Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr.Tolstoi und Ihering, daß man verzichten soll. Wer des Verzichtes selber nicht fähig ist, wird den, Es mag paradox klingen, aber ich wage die Behauptung: Die Wurzel des Tolstoi und Ihering, daß man verzichten soll. Wer des Verzichtes selber nicht fähig ist, wird den, Es mag paradox klingen, aber ich wage die Behauptung: Die Wurzel des <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0419" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/203196"/> <fw type="header" place="top"> Tolstoi und Ihering,</fw><lb/> <p xml:id="ID_1352" prev="#ID_1351"> daß man verzichten soll. Wer des Verzichtes selber nicht fähig ist, wird den,<lb/> der in irgend einem Falle auf sein Recht verzichtet, niemals begreifen; er wird<lb/> aber dabei nicht umhin können, ihn zu achten und je nach der Größe des<lb/> Opfers vielleicht sogar zu bewundern, und hierin liegt ein Triumph der<lb/> Moral über das Recht. Daß dieser Triumph der Idee in der Wirklichkeit so<lb/> wenig Folgen nach sich zieht, daß wir den sittlich erhabenen Menschen be¬<lb/> wundern und doch immer wieder in die gewohnte Praxis des Kampfes zurück¬<lb/> fallen, das hat seinen tiefer liegenden Grund in dem Verhältnis, in welchem<lb/> sich jeder Einzelne der Welt gegenüber betrachtet, und auf der Verschiedenheit<lb/> dieses Verhältnisses beruht auch der ganze Unterschied zwischen Recht und<lb/> Moral.</p><lb/> <p xml:id="ID_1353" next="#ID_1354"> Es mag paradox klingen, aber ich wage die Behauptung: Die Wurzel des<lb/> Rechtes ist das Unrecht. Gäbe es kein Unrecht, so wüßten wir nichts vom<lb/> Recht, so wie wir von Gesundheit nichts wüßten, wenn es keine Krankheiten<lb/> gäbe. Was man Ncchtsgcftthl nennt, ist nichts Ursprüngliches, Angeborenes.<lb/> Niemand hat von Hause aus ein Rechtsgefühl, dagegen hat jedermann von<lb/> Natur ein sehr lebhaftes Gefühl für das Unrecht, das ihm widerfährt; erst<lb/> durch die Anstrengung, einen Angriff abzuwehren, wie durch Kränkung über<lb/> erlittenes Unrecht gelange ich auf dem Wege der Reflexion dahin, zu erkennen,<lb/> daß ich dem andern nicht thun soll, was ich nicht will, daß er mir thue, und<lb/> somit zu der Hauptforderung des Rechtes: Thue niemand Böses! Die Ab¬<lb/> wehr eines Angriffs, der Kampf ums Recht und somit auch das ganze Un¬<lb/> rechtsgefühl ruht aber durchaus auf dem Gefühle der Individualität, auf der<lb/> Empfindung des Ich. Ich bin ich und dulde nicht, daß ein andrer in dieses<lb/> Ich eingreife. Die Moral ruht auf einer ganz andern Basis. Das Mitleid<lb/> (ich stelle mich in diesem Punkte auf die Seite Schopenhauers) ist eine ur¬<lb/> sprüngliche Empfindung, deshalb sehen wir das Gefühl des Mitleids ganz von<lb/> selbst hervortreten und nicht selten da, wo wir es am wenigsten erwartet hätten,<lb/> oft bei ganz gewaltthätigen Naturen. die sich nicht im mindesten bedenken, das<lb/> Recht eines andern zu verletzen. Die Figur des edeln Nüubcrhauptmanns ist<lb/> oft genug Gegenstand poetischer Darstellung gewesen, und mit Recht, denn die<lb/> moralische Empfindung des Mitleids ist mit der fortgesetzten Rechtsverletzung,<lb/> die in seinem Handwerk liegt, durchaus nicht unvereinbar. Regungen des Mit¬<lb/> leids zu empfinden, kann er seinem Herzen nicht verwehren, wie leicht er sonst<lb/> auch über verübte Grausamkeiten hinweggeht. Das Gefühl des Mitleids setzt<lb/> aber voraus, daß mau sich selbst an die Stelle des Leidenden denkt, und in<lb/> je größerm Maße jemand fähig ist, sich an die Stelle des andern zu versetzen,<lb/> desto mehr wird für ihn der Unterschied, den jeder zwischen sich und den andern<lb/> macht, verschwinden, desto mehr wird die Scheidewand zwischen ihm und der<lb/> Außenwelt fallen; auf dieser Stufe wird das Mitleid Hingebung an das All¬<lb/> gemeine. Wer um sein Recht kämpft, der stellt sich der Welt gegenüber. Wer</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0419]
Tolstoi und Ihering,
daß man verzichten soll. Wer des Verzichtes selber nicht fähig ist, wird den,
der in irgend einem Falle auf sein Recht verzichtet, niemals begreifen; er wird
aber dabei nicht umhin können, ihn zu achten und je nach der Größe des
Opfers vielleicht sogar zu bewundern, und hierin liegt ein Triumph der
Moral über das Recht. Daß dieser Triumph der Idee in der Wirklichkeit so
wenig Folgen nach sich zieht, daß wir den sittlich erhabenen Menschen be¬
wundern und doch immer wieder in die gewohnte Praxis des Kampfes zurück¬
fallen, das hat seinen tiefer liegenden Grund in dem Verhältnis, in welchem
sich jeder Einzelne der Welt gegenüber betrachtet, und auf der Verschiedenheit
dieses Verhältnisses beruht auch der ganze Unterschied zwischen Recht und
Moral.
Es mag paradox klingen, aber ich wage die Behauptung: Die Wurzel des
Rechtes ist das Unrecht. Gäbe es kein Unrecht, so wüßten wir nichts vom
Recht, so wie wir von Gesundheit nichts wüßten, wenn es keine Krankheiten
gäbe. Was man Ncchtsgcftthl nennt, ist nichts Ursprüngliches, Angeborenes.
Niemand hat von Hause aus ein Rechtsgefühl, dagegen hat jedermann von
Natur ein sehr lebhaftes Gefühl für das Unrecht, das ihm widerfährt; erst
durch die Anstrengung, einen Angriff abzuwehren, wie durch Kränkung über
erlittenes Unrecht gelange ich auf dem Wege der Reflexion dahin, zu erkennen,
daß ich dem andern nicht thun soll, was ich nicht will, daß er mir thue, und
somit zu der Hauptforderung des Rechtes: Thue niemand Böses! Die Ab¬
wehr eines Angriffs, der Kampf ums Recht und somit auch das ganze Un¬
rechtsgefühl ruht aber durchaus auf dem Gefühle der Individualität, auf der
Empfindung des Ich. Ich bin ich und dulde nicht, daß ein andrer in dieses
Ich eingreife. Die Moral ruht auf einer ganz andern Basis. Das Mitleid
(ich stelle mich in diesem Punkte auf die Seite Schopenhauers) ist eine ur¬
sprüngliche Empfindung, deshalb sehen wir das Gefühl des Mitleids ganz von
selbst hervortreten und nicht selten da, wo wir es am wenigsten erwartet hätten,
oft bei ganz gewaltthätigen Naturen. die sich nicht im mindesten bedenken, das
Recht eines andern zu verletzen. Die Figur des edeln Nüubcrhauptmanns ist
oft genug Gegenstand poetischer Darstellung gewesen, und mit Recht, denn die
moralische Empfindung des Mitleids ist mit der fortgesetzten Rechtsverletzung,
die in seinem Handwerk liegt, durchaus nicht unvereinbar. Regungen des Mit¬
leids zu empfinden, kann er seinem Herzen nicht verwehren, wie leicht er sonst
auch über verübte Grausamkeiten hinweggeht. Das Gefühl des Mitleids setzt
aber voraus, daß mau sich selbst an die Stelle des Leidenden denkt, und in
je größerm Maße jemand fähig ist, sich an die Stelle des andern zu versetzen,
desto mehr wird für ihn der Unterschied, den jeder zwischen sich und den andern
macht, verschwinden, desto mehr wird die Scheidewand zwischen ihm und der
Außenwelt fallen; auf dieser Stufe wird das Mitleid Hingebung an das All¬
gemeine. Wer um sein Recht kämpft, der stellt sich der Welt gegenüber. Wer
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