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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr.

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lvioner Litteratur.

Volk ins Haus zu locken, oder den verlogenen Hymnus ans einen neuen Roman,
der kein Talent zeigt. Denn die Enttäuschung, die der naive Glaube, das
"Hineinfallen" auf solche Kritik erlebt, ist empfindlicher als die Enttäuschung
in politischen oder finanziellen Angelegenheiten, die ihre materiellen Folgen ge¬
wöhnlich erst längere Zeit nach ihrem ersten Auftreten in den Zeitungen offen¬
baren; inzwischen sind die beredten Leitartikel vergessen worden. Die beliebteste
Methode der litterarischen Kritik in Wien ist die des Totschweigens geworden.
Unbequeme Bücher werden schlechtweg nicht besprochen, denn, lautet die Lehre,
auch die gegnerische Kritik ist eine Reklame. Freilich deswegen, weil diese
Gegnerschaft häufig genug dem Guten galt. Eine überzeugende Verurteilung
jedoch zu schreiben ist keine leichte Sache. Soll sie den Eindruck der Wahrheit
hervorrufe", so muß sie unpersönlich, eindringlich, redlich gemacht sein: eine
Arbeit, die der Wiener Journalist in seinem Streben nach leichtem, raschem
und reichem Verdienst nicht so leicht unternimmt. Daher zieht er es vor, mit
einigen flüchtig hingeworfene" Zeilen schalen Lobes (das Buch wird nicht einmal
aufgeschnitten) sich aus der Sache zu ziehen, er verpflichtet damit in perfider
Weise den Verfasser, beruhigt den Verleger und betrügt die Leser seines Blattes.
Nur nicht polemisireu! Das ist die Losung der Wiener Buchkritik, soweit sie
noch besteht, denn man weiß nicht, wo, wie und an wen man anstößt, und
weil man selbst geschont werden will, schont mau alle Welt, daß es ein Ekel
ist, daß sogar der Hymnus keinen ernsthaften Schriftsteller mehr erfreuen
kann. Sie haben selbst das Publikum durch dieses Treiben abgestoßen, und
nun heißt es, das Publikum will keine litterarische Kritik mehr lesen. Um die
Folgen dieses Treibens kümmern sich die Blätter nicht, sie nehmen eingestandener¬
maßen den Grundsatz des ^xrös vous I<z cköluAg ein und wollen es so halten,
so lange sie das Heft in den Händen haben. Sie merken nicht oder sie wollen
nicht merken, daß inzwischen um sie herum ein neues Geschlecht heranwächst
-- aus Juden und Christen zusammengesetzt --, welches den Haß gegen
dieses abgeschmackte Treiben für das ganze Leben in sich aufsaugt; sie merken
nicht, daß sie nachgerade das Publikum so weit gebracht haben, daß es das
genaue Gegenteil von dem für wahr hält, was die Zeitung verkündet und preist;
sie merken nicht, wie sie sich in ihrer eignen Schablone mumienhaft einsargen,
und arbeiten nach dem alten "Schimmel" weiter. Es entwickelt sich über ihre
Köpfe hinweg eine mündliche Tradition, und es wird nicht lange mehr dauern,
bis sie die Oberhand gewinnt.

So sieht das litterarische Wien gegenwärtig aus. Es ähnelt dem Vor¬
märz in fataler Weise, nur daß diesmal die Zeitungen selbst die Stelle der
Metternichschcn Zensur übernommen haben, und daß die Zensur damals über
das sogenannte Staatswohl wachte, während sie jetzt für die Einkünfte der
Klique sorgt.

In der ersten Maiwoche wurde ein litterarisches Ereignis in Szene gesetzt,


lvioner Litteratur.

Volk ins Haus zu locken, oder den verlogenen Hymnus ans einen neuen Roman,
der kein Talent zeigt. Denn die Enttäuschung, die der naive Glaube, das
„Hineinfallen" auf solche Kritik erlebt, ist empfindlicher als die Enttäuschung
in politischen oder finanziellen Angelegenheiten, die ihre materiellen Folgen ge¬
wöhnlich erst längere Zeit nach ihrem ersten Auftreten in den Zeitungen offen¬
baren; inzwischen sind die beredten Leitartikel vergessen worden. Die beliebteste
Methode der litterarischen Kritik in Wien ist die des Totschweigens geworden.
Unbequeme Bücher werden schlechtweg nicht besprochen, denn, lautet die Lehre,
auch die gegnerische Kritik ist eine Reklame. Freilich deswegen, weil diese
Gegnerschaft häufig genug dem Guten galt. Eine überzeugende Verurteilung
jedoch zu schreiben ist keine leichte Sache. Soll sie den Eindruck der Wahrheit
hervorrufe», so muß sie unpersönlich, eindringlich, redlich gemacht sein: eine
Arbeit, die der Wiener Journalist in seinem Streben nach leichtem, raschem
und reichem Verdienst nicht so leicht unternimmt. Daher zieht er es vor, mit
einigen flüchtig hingeworfene» Zeilen schalen Lobes (das Buch wird nicht einmal
aufgeschnitten) sich aus der Sache zu ziehen, er verpflichtet damit in perfider
Weise den Verfasser, beruhigt den Verleger und betrügt die Leser seines Blattes.
Nur nicht polemisireu! Das ist die Losung der Wiener Buchkritik, soweit sie
noch besteht, denn man weiß nicht, wo, wie und an wen man anstößt, und
weil man selbst geschont werden will, schont mau alle Welt, daß es ein Ekel
ist, daß sogar der Hymnus keinen ernsthaften Schriftsteller mehr erfreuen
kann. Sie haben selbst das Publikum durch dieses Treiben abgestoßen, und
nun heißt es, das Publikum will keine litterarische Kritik mehr lesen. Um die
Folgen dieses Treibens kümmern sich die Blätter nicht, sie nehmen eingestandener¬
maßen den Grundsatz des ^xrös vous I<z cköluAg ein und wollen es so halten,
so lange sie das Heft in den Händen haben. Sie merken nicht oder sie wollen
nicht merken, daß inzwischen um sie herum ein neues Geschlecht heranwächst
— aus Juden und Christen zusammengesetzt —, welches den Haß gegen
dieses abgeschmackte Treiben für das ganze Leben in sich aufsaugt; sie merken
nicht, daß sie nachgerade das Publikum so weit gebracht haben, daß es das
genaue Gegenteil von dem für wahr hält, was die Zeitung verkündet und preist;
sie merken nicht, wie sie sich in ihrer eignen Schablone mumienhaft einsargen,
und arbeiten nach dem alten „Schimmel" weiter. Es entwickelt sich über ihre
Köpfe hinweg eine mündliche Tradition, und es wird nicht lange mehr dauern,
bis sie die Oberhand gewinnt.

So sieht das litterarische Wien gegenwärtig aus. Es ähnelt dem Vor¬
märz in fataler Weise, nur daß diesmal die Zeitungen selbst die Stelle der
Metternichschcn Zensur übernommen haben, und daß die Zensur damals über
das sogenannte Staatswohl wachte, während sie jetzt für die Einkünfte der
Klique sorgt.

In der ersten Maiwoche wurde ein litterarisches Ereignis in Szene gesetzt,


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[0488] lvioner Litteratur. Volk ins Haus zu locken, oder den verlogenen Hymnus ans einen neuen Roman, der kein Talent zeigt. Denn die Enttäuschung, die der naive Glaube, das „Hineinfallen" auf solche Kritik erlebt, ist empfindlicher als die Enttäuschung in politischen oder finanziellen Angelegenheiten, die ihre materiellen Folgen ge¬ wöhnlich erst längere Zeit nach ihrem ersten Auftreten in den Zeitungen offen¬ baren; inzwischen sind die beredten Leitartikel vergessen worden. Die beliebteste Methode der litterarischen Kritik in Wien ist die des Totschweigens geworden. Unbequeme Bücher werden schlechtweg nicht besprochen, denn, lautet die Lehre, auch die gegnerische Kritik ist eine Reklame. Freilich deswegen, weil diese Gegnerschaft häufig genug dem Guten galt. Eine überzeugende Verurteilung jedoch zu schreiben ist keine leichte Sache. Soll sie den Eindruck der Wahrheit hervorrufe», so muß sie unpersönlich, eindringlich, redlich gemacht sein: eine Arbeit, die der Wiener Journalist in seinem Streben nach leichtem, raschem und reichem Verdienst nicht so leicht unternimmt. Daher zieht er es vor, mit einigen flüchtig hingeworfene» Zeilen schalen Lobes (das Buch wird nicht einmal aufgeschnitten) sich aus der Sache zu ziehen, er verpflichtet damit in perfider Weise den Verfasser, beruhigt den Verleger und betrügt die Leser seines Blattes. Nur nicht polemisireu! Das ist die Losung der Wiener Buchkritik, soweit sie noch besteht, denn man weiß nicht, wo, wie und an wen man anstößt, und weil man selbst geschont werden will, schont mau alle Welt, daß es ein Ekel ist, daß sogar der Hymnus keinen ernsthaften Schriftsteller mehr erfreuen kann. Sie haben selbst das Publikum durch dieses Treiben abgestoßen, und nun heißt es, das Publikum will keine litterarische Kritik mehr lesen. Um die Folgen dieses Treibens kümmern sich die Blätter nicht, sie nehmen eingestandener¬ maßen den Grundsatz des ^xrös vous I<z cköluAg ein und wollen es so halten, so lange sie das Heft in den Händen haben. Sie merken nicht oder sie wollen nicht merken, daß inzwischen um sie herum ein neues Geschlecht heranwächst — aus Juden und Christen zusammengesetzt —, welches den Haß gegen dieses abgeschmackte Treiben für das ganze Leben in sich aufsaugt; sie merken nicht, daß sie nachgerade das Publikum so weit gebracht haben, daß es das genaue Gegenteil von dem für wahr hält, was die Zeitung verkündet und preist; sie merken nicht, wie sie sich in ihrer eignen Schablone mumienhaft einsargen, und arbeiten nach dem alten „Schimmel" weiter. Es entwickelt sich über ihre Köpfe hinweg eine mündliche Tradition, und es wird nicht lange mehr dauern, bis sie die Oberhand gewinnt. So sieht das litterarische Wien gegenwärtig aus. Es ähnelt dem Vor¬ märz in fataler Weise, nur daß diesmal die Zeitungen selbst die Stelle der Metternichschcn Zensur übernommen haben, und daß die Zensur damals über das sogenannte Staatswohl wachte, während sie jetzt für die Einkünfte der Klique sorgt. In der ersten Maiwoche wurde ein litterarisches Ereignis in Szene gesetzt,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/488>, abgerufen am 01.09.2024.