisvollen, interessanten Nachrichten,
welche Ihnen beständig aus allen Regionen zu Ohren kommen, und die ja
auch mir durch Ihre Freundlichkeit größtenteils bekannt sind. Wie viel Kor¬
ruption, wie viel Unsauberkeit ist in diesen Geschichten enthalten, aber das hat
Sie noch nie verhindert, so viel als möglich aus denselben Nutzen zu ziehen
und je nachdem es rentabel erschien, Papiere zu kaufen oder zu verkaufen.
Und neulich, als ich Sie im Comptoir besuchte, fand ich Sie vor Ärger ganz
außer sich, weil die Cholerameldungen aus Toulon günstiger lauteten, als es
Ihren Interessen dienlich war. Sie werden mir nun wahrscheinlich antworten,
daß Sie durch Ihre Spekulationen weder die Korruption noch die Cholera be¬
fördern, und ich stimme Ihnen darin vollkommen bei. Ja, ich erkläre sogar
unaufgefordert, daß Sie nach der Meinung aller Fachgenossen von untadeliger
Rechtschaffenheit sind und niemals eine schlechte Sache unterstützen oder eine
unwahre Nachricht verbreiten würden, wenn Sie selbst dadurch Millionen ge¬
winnen könnten. Aber alles das, geehrter Herr, bestätigt nur, was ich früher
gesagt habe. Sie und tausend andre Profitiren von allem Schlechten in der
Welt, sie wünschen es auch herbei, bleiben aber demungeachtet die größten
Ehrenmänner, weil sie keinen Finger regen, um es zu verwirklichen. An die
Stelle der Tugend ist bei einer großen Menschenklasse die "Anständigkeit" ge¬
treten, deren Inhalt wird durch die leere Form ersetzt. Das ist ein Umschwung


Wiener Litteratur.

teilen wollten. Dieses Übermaß der Verurteilung ist auch nicht gerecht, aber
es ist der natürliche Gegenschlag für die Herausforderung der Leser durch die
Reklame.

Was Erwin Balder mit seinem Romane hat sagen wollen, hat er seiner
Heldin in der Schlußszene selbst in den Mund gelegt. „Ich sehe die Welt
s^sagt Leonie im Streite mit ihrem Gegner Holberg^ erst seit einigen Jahren
in ihrer wirklichen Gestalt, denn in der ersten Jugend betrachtet man ja alles
durch gefärbte Brillen. Da habe ich nun die Wahrnehmung gemacht, daß es
eine große Klasse Menschen giebt, welche durch ihre Vorurteilslosigkeit sehr be¬
deutende Erfolge erzielt. Man sage nicht, daß sie Schurken sind, o, das wäre
eine sehr arge Entstellung. Es sind einfach vernünftige Leute, welche begreifen,
daß es ganz unmöglich ist, in der Welt vorwärts zu kommen, wenn man den
mit Fibellehren vollgestopften Tornister auf dem Rücken schleppen soll. Sie
entledigen sich daher dieses Tornisters, nichts weiter. Alle diese Menschen be¬
gehen keine schlechten oder gemeinen Handlungen, sie sind überhaupt nicht aktiv,
sondern begnügen sich, aus den Ereignissen Nutzen zu ziehen. Läßt sich da¬
gegen das Mindeste einwenden? Nicht wahr, nein! Man ist nicht moralisch,
aber man ist tadellos anständig, und aus einer gewissen Entfernung betrachtet
ist das eins und dasselbe. . . . Wenn Sie einen Augenblick den Standpunkt
der reinen Moral einnehmen wollen, so müssen Sie ster Börsenspekulant Hol-
berg^j zugeben, daß Ihr ganzes Thun und Treiben im höchsten Grade ver¬
werflich ist. Ich erinnere Sie an die geheimnisvollen, interessanten Nachrichten,
welche Ihnen beständig aus allen Regionen zu Ohren kommen, und die ja
auch mir durch Ihre Freundlichkeit größtenteils bekannt sind. Wie viel Kor¬
ruption, wie viel Unsauberkeit ist in diesen Geschichten enthalten, aber das hat
Sie noch nie verhindert, so viel als möglich aus denselben Nutzen zu ziehen
und je nachdem es rentabel erschien, Papiere zu kaufen oder zu verkaufen.
Und neulich, als ich Sie im Comptoir besuchte, fand ich Sie vor Ärger ganz
außer sich, weil die Cholerameldungen aus Toulon günstiger lauteten, als es
Ihren Interessen dienlich war. Sie werden mir nun wahrscheinlich antworten,
daß Sie durch Ihre Spekulationen weder die Korruption noch die Cholera be¬
fördern, und ich stimme Ihnen darin vollkommen bei. Ja, ich erkläre sogar
unaufgefordert, daß Sie nach der Meinung aller Fachgenossen von untadeliger
Rechtschaffenheit sind und niemals eine schlechte Sache unterstützen oder eine
unwahre Nachricht verbreiten würden, wenn Sie selbst dadurch Millionen ge¬
winnen könnten. Aber alles das, geehrter Herr, bestätigt nur, was ich früher
gesagt habe. Sie und tausend andre Profitiren von allem Schlechten in der
Welt, sie wünschen es auch herbei, bleiben aber demungeachtet die größten
Ehrenmänner, weil sie keinen Finger regen, um es zu verwirklichen. An die
Stelle der Tugend ist bei einer großen Menschenklasse die »Anständigkeit« ge¬
treten, deren Inhalt wird durch die leere Form ersetzt. Das ist ein Umschwung


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/490>, abgerufen am 01.09.2024.