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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr.

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wiener Litteratur.

Der Beifall, mit welchem besonders die zeitgenössische Jugend die sozial-
revolutionären Dichtungen Schillers aufnahm, beweist, wie sehr auch im deutschen
Bürgerstande die Stimmungen verbreitet waren, die in Frankreich zu dem Aus¬
bruch von 1789 führten. Aber die politischen Verhältnisse im heiligen rö¬
mischen Reiche machten eine andre Revolution, als die bürgerlich-soziale, zu
einer viel dringlichern Angelegenheit: die Fürstenrevolution, durch welche wenig¬
stens die faulsten und ohnmächtigsten Landeshoheiten beseitigt und überall, wo
es irgend anging, mit der Verwirklichung des Staatsbegriffes Ernst gemacht
wurde. Dieser so notwendigen und heilsamen Revolution, die sich freilich unter
Frankreichs Mitwirkung vollzog, sah das deutsche Volk that- und teilnahmlos
zu. Für die Idee des Staates blieb Sinn und Herz meist verschlösse". Und
weit von ihr weg flüchtete" unsre großen Dichter, Goethe und Schiller voran,
aus der Sinne Schranken in die Freiheit des Gedankens, in das Reich der
Poesie und des ästhetischen Genusses. Auf diesem Standpunkte mochte dann
freilich Schiller nicht mehr gern erinnert sein an das revolutionäre Über¬
schäumen seiner Jugend und konnte Goethe halb mitleidig über die "Räuber"
das kunstgreiscnhafte Urteil sprechen, sie seien ein "Produkt jugendlicher Un¬
geduld." Sie sind das Erzeugnis des Stürmens und Drängens einer neuen
Zeit, die allerdings, wie sie große Fortschritte der Menschheit auszuweisen
hat, auch überreich ist an großen Irrtümern. Den Irrtum der Revolution
für die Menschheit unschädlich zu machen, wird aber nie gelingen, wenn die
Besten in vornehmer Selbstgenügsamkeit dem ästhetischen Ideal leben wollen;
die Macht, welche dem revolutionären Unheil gewachsen ist, ruht allein in dem
Gedanken der Pflicht, des Staates, des Vaterlandes.




Wiener Litteratur.

an hat vor einiger Zeit klagend ausgerufen: Wien ist keine
Thcaterstadt mehr, Wien "war" eine Theaterstadt. Die Be¬
rechtigung dieses Klagerufes wurde von vielen Seiten bestritten,
indem man auf die Wiener Operettendichter und Operetten-
kompouisten hinwies, die noch immer den deutschen Theatermarkt
beherrschen, und auf die Leistungen des Wiener Vurgtheaters, welches von
keiner andern deutschen Bühne übertroffen wird und seine Vormacht behauptet.
Daß aber Wien schon längst keine litterarische Stadt mehr ist, was es in den
sechziger und auch in den siebziger Jahren noch war, das wird zwar nirgendshin


wiener Litteratur.

Der Beifall, mit welchem besonders die zeitgenössische Jugend die sozial-
revolutionären Dichtungen Schillers aufnahm, beweist, wie sehr auch im deutschen
Bürgerstande die Stimmungen verbreitet waren, die in Frankreich zu dem Aus¬
bruch von 1789 führten. Aber die politischen Verhältnisse im heiligen rö¬
mischen Reiche machten eine andre Revolution, als die bürgerlich-soziale, zu
einer viel dringlichern Angelegenheit: die Fürstenrevolution, durch welche wenig¬
stens die faulsten und ohnmächtigsten Landeshoheiten beseitigt und überall, wo
es irgend anging, mit der Verwirklichung des Staatsbegriffes Ernst gemacht
wurde. Dieser so notwendigen und heilsamen Revolution, die sich freilich unter
Frankreichs Mitwirkung vollzog, sah das deutsche Volk that- und teilnahmlos
zu. Für die Idee des Staates blieb Sinn und Herz meist verschlösse«. Und
weit von ihr weg flüchtete» unsre großen Dichter, Goethe und Schiller voran,
aus der Sinne Schranken in die Freiheit des Gedankens, in das Reich der
Poesie und des ästhetischen Genusses. Auf diesem Standpunkte mochte dann
freilich Schiller nicht mehr gern erinnert sein an das revolutionäre Über¬
schäumen seiner Jugend und konnte Goethe halb mitleidig über die „Räuber"
das kunstgreiscnhafte Urteil sprechen, sie seien ein „Produkt jugendlicher Un¬
geduld." Sie sind das Erzeugnis des Stürmens und Drängens einer neuen
Zeit, die allerdings, wie sie große Fortschritte der Menschheit auszuweisen
hat, auch überreich ist an großen Irrtümern. Den Irrtum der Revolution
für die Menschheit unschädlich zu machen, wird aber nie gelingen, wenn die
Besten in vornehmer Selbstgenügsamkeit dem ästhetischen Ideal leben wollen;
die Macht, welche dem revolutionären Unheil gewachsen ist, ruht allein in dem
Gedanken der Pflicht, des Staates, des Vaterlandes.




Wiener Litteratur.

an hat vor einiger Zeit klagend ausgerufen: Wien ist keine
Thcaterstadt mehr, Wien „war" eine Theaterstadt. Die Be¬
rechtigung dieses Klagerufes wurde von vielen Seiten bestritten,
indem man auf die Wiener Operettendichter und Operetten-
kompouisten hinwies, die noch immer den deutschen Theatermarkt
beherrschen, und auf die Leistungen des Wiener Vurgtheaters, welches von
keiner andern deutschen Bühne übertroffen wird und seine Vormacht behauptet.
Daß aber Wien schon längst keine litterarische Stadt mehr ist, was es in den
sechziger und auch in den siebziger Jahren noch war, das wird zwar nirgendshin


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[0486] wiener Litteratur. Der Beifall, mit welchem besonders die zeitgenössische Jugend die sozial- revolutionären Dichtungen Schillers aufnahm, beweist, wie sehr auch im deutschen Bürgerstande die Stimmungen verbreitet waren, die in Frankreich zu dem Aus¬ bruch von 1789 führten. Aber die politischen Verhältnisse im heiligen rö¬ mischen Reiche machten eine andre Revolution, als die bürgerlich-soziale, zu einer viel dringlichern Angelegenheit: die Fürstenrevolution, durch welche wenig¬ stens die faulsten und ohnmächtigsten Landeshoheiten beseitigt und überall, wo es irgend anging, mit der Verwirklichung des Staatsbegriffes Ernst gemacht wurde. Dieser so notwendigen und heilsamen Revolution, die sich freilich unter Frankreichs Mitwirkung vollzog, sah das deutsche Volk that- und teilnahmlos zu. Für die Idee des Staates blieb Sinn und Herz meist verschlösse«. Und weit von ihr weg flüchtete» unsre großen Dichter, Goethe und Schiller voran, aus der Sinne Schranken in die Freiheit des Gedankens, in das Reich der Poesie und des ästhetischen Genusses. Auf diesem Standpunkte mochte dann freilich Schiller nicht mehr gern erinnert sein an das revolutionäre Über¬ schäumen seiner Jugend und konnte Goethe halb mitleidig über die „Räuber" das kunstgreiscnhafte Urteil sprechen, sie seien ein „Produkt jugendlicher Un¬ geduld." Sie sind das Erzeugnis des Stürmens und Drängens einer neuen Zeit, die allerdings, wie sie große Fortschritte der Menschheit auszuweisen hat, auch überreich ist an großen Irrtümern. Den Irrtum der Revolution für die Menschheit unschädlich zu machen, wird aber nie gelingen, wenn die Besten in vornehmer Selbstgenügsamkeit dem ästhetischen Ideal leben wollen; die Macht, welche dem revolutionären Unheil gewachsen ist, ruht allein in dem Gedanken der Pflicht, des Staates, des Vaterlandes. Wiener Litteratur. an hat vor einiger Zeit klagend ausgerufen: Wien ist keine Thcaterstadt mehr, Wien „war" eine Theaterstadt. Die Be¬ rechtigung dieses Klagerufes wurde von vielen Seiten bestritten, indem man auf die Wiener Operettendichter und Operetten- kompouisten hinwies, die noch immer den deutschen Theatermarkt beherrschen, und auf die Leistungen des Wiener Vurgtheaters, welches von keiner andern deutschen Bühne übertroffen wird und seine Vormacht behauptet. Daß aber Wien schon längst keine litterarische Stadt mehr ist, was es in den sechziger und auch in den siebziger Jahren noch war, das wird zwar nirgendshin

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/486>, abgerufen am 13.11.2024.