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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr.

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Hamerlings Homunculus

den Bestand des Ganzen zu, freilich nur spöttisch widerwillig. Aber jene
poetische Gerechtigkeit, welche Hamerling z. B. bei den Männern der Natur¬
wissenschaft übt, indem er die reinen und die unreinen Forscher deutlich unter¬
scheidet, hat er den Juden nicht zukommen lassen. Man braucht nicht erst Philo-
semit zu sein, um zuzugestehen, daß unter den zwei Millionen deutscher Juden
doch wohl noch sittlich unantastbare Persönlichkeiten im Sinne Hamerlings an¬
zutreffen wären -- dies hätte die poetische Gerechtigkeit berücksichtigen müssen.
Auch das große tragische Motiv in der Stellung solcher Juden, die mit nnter den
Vorurteilen gegen ihre Stammesgenossen zu leiden haben. Dann Hütte Hamerling
mit dem Worte "jüdisch" nicht ungerechterweise das Volk als solches gebrandmarkt,
sondern nur die hervorstechenden Untugenden desselben, an denen ja auch sehr viele
christlich geborne Individuen ihren ausgiebigen Anteil nehmen; dann wäre
"jüdisch" eben nnr die Bezeichnung für eine Geistesrichtung, wie "materialistisch,"
"kapitalistisch" u. dergl. in. Es zeigt sich also gerade in diesem poetisch hervor¬
ragendsten Gesänge der Dichtung eine Inkonsequenz sowohl des Stils wie der Ideen:
jener ist nicht mehr bloß symbolisch, und diese sind nicht mehr streng humanistisch.

Auf dem Marterkreuze ist Homunculus Pessimist geworden; von Ahasver
herabgenommen, begiebt er sich wieder in die Welt, diese trostlose Lehre zu ver¬
künden. Von köstlichem Humor ist die nun folgende Verspottung der pessi¬
mistischen Schreier erfüllt. Homunculus ruft einen internationalen Kongreß
der Pessimisten zusammen; diese bestimmen den ersten April dazu, daß sich alle
Lebewesen zur Verneinung des Willens vereinigen. Schon ist der Tag er¬
schienen, mit dem zwölften Glockenschlage ist alles darauf gerichtet (mit tief¬
sinnigen Blick auf die eigne Nasenspitze), mit starkem Willen den Willen zu
verneinen: da erschallt das Schnalzen eines rechtschaffenen Kusses, den sich
Etto und Dorci, Mnnkels Kinder, just in demselben Augenblicke in aller Heim¬
lichkeit geben, und das Experiment der Weltvernichtung scheitert. Homunculus
gerät darüber in die wütendste Menschenverachtung und flieht in die Wildnis.

Seufzend greift der co'ge Jude,
Der den herben Zornesworten
Still und scheu gelauscht und zitternd,
Gleich als hätt' erneut, verschärft ihn
Jetzt der alte Fluch getroffen,
Nach dem alten, tuot'gar, morschen
Wanderstab und humpelt weiter.

D. h. es ist absurd, daß die Menschheit sich selbst verachtet: die herrlichste Dichter¬
lehre Hamerlings, die schönste Antwort auf die Lehre des Frankfurter Philosophen.

In der wilden Einsamkeit verlegt sich Homunculus so fleißig aufs Stu¬
diren, daß er "ein Loch in den Steinsitz seiner Felskluft" sitzt. Er erfindet
eine Denkmaschine, dann aber das Problem des Jahrhunderts: eine Flug¬
maschine, "Gigant" genannt. Mit dieser endlich steigt er, zum Erstaunen der


Hamerlings Homunculus

den Bestand des Ganzen zu, freilich nur spöttisch widerwillig. Aber jene
poetische Gerechtigkeit, welche Hamerling z. B. bei den Männern der Natur¬
wissenschaft übt, indem er die reinen und die unreinen Forscher deutlich unter¬
scheidet, hat er den Juden nicht zukommen lassen. Man braucht nicht erst Philo-
semit zu sein, um zuzugestehen, daß unter den zwei Millionen deutscher Juden
doch wohl noch sittlich unantastbare Persönlichkeiten im Sinne Hamerlings an¬
zutreffen wären — dies hätte die poetische Gerechtigkeit berücksichtigen müssen.
Auch das große tragische Motiv in der Stellung solcher Juden, die mit nnter den
Vorurteilen gegen ihre Stammesgenossen zu leiden haben. Dann Hütte Hamerling
mit dem Worte „jüdisch" nicht ungerechterweise das Volk als solches gebrandmarkt,
sondern nur die hervorstechenden Untugenden desselben, an denen ja auch sehr viele
christlich geborne Individuen ihren ausgiebigen Anteil nehmen; dann wäre
„jüdisch" eben nnr die Bezeichnung für eine Geistesrichtung, wie „materialistisch,"
„kapitalistisch" u. dergl. in. Es zeigt sich also gerade in diesem poetisch hervor¬
ragendsten Gesänge der Dichtung eine Inkonsequenz sowohl des Stils wie der Ideen:
jener ist nicht mehr bloß symbolisch, und diese sind nicht mehr streng humanistisch.

Auf dem Marterkreuze ist Homunculus Pessimist geworden; von Ahasver
herabgenommen, begiebt er sich wieder in die Welt, diese trostlose Lehre zu ver¬
künden. Von köstlichem Humor ist die nun folgende Verspottung der pessi¬
mistischen Schreier erfüllt. Homunculus ruft einen internationalen Kongreß
der Pessimisten zusammen; diese bestimmen den ersten April dazu, daß sich alle
Lebewesen zur Verneinung des Willens vereinigen. Schon ist der Tag er¬
schienen, mit dem zwölften Glockenschlage ist alles darauf gerichtet (mit tief¬
sinnigen Blick auf die eigne Nasenspitze), mit starkem Willen den Willen zu
verneinen: da erschallt das Schnalzen eines rechtschaffenen Kusses, den sich
Etto und Dorci, Mnnkels Kinder, just in demselben Augenblicke in aller Heim¬
lichkeit geben, und das Experiment der Weltvernichtung scheitert. Homunculus
gerät darüber in die wütendste Menschenverachtung und flieht in die Wildnis.

Seufzend greift der co'ge Jude,
Der den herben Zornesworten
Still und scheu gelauscht und zitternd,
Gleich als hätt' erneut, verschärft ihn
Jetzt der alte Fluch getroffen,
Nach dem alten, tuot'gar, morschen
Wanderstab und humpelt weiter.

D. h. es ist absurd, daß die Menschheit sich selbst verachtet: die herrlichste Dichter¬
lehre Hamerlings, die schönste Antwort auf die Lehre des Frankfurter Philosophen.

In der wilden Einsamkeit verlegt sich Homunculus so fleißig aufs Stu¬
diren, daß er „ein Loch in den Steinsitz seiner Felskluft" sitzt. Er erfindet
eine Denkmaschine, dann aber das Problem des Jahrhunderts: eine Flug¬
maschine, „Gigant" genannt. Mit dieser endlich steigt er, zum Erstaunen der


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[0044] Hamerlings Homunculus den Bestand des Ganzen zu, freilich nur spöttisch widerwillig. Aber jene poetische Gerechtigkeit, welche Hamerling z. B. bei den Männern der Natur¬ wissenschaft übt, indem er die reinen und die unreinen Forscher deutlich unter¬ scheidet, hat er den Juden nicht zukommen lassen. Man braucht nicht erst Philo- semit zu sein, um zuzugestehen, daß unter den zwei Millionen deutscher Juden doch wohl noch sittlich unantastbare Persönlichkeiten im Sinne Hamerlings an¬ zutreffen wären — dies hätte die poetische Gerechtigkeit berücksichtigen müssen. Auch das große tragische Motiv in der Stellung solcher Juden, die mit nnter den Vorurteilen gegen ihre Stammesgenossen zu leiden haben. Dann Hütte Hamerling mit dem Worte „jüdisch" nicht ungerechterweise das Volk als solches gebrandmarkt, sondern nur die hervorstechenden Untugenden desselben, an denen ja auch sehr viele christlich geborne Individuen ihren ausgiebigen Anteil nehmen; dann wäre „jüdisch" eben nnr die Bezeichnung für eine Geistesrichtung, wie „materialistisch," „kapitalistisch" u. dergl. in. Es zeigt sich also gerade in diesem poetisch hervor¬ ragendsten Gesänge der Dichtung eine Inkonsequenz sowohl des Stils wie der Ideen: jener ist nicht mehr bloß symbolisch, und diese sind nicht mehr streng humanistisch. Auf dem Marterkreuze ist Homunculus Pessimist geworden; von Ahasver herabgenommen, begiebt er sich wieder in die Welt, diese trostlose Lehre zu ver¬ künden. Von köstlichem Humor ist die nun folgende Verspottung der pessi¬ mistischen Schreier erfüllt. Homunculus ruft einen internationalen Kongreß der Pessimisten zusammen; diese bestimmen den ersten April dazu, daß sich alle Lebewesen zur Verneinung des Willens vereinigen. Schon ist der Tag er¬ schienen, mit dem zwölften Glockenschlage ist alles darauf gerichtet (mit tief¬ sinnigen Blick auf die eigne Nasenspitze), mit starkem Willen den Willen zu verneinen: da erschallt das Schnalzen eines rechtschaffenen Kusses, den sich Etto und Dorci, Mnnkels Kinder, just in demselben Augenblicke in aller Heim¬ lichkeit geben, und das Experiment der Weltvernichtung scheitert. Homunculus gerät darüber in die wütendste Menschenverachtung und flieht in die Wildnis. Seufzend greift der co'ge Jude, Der den herben Zornesworten Still und scheu gelauscht und zitternd, Gleich als hätt' erneut, verschärft ihn Jetzt der alte Fluch getroffen, Nach dem alten, tuot'gar, morschen Wanderstab und humpelt weiter. D. h. es ist absurd, daß die Menschheit sich selbst verachtet: die herrlichste Dichter¬ lehre Hamerlings, die schönste Antwort auf die Lehre des Frankfurter Philosophen. In der wilden Einsamkeit verlegt sich Homunculus so fleißig aufs Stu¬ diren, daß er „ein Loch in den Steinsitz seiner Felskluft" sitzt. Er erfindet eine Denkmaschine, dann aber das Problem des Jahrhunderts: eine Flug¬ maschine, „Gigant" genannt. Mit dieser endlich steigt er, zum Erstaunen der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/44>, abgerufen am 28.07.2024.