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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr.

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Amerikanisches Eisenbahnwesen.

kleinste Station zu jeder Zeit bereit hat. Auch hierbei lernt man die Schatten¬
seiten des Privateisenbahnwesens gründlich kennen; eine Gesellschaft schiebt der
andern die Schuld der Verspätungen zu, und das Publikum muß es ausbaden.
Da auf die paar Stunden bis zum Abgänge des Morgenzuges ein Hotel auf¬
zusuchen doch nicht mehr verlohnte, so blieb nichts andres übrig, als die freund¬
schaftlichen Beziehungen zu den bekannten Holzbauten, die zum Überfluß durch
Querabteilungen zu jeder horizontalen Ruhestellung unbrauchbar gemacht sind,
aufs neue anzuknüpfen. Mich dauerte namentlich die kinderreiche Familie,
welche mit den schlaftrunkenen Kleinen nun die ganze Nacht in fo elender Weise
zubringen mußte. Der vielstimmige Kinderchor, das kalte Zimmer und die
harte Bank machten alle Schlafversuche unmöglich, und so begann ich, trotz der
Abspannung, etwas nachtzuwcmdeln, um mir das geräumige Gebäude, welches
den verschiedensten Linien als Kreuzungsstation dient, etwas näher anzusehen.
Allerdings durfte ich dabei das Damenwartezimmer, welches neben dem allge¬
meinen Wartesaal lag, aber wie immer besser geheizt und erleuchtet war, nicht
allzulange mit meiner Gegenwart beehren, denn ich hatte nicht den Vorzug,
in Gesellschaft einer Lady zu reisen, und für Solisten sind die Pforten des
Paradieses unweigerlich geschlossen. Es hängt dies mit der besonders bevor¬
zugten Stellung der Frauen in Amerika zusammen, die mitunter ins Komische
ausartet, aber in einem Lande, wo "Europens übertünchte Höflichkeit" der
breiten Menge noch ein Geheimnis ist, jedenfalls ihren Grund hat. So haben
z. B. fast alle Hotels, Restaurants und Verkaufsladen besondre Dameneingänge,
Iaäi<Z8 entrMvö. Merkwürdigerweise giebt es aber auf der Eisenbahn keine
"Frauenwagen"; vermutlich weil das allzulange "Unter sich" auch den ameri¬
kanischen Ladies nicht gerade wünschenswert erscheint. Im gewöhnlichen Leben
äußert sich der Unterschied in der Behandlung der Damen und Herren etwa
so: hat jemand das Unglück, einer Dame auf den Fuß zu treten, so wird sie
in höflichster Weise um Verzeihung gebeten; ist der Getretene aber ein Herr,
so erhält er höchstens einen wütenden Blick zugeworfen, der etwa sagen will:
"Wie kommen Sie dazu, ihren Fuß unter meinen Absatz zu stecken!" Will
daher ein solch vereinzelter Herr der Schöpfung mit den nach europäischen
Begriffen ihm gebührenden Höflichkeitsbezeugungen reisen und in allen etwaigen
Notfällen auf rücksichtsvolle Unterstützung des Eisenbahnpersonals oder der
Mitreisenden rechnen, so bleibt ihm kaum etwas andres übrig, als sich mit einem
natürlich platonischen "Reiseverhältnis" zu versehen; er wird sich, besonders
bei richtiger Wahl, reichlichst entschädigt fühlen, zumal wenn seine Tour durch
die Gegenden westlicher Unkultur führt, wo man selbst in den Salonwagen
nicht selten mit der Gesellschaft von Viehhändlern, Budikern, Krämern und
ähnlichen Leuten vorlieb nehmen muß, die nur für die Kunst des mons^ eng-KwA
aber für sonst nichts empfänglich sind. Eine greuliche Unsitte, die sich leider
keineswegs auf solche Gesellschaftsklassen beschränkt, ist dabei das widerliche


Amerikanisches Eisenbahnwesen.

kleinste Station zu jeder Zeit bereit hat. Auch hierbei lernt man die Schatten¬
seiten des Privateisenbahnwesens gründlich kennen; eine Gesellschaft schiebt der
andern die Schuld der Verspätungen zu, und das Publikum muß es ausbaden.
Da auf die paar Stunden bis zum Abgänge des Morgenzuges ein Hotel auf¬
zusuchen doch nicht mehr verlohnte, so blieb nichts andres übrig, als die freund¬
schaftlichen Beziehungen zu den bekannten Holzbauten, die zum Überfluß durch
Querabteilungen zu jeder horizontalen Ruhestellung unbrauchbar gemacht sind,
aufs neue anzuknüpfen. Mich dauerte namentlich die kinderreiche Familie,
welche mit den schlaftrunkenen Kleinen nun die ganze Nacht in fo elender Weise
zubringen mußte. Der vielstimmige Kinderchor, das kalte Zimmer und die
harte Bank machten alle Schlafversuche unmöglich, und so begann ich, trotz der
Abspannung, etwas nachtzuwcmdeln, um mir das geräumige Gebäude, welches
den verschiedensten Linien als Kreuzungsstation dient, etwas näher anzusehen.
Allerdings durfte ich dabei das Damenwartezimmer, welches neben dem allge¬
meinen Wartesaal lag, aber wie immer besser geheizt und erleuchtet war, nicht
allzulange mit meiner Gegenwart beehren, denn ich hatte nicht den Vorzug,
in Gesellschaft einer Lady zu reisen, und für Solisten sind die Pforten des
Paradieses unweigerlich geschlossen. Es hängt dies mit der besonders bevor¬
zugten Stellung der Frauen in Amerika zusammen, die mitunter ins Komische
ausartet, aber in einem Lande, wo „Europens übertünchte Höflichkeit" der
breiten Menge noch ein Geheimnis ist, jedenfalls ihren Grund hat. So haben
z. B. fast alle Hotels, Restaurants und Verkaufsladen besondre Dameneingänge,
Iaäi<Z8 entrMvö. Merkwürdigerweise giebt es aber auf der Eisenbahn keine
„Frauenwagen"; vermutlich weil das allzulange „Unter sich" auch den ameri¬
kanischen Ladies nicht gerade wünschenswert erscheint. Im gewöhnlichen Leben
äußert sich der Unterschied in der Behandlung der Damen und Herren etwa
so: hat jemand das Unglück, einer Dame auf den Fuß zu treten, so wird sie
in höflichster Weise um Verzeihung gebeten; ist der Getretene aber ein Herr,
so erhält er höchstens einen wütenden Blick zugeworfen, der etwa sagen will:
„Wie kommen Sie dazu, ihren Fuß unter meinen Absatz zu stecken!" Will
daher ein solch vereinzelter Herr der Schöpfung mit den nach europäischen
Begriffen ihm gebührenden Höflichkeitsbezeugungen reisen und in allen etwaigen
Notfällen auf rücksichtsvolle Unterstützung des Eisenbahnpersonals oder der
Mitreisenden rechnen, so bleibt ihm kaum etwas andres übrig, als sich mit einem
natürlich platonischen „Reiseverhältnis" zu versehen; er wird sich, besonders
bei richtiger Wahl, reichlichst entschädigt fühlen, zumal wenn seine Tour durch
die Gegenden westlicher Unkultur führt, wo man selbst in den Salonwagen
nicht selten mit der Gesellschaft von Viehhändlern, Budikern, Krämern und
ähnlichen Leuten vorlieb nehmen muß, die nur für die Kunst des mons^ eng-KwA
aber für sonst nichts empfänglich sind. Eine greuliche Unsitte, die sich leider
keineswegs auf solche Gesellschaftsklassen beschränkt, ist dabei das widerliche


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/470>, abgerufen am 28.07.2024.