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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr.

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Das Geschlecht Textor, Goethes mütterlicher Stammbaum,

"Ja wohl, an euch, an mir, an uns allen hat er sich aufs neue als den mani-
festirt, der freundlich ist und dessen Liebe ewig währet. . . . Und glückliches
Knäblein! die Erziehung solcher vortrefflichen Eltern und Großeltern ^Schlosser
war auch nach Eutin gezogen^ zu genießen." Der Knabe hatte zu deu Vornamen
des Großvaters Johann Georg noch als Rufnamen den Namen Eduard er¬
halten. Eine zweite Tochter, Auguste Karoline Wilhelmine, ward am 8. Mai
dem Dr. Textor geboren. Mekher war nach seiner Vaterstadt zurückgekehrt und
unter die Ärzte aufgenommen worden. Aber in der Nacht zum 14. Juli wurde
Frankfurt von den Franzosen so schrecklich beschossen, daß es 174 Häuser verlor,
fast die ganze Judengasse abbrannte; die neue Anlage auf dem ehemals gro߬
väterlichen Besitztum wurde in einen Schutthaufen verwandelt. Und als die
Stadt sich ergeben mußte, wurde sie in schlimmster Weise gebrandschatzt; sie
sollte acht Millionen Livres zahlen, anderthalb Million Tuch und Zeug und
eine Menge Lebensmittel liefern. Alle Bürger trugen mit größter Bereit¬
willigkeit bei, aber die volle Zahlung war nicht zu leisten. Unter den Geiseln,
die man deshalb nach Frankreich abführte, war auch der Schöff Schlosser.
Erst am 3. September zogen die Franzosen ab; noch ein Bierteljahr dauerte
es, ehe die Geiseln entlassen wurden. Es waren das schlimme Zeiten sür einen
auftretenden jungen Arzt. Am 21. starb der Pfarrer starck, dessen "Gemein¬
plätze und Wiedergeburten" die Frau Rat oft recht gelangweilt hatte, sodaß sie
seinen sonntäglichen Frühpredigten ihr warmes Bett vorzog. Vier Tage vorher
hatte sein Sohn, Pfarrer in Lüdesheim, die Jungfer Franziska Maria Sophia
Gräuel geheiratet, obgleich seine erste Frau erst anfangs Juni in Frankfurt
verschieden war.

Anfang 1797 lernte Goethe in Dessau einen vornehmen Verwandten kennen.
Johann Jost von Lom, dessen Vater schon 1766 in Nahestand getreten und
1776 erblindet gestorben war, hatte 1779 die Prinzessin Agnes von Anhalt-
Dessau, die Tochter des Fürsten, geheiratet. Goethe berichtet, die Familie von
Lom habe sich ihm damals als eine angenehme, zutrauliche Bekanntschaft gezeigt
und man habe sich an den Erinnerungen der frühesten Frankfurter Zeiten ergötzt.
Zu Frankfurt starb am 31. April Neuburgs Gattin im sechsundzwanzigsten
Jahre mit Hinterlassung einer vor drei Jahren gebornen Tochter und eines
Sohnes. Im August kam Goethe aus der Schweizerreise nach Frankfurt, wo
er diesmal einen halben Monat blieb. Der Mutter stellte er seineu sieben¬
jährigen Angust und die muntere Christiane vor, welche bei dieser, wie auch
bei den Verwandten und Freunden eine so zuvorkommende Aufnahme fanden,
daß er sich auf das heiterste gestimmt fühlte. Außer der sechsundsechzigjährigeu
Mutter fand er noch die nur drei Jahre jüngere Tante Mekher, den Major
Schüler und deu freilich sehr leidenden Schöffen Schlosser. Von den Vettern
waren zwei Advokaten, Mekher praktischer Arzt, einer Oberlieutenant, und der
Dichter des "Prorektor" sollte im Herbste nach Tübingen gehen, um dort


Das Geschlecht Textor, Goethes mütterlicher Stammbaum,

„Ja wohl, an euch, an mir, an uns allen hat er sich aufs neue als den mani-
festirt, der freundlich ist und dessen Liebe ewig währet. . . . Und glückliches
Knäblein! die Erziehung solcher vortrefflichen Eltern und Großeltern ^Schlosser
war auch nach Eutin gezogen^ zu genießen." Der Knabe hatte zu deu Vornamen
des Großvaters Johann Georg noch als Rufnamen den Namen Eduard er¬
halten. Eine zweite Tochter, Auguste Karoline Wilhelmine, ward am 8. Mai
dem Dr. Textor geboren. Mekher war nach seiner Vaterstadt zurückgekehrt und
unter die Ärzte aufgenommen worden. Aber in der Nacht zum 14. Juli wurde
Frankfurt von den Franzosen so schrecklich beschossen, daß es 174 Häuser verlor,
fast die ganze Judengasse abbrannte; die neue Anlage auf dem ehemals gro߬
väterlichen Besitztum wurde in einen Schutthaufen verwandelt. Und als die
Stadt sich ergeben mußte, wurde sie in schlimmster Weise gebrandschatzt; sie
sollte acht Millionen Livres zahlen, anderthalb Million Tuch und Zeug und
eine Menge Lebensmittel liefern. Alle Bürger trugen mit größter Bereit¬
willigkeit bei, aber die volle Zahlung war nicht zu leisten. Unter den Geiseln,
die man deshalb nach Frankreich abführte, war auch der Schöff Schlosser.
Erst am 3. September zogen die Franzosen ab; noch ein Bierteljahr dauerte
es, ehe die Geiseln entlassen wurden. Es waren das schlimme Zeiten sür einen
auftretenden jungen Arzt. Am 21. starb der Pfarrer starck, dessen „Gemein¬
plätze und Wiedergeburten" die Frau Rat oft recht gelangweilt hatte, sodaß sie
seinen sonntäglichen Frühpredigten ihr warmes Bett vorzog. Vier Tage vorher
hatte sein Sohn, Pfarrer in Lüdesheim, die Jungfer Franziska Maria Sophia
Gräuel geheiratet, obgleich seine erste Frau erst anfangs Juni in Frankfurt
verschieden war.

Anfang 1797 lernte Goethe in Dessau einen vornehmen Verwandten kennen.
Johann Jost von Lom, dessen Vater schon 1766 in Nahestand getreten und
1776 erblindet gestorben war, hatte 1779 die Prinzessin Agnes von Anhalt-
Dessau, die Tochter des Fürsten, geheiratet. Goethe berichtet, die Familie von
Lom habe sich ihm damals als eine angenehme, zutrauliche Bekanntschaft gezeigt
und man habe sich an den Erinnerungen der frühesten Frankfurter Zeiten ergötzt.
Zu Frankfurt starb am 31. April Neuburgs Gattin im sechsundzwanzigsten
Jahre mit Hinterlassung einer vor drei Jahren gebornen Tochter und eines
Sohnes. Im August kam Goethe aus der Schweizerreise nach Frankfurt, wo
er diesmal einen halben Monat blieb. Der Mutter stellte er seineu sieben¬
jährigen Angust und die muntere Christiane vor, welche bei dieser, wie auch
bei den Verwandten und Freunden eine so zuvorkommende Aufnahme fanden,
daß er sich auf das heiterste gestimmt fühlte. Außer der sechsundsechzigjährigeu
Mutter fand er noch die nur drei Jahre jüngere Tante Mekher, den Major
Schüler und deu freilich sehr leidenden Schöffen Schlosser. Von den Vettern
waren zwei Advokaten, Mekher praktischer Arzt, einer Oberlieutenant, und der
Dichter des „Prorektor" sollte im Herbste nach Tübingen gehen, um dort


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[0428] Das Geschlecht Textor, Goethes mütterlicher Stammbaum, „Ja wohl, an euch, an mir, an uns allen hat er sich aufs neue als den mani- festirt, der freundlich ist und dessen Liebe ewig währet. . . . Und glückliches Knäblein! die Erziehung solcher vortrefflichen Eltern und Großeltern ^Schlosser war auch nach Eutin gezogen^ zu genießen." Der Knabe hatte zu deu Vornamen des Großvaters Johann Georg noch als Rufnamen den Namen Eduard er¬ halten. Eine zweite Tochter, Auguste Karoline Wilhelmine, ward am 8. Mai dem Dr. Textor geboren. Mekher war nach seiner Vaterstadt zurückgekehrt und unter die Ärzte aufgenommen worden. Aber in der Nacht zum 14. Juli wurde Frankfurt von den Franzosen so schrecklich beschossen, daß es 174 Häuser verlor, fast die ganze Judengasse abbrannte; die neue Anlage auf dem ehemals gro߬ väterlichen Besitztum wurde in einen Schutthaufen verwandelt. Und als die Stadt sich ergeben mußte, wurde sie in schlimmster Weise gebrandschatzt; sie sollte acht Millionen Livres zahlen, anderthalb Million Tuch und Zeug und eine Menge Lebensmittel liefern. Alle Bürger trugen mit größter Bereit¬ willigkeit bei, aber die volle Zahlung war nicht zu leisten. Unter den Geiseln, die man deshalb nach Frankreich abführte, war auch der Schöff Schlosser. Erst am 3. September zogen die Franzosen ab; noch ein Bierteljahr dauerte es, ehe die Geiseln entlassen wurden. Es waren das schlimme Zeiten sür einen auftretenden jungen Arzt. Am 21. starb der Pfarrer starck, dessen „Gemein¬ plätze und Wiedergeburten" die Frau Rat oft recht gelangweilt hatte, sodaß sie seinen sonntäglichen Frühpredigten ihr warmes Bett vorzog. Vier Tage vorher hatte sein Sohn, Pfarrer in Lüdesheim, die Jungfer Franziska Maria Sophia Gräuel geheiratet, obgleich seine erste Frau erst anfangs Juni in Frankfurt verschieden war. Anfang 1797 lernte Goethe in Dessau einen vornehmen Verwandten kennen. Johann Jost von Lom, dessen Vater schon 1766 in Nahestand getreten und 1776 erblindet gestorben war, hatte 1779 die Prinzessin Agnes von Anhalt- Dessau, die Tochter des Fürsten, geheiratet. Goethe berichtet, die Familie von Lom habe sich ihm damals als eine angenehme, zutrauliche Bekanntschaft gezeigt und man habe sich an den Erinnerungen der frühesten Frankfurter Zeiten ergötzt. Zu Frankfurt starb am 31. April Neuburgs Gattin im sechsundzwanzigsten Jahre mit Hinterlassung einer vor drei Jahren gebornen Tochter und eines Sohnes. Im August kam Goethe aus der Schweizerreise nach Frankfurt, wo er diesmal einen halben Monat blieb. Der Mutter stellte er seineu sieben¬ jährigen Angust und die muntere Christiane vor, welche bei dieser, wie auch bei den Verwandten und Freunden eine so zuvorkommende Aufnahme fanden, daß er sich auf das heiterste gestimmt fühlte. Außer der sechsundsechzigjährigeu Mutter fand er noch die nur drei Jahre jüngere Tante Mekher, den Major Schüler und deu freilich sehr leidenden Schöffen Schlosser. Von den Vettern waren zwei Advokaten, Mekher praktischer Arzt, einer Oberlieutenant, und der Dichter des „Prorektor" sollte im Herbste nach Tübingen gehen, um dort

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/428>, abgerufen am 01.09.2024.