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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr.

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England in Angst.

das Voll dem Exminister Churchill zur Prüfung und Förderung der Angelegen¬
heit angeregte Komitee, daß er eine Verstärkung der Armee um 11 000 Mann
verlangt habe; er sei bereit, die Verantwortung zu übernehmen, wenn das Pu¬
blikum wisse, was die Ansichten des Oberbefehlshabers seien, das sei aber nach
den jetzt geltenden Regeln nicht der Fall. Ähnlich äußerte sich Wolseley bei
einem öffentlichen Banket. Wen trifft aber dann die Schuld? Der Kriegs¬
minister Stanhope scheint sie auch nicht auf sich nehmen zu wollen. Er gab
die Gefahr auch nur halb zu, als er der Deputation der Gesellschaft für natio¬
nale Verteidigung, die ihm kürzlich Vorstellungen machte, von "Ängsten" sprach,
"die keine wirkliche Begründung hätten," dann freilich eingestand, "daß sofortiges
Handeln dringend notwendig sei," und mit den Worten schloß: "Unsre Gefahr
liegt nicht in der ungenügenden Zahl, sondern darin, daß unsre Vorbereitungen
noch nicht vollendet sind, und ich wende mich an Sie als Mitglieder des Unter¬
hauses, mit der Bitte um Ihre herzliche Unterstützung bei dem Bemühen, die
Gefahr abzuwenden. Die Irrtümer des Kriegsministeriums mögen groß und
häufig gewesen sein, aber ich blicke auf Sie um Beistand bei den ernsten An¬
strengungen eines Ministers, der jetzt angesichts der schwierigen Aufgabe zu
Ihnen spricht, welche ihm geworden ist." Auch der Premierminister Salisbury
gab bei der Diskussion im Hause der Lords die Gefahr in gewissem Maße zu,
bemerkte aber zugleich, die Regierung sei nicht unthätig, weil sie schweige. Nach
allem jedoch, was man erfährt, läuft ihre Thätigkeit auf halbe Maßregeln
hinaus, und die öffentliche Meinung scheint auch nicht mehr zu verlangen und
noch nicht entfernt an das zu denken, was zuletzt allein helfen kann, an die
Einführung der allgemeinen Wehrpflicht. Der Kriegsminister Stanhope ist so
wenig Kriegsmann, daß er sich eingestandenermaßen zur Verteidigung Londons
gegen einen Angriff auf die Freiwilligen verläßt, die mit regulären Truppen
in Brigaden vereinigt, als vollgiltigc Soldaten anerkannt und zu der Würde
erhoben werden sollen, neben den vorhandnen zwei Armeekorps ein drittes zu
bilden. Der Herzog von Cambridge glaubt, daß die Armee mit einer Verstär¬
kung um 11 000 Mann, eine im Vergleich mit den Massenheeren der voraussicht¬
lichen Gegner Englands fast lächerliche Zahl, achtunggebietend sein werde. Andre
sagen, das lebende Material sei nicht die Hauptsache, wenigstens nicht das
nächste, was notthue, sondern das tote, "die Equipirung, die Bewaffnung und
Vcrproviantirung unsrer Truppen, sowie ihre Unterbringung in Kasernen. Daß
es hieran noch fehlt, macht unser Heer halb so stark, als es nach seiner Zahl
erscheint. Ein Angriff ist möglich, und dann wird es sich sehr bald um die
Frage handeln, ob London gegen das feindliche Heer verteidigt werden kann,
und der Verlust Londons, des Mittelpunktes des ganzen britischen Reiches und
der Stadt, welche den größten Besitz an Geld und Gut unter allen ihren
Schwestern auf Erden enthält, würde der Untergang der Größe und Macht
Englands sein. Was für Waffen haben wir für unsre Soldaten und Frei-


England in Angst.

das Voll dem Exminister Churchill zur Prüfung und Förderung der Angelegen¬
heit angeregte Komitee, daß er eine Verstärkung der Armee um 11 000 Mann
verlangt habe; er sei bereit, die Verantwortung zu übernehmen, wenn das Pu¬
blikum wisse, was die Ansichten des Oberbefehlshabers seien, das sei aber nach
den jetzt geltenden Regeln nicht der Fall. Ähnlich äußerte sich Wolseley bei
einem öffentlichen Banket. Wen trifft aber dann die Schuld? Der Kriegs¬
minister Stanhope scheint sie auch nicht auf sich nehmen zu wollen. Er gab
die Gefahr auch nur halb zu, als er der Deputation der Gesellschaft für natio¬
nale Verteidigung, die ihm kürzlich Vorstellungen machte, von „Ängsten" sprach,
„die keine wirkliche Begründung hätten," dann freilich eingestand, „daß sofortiges
Handeln dringend notwendig sei," und mit den Worten schloß: „Unsre Gefahr
liegt nicht in der ungenügenden Zahl, sondern darin, daß unsre Vorbereitungen
noch nicht vollendet sind, und ich wende mich an Sie als Mitglieder des Unter¬
hauses, mit der Bitte um Ihre herzliche Unterstützung bei dem Bemühen, die
Gefahr abzuwenden. Die Irrtümer des Kriegsministeriums mögen groß und
häufig gewesen sein, aber ich blicke auf Sie um Beistand bei den ernsten An¬
strengungen eines Ministers, der jetzt angesichts der schwierigen Aufgabe zu
Ihnen spricht, welche ihm geworden ist." Auch der Premierminister Salisbury
gab bei der Diskussion im Hause der Lords die Gefahr in gewissem Maße zu,
bemerkte aber zugleich, die Regierung sei nicht unthätig, weil sie schweige. Nach
allem jedoch, was man erfährt, läuft ihre Thätigkeit auf halbe Maßregeln
hinaus, und die öffentliche Meinung scheint auch nicht mehr zu verlangen und
noch nicht entfernt an das zu denken, was zuletzt allein helfen kann, an die
Einführung der allgemeinen Wehrpflicht. Der Kriegsminister Stanhope ist so
wenig Kriegsmann, daß er sich eingestandenermaßen zur Verteidigung Londons
gegen einen Angriff auf die Freiwilligen verläßt, die mit regulären Truppen
in Brigaden vereinigt, als vollgiltigc Soldaten anerkannt und zu der Würde
erhoben werden sollen, neben den vorhandnen zwei Armeekorps ein drittes zu
bilden. Der Herzog von Cambridge glaubt, daß die Armee mit einer Verstär¬
kung um 11 000 Mann, eine im Vergleich mit den Massenheeren der voraussicht¬
lichen Gegner Englands fast lächerliche Zahl, achtunggebietend sein werde. Andre
sagen, das lebende Material sei nicht die Hauptsache, wenigstens nicht das
nächste, was notthue, sondern das tote, „die Equipirung, die Bewaffnung und
Vcrproviantirung unsrer Truppen, sowie ihre Unterbringung in Kasernen. Daß
es hieran noch fehlt, macht unser Heer halb so stark, als es nach seiner Zahl
erscheint. Ein Angriff ist möglich, und dann wird es sich sehr bald um die
Frage handeln, ob London gegen das feindliche Heer verteidigt werden kann,
und der Verlust Londons, des Mittelpunktes des ganzen britischen Reiches und
der Stadt, welche den größten Besitz an Geld und Gut unter allen ihren
Schwestern auf Erden enthält, würde der Untergang der Größe und Macht
Englands sein. Was für Waffen haben wir für unsre Soldaten und Frei-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/459>, abgerufen am 01.09.2024.