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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr.

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Amerikanisches Lisenbcchmvescn.

Staaten, auf der wir den ganzen Erdteil von einem Weltmeere zum andern
quer durchmaßen und fanden reichliche Gelegenheit, mit eignen Augen zu
sehen. Wenn wir die dabei gemachten Erfahrungen hier niederlegen, so wird
der freundliche Leser daraus entnehmen können, welche Staffel der Glückselig¬
keit ein gewöhnlicher Sterblicher auf einer amerikanischen Eisenbahn zu er¬
reichen vermag.

Die erste Schwierigkeit, die dem Ankömmling entgegentritt und ihn sofort
auf die Schattenseiten des Privatbahnsystems aufmerksam macht, ist die Wahl
der Linie nach dem nächsten Zielpunkte. Bei uns verursacht dies keinerlei
Kopfzerbrechen, da die Züge der verschiednen Linien doch meist von demselben
Bahnhofe abgehen, und die Vorzüge oder Nachteile derselben sich mit einem
Blicke in das amtliche Knrsbnch leicht übersehen lassen, auch ein späterer Wechsel
der Linie auf jeder Kreuzungsstation bei Verwertung des ursprünglich gelösten
Billets noch immer freisteht. Ganz anders drüben. Dort ist die erste Sorge,
festzustellen, welche von den vielen Konkurrenzgesellschaften die für unsern Reise-
zweck passendste Linie gewährt. Will man Zeit und Geld sparen, auch unter¬
wegs noch möglichst viel mitnehmen, so ist die Wahl der richtigen Linie die
erste Grundbedingung. Hierbei sieht sich der Fremde aber von allen sonst üb¬
lichen Hilfsmitteln entblößt. Ein allgemeines amtliches Kursbuch giebt es
uicht, weil die riesige Ausdehnung des Eisenbahnnetzes (200 000 Kilometer
in der Union gegen 190 000 in ganz Europa), die Anzahl der Gesellschaften
und die Unstetigkeit der Fahrpläne ein solches Unternehmen von vornherein
fast unmöglich machen; und soweit solche Bücher erscheinen, wie z. B. Appletvns
Ü.al1rc>g.ä Huicls, sind sie meist schon im Augenblick ihres Erscheinens wieder
veraltet und namentlich für Nebenlinien durchaus unzuverlässig. Dafür hat
man drüben die kling-tMss, d. h. Einzelfahrpläne, welche von den einzelnen
Gesellschaften für ihre Linien nach Bedarf unentgeltlich -- durch Auslegung
in den Bahnhöfen, Gasthöfen und Billetstellen -- ausgegeben werden und in
der marktschreierischsten Weise die Vorzüge der betreffenden Linie als der
schnellsten, billigsten und bequemsten anpreisen. Der Fremde macht dabei die
erheiternde Entdeckung, daß es nach amerikanischer Geographie zwischen zwei
Punkten nicht bloß eine gerade Linie, sondern beliebig viele giebt, denn nach
den auf der Rückseite befindlichen Eisenbahnkarten stellen sich die verschiednen
Konkurrenzlinien stets als gerade Striche dar, auch wenn jede durch andre
Gegenden führt. Man gewinnt sehr bald die Überzeugung, daß man auf
solcher Unterlage zu einer selbständigen Auswahl kaum gelangen kann, zumal da
noch der richtige Abfahrtsbahnhof festzustellen bleibt; denn da jede Gesellschaft
ihre eignen Bahnhöfe besitzt -- die Union vvxots bilden noch die Aus¬
nahme --, so haben selbst kleinere Knotenpunkte deren mehrere und die Gro߬
städte oft ein Dutzend davon aufzuweisen, die mitunter eine Stunde und weiter
von einander entfernt liegen. Am besten ist es daher, sich an einen mit den


Amerikanisches Lisenbcchmvescn.

Staaten, auf der wir den ganzen Erdteil von einem Weltmeere zum andern
quer durchmaßen und fanden reichliche Gelegenheit, mit eignen Augen zu
sehen. Wenn wir die dabei gemachten Erfahrungen hier niederlegen, so wird
der freundliche Leser daraus entnehmen können, welche Staffel der Glückselig¬
keit ein gewöhnlicher Sterblicher auf einer amerikanischen Eisenbahn zu er¬
reichen vermag.

Die erste Schwierigkeit, die dem Ankömmling entgegentritt und ihn sofort
auf die Schattenseiten des Privatbahnsystems aufmerksam macht, ist die Wahl
der Linie nach dem nächsten Zielpunkte. Bei uns verursacht dies keinerlei
Kopfzerbrechen, da die Züge der verschiednen Linien doch meist von demselben
Bahnhofe abgehen, und die Vorzüge oder Nachteile derselben sich mit einem
Blicke in das amtliche Knrsbnch leicht übersehen lassen, auch ein späterer Wechsel
der Linie auf jeder Kreuzungsstation bei Verwertung des ursprünglich gelösten
Billets noch immer freisteht. Ganz anders drüben. Dort ist die erste Sorge,
festzustellen, welche von den vielen Konkurrenzgesellschaften die für unsern Reise-
zweck passendste Linie gewährt. Will man Zeit und Geld sparen, auch unter¬
wegs noch möglichst viel mitnehmen, so ist die Wahl der richtigen Linie die
erste Grundbedingung. Hierbei sieht sich der Fremde aber von allen sonst üb¬
lichen Hilfsmitteln entblößt. Ein allgemeines amtliches Kursbuch giebt es
uicht, weil die riesige Ausdehnung des Eisenbahnnetzes (200 000 Kilometer
in der Union gegen 190 000 in ganz Europa), die Anzahl der Gesellschaften
und die Unstetigkeit der Fahrpläne ein solches Unternehmen von vornherein
fast unmöglich machen; und soweit solche Bücher erscheinen, wie z. B. Appletvns
Ü.al1rc>g.ä Huicls, sind sie meist schon im Augenblick ihres Erscheinens wieder
veraltet und namentlich für Nebenlinien durchaus unzuverlässig. Dafür hat
man drüben die kling-tMss, d. h. Einzelfahrpläne, welche von den einzelnen
Gesellschaften für ihre Linien nach Bedarf unentgeltlich — durch Auslegung
in den Bahnhöfen, Gasthöfen und Billetstellen — ausgegeben werden und in
der marktschreierischsten Weise die Vorzüge der betreffenden Linie als der
schnellsten, billigsten und bequemsten anpreisen. Der Fremde macht dabei die
erheiternde Entdeckung, daß es nach amerikanischer Geographie zwischen zwei
Punkten nicht bloß eine gerade Linie, sondern beliebig viele giebt, denn nach
den auf der Rückseite befindlichen Eisenbahnkarten stellen sich die verschiednen
Konkurrenzlinien stets als gerade Striche dar, auch wenn jede durch andre
Gegenden führt. Man gewinnt sehr bald die Überzeugung, daß man auf
solcher Unterlage zu einer selbständigen Auswahl kaum gelangen kann, zumal da
noch der richtige Abfahrtsbahnhof festzustellen bleibt; denn da jede Gesellschaft
ihre eignen Bahnhöfe besitzt — die Union vvxots bilden noch die Aus¬
nahme —, so haben selbst kleinere Knotenpunkte deren mehrere und die Gro߬
städte oft ein Dutzend davon aufzuweisen, die mitunter eine Stunde und weiter
von einander entfernt liegen. Am besten ist es daher, sich an einen mit den


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/438>, abgerufen am 28.07.2024.